Der Schwerkranke.

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pleistoneun

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Er entschloss sich, dem Rat seines Apothekers nachzukommen und griff nach dem Päckchen schnell wirkenden, fiebersenkenden Tee für Übergewichtige. Als Wundermittel zur Restabilisierung der Gesundheit Übergewichtiger wurde dieser Spezialtee gehandelt. Er sollte zwar scheußlich schmecken, aber seine Wirkung nicht verfehlen.

Er brühte Wasser auf, entfaltete den Beipackzettel und versuchte den Inhalt zu verstehen, der ihm aber aufgrund der kleinen Schriftgröße und komplizierten Wörter unzugänglich blieb. Überfordert und angestrengt stützte er dabei seinen schweren Kopf auf. Als Übergewichtigen bereiteten ihm besonders die Blicke der Passanten Probleme. Sie gafften ihn an, als wäre er schwer krank, naja, der Begriff "schwer krank" ist nicht mal unpässlich. Er war 164 kg schwer und krank.

Der fertige Tee spiegelte sein verzagtes Gesicht. Er begann rückwärts zu zählen und vereinbarte mit sich selbst, dass bei Null ein kräftiger, erster Schluck folgen sollte. Drei - zwei - eins - null ..... zögernd führte er die Tasse zum Mund und der stark bittere Geruch des Tees stieg ihm in die Nase und löste Übelkeit aus. Angewidert wandte er sich von der Tasse ab. Er begann zu schwitzen. Unbeherrscht wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Ein zweiter Anlauf. Diesmal aber. Er schüttete sich den grässlichen Tee in seine Kehle, worauf sich augenblicklich starker Schweißausbruch und massiver Brechreiz einstellte. Schwitzend und vom Ekel des Tees erregt, stemmte er sich aus dem Sessel, um im Kühlschrank schnell Essbares aufzuspüren, um den widerlichen Geschmack loszuwerden. Das noch verpackte, rohe Hackfleisch und die Neige der Rotweinflasche schienen für eine schnelle Geschmacksveränderung geeignet. Mit bloßen Händen stopfte er sich das Faschierte in dem Mund und nahm hastig immer wieder einen ordentlichen Schluck dazwischen aus der Flasche.

Gestärkt und betrunken ließ er sich im Wohnzimmersofa mit einer großen Tafel Schokolade und einer frischen Flasche Wein nieder, falls dieser Ekel erregende Geschmack wiederkehren sollte. Als Vorsichtsnahme riss er die Schokolade schon mal auf und verleibte sie sich mit großem Appetit ein. Nachdem auch der Wein getrunken war und die Verpackung der Schokolade nur noch ein zusammengeballtes Knäuel in einer Ecke des Wohnzimmers war, schluchzte er laut auf und erkannte, dass er wieder schwach geworden war. Er hatte nichts erreicht, keine Ernsthaftigkeit gezeigt und die Leute werden sich weiter über ihn lustig machen. Darüber war er zutiefst bekümmert.

Mit großer Mühe wuchtete er sich an diesem Abend noch ein letztes Mal aus seinem Sofa, um Essensnachschub und vielleicht ein paar Dosen Bier zu holen, denn das wären seine emotionalen Stützen, wenn er sich traurig die Urlaubsfotos aus frühen Zeiten anschaute, in denen Fettleibigkeit noch keine Sünde war.
 

pleistoneun

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Ja, den vorletzten Absatz könnte man weg lassen, aber ich denke, je ausführlicher eine Situation beschrieben wird, desto stärker wirken Wendungen in den Texten. Freut mich, wenn dir alte, früher gebräuchliche Ausdrücke gefallen.
 

Zefira

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Hallo alle,

mir gefällt der vorletzte Absatz, zumindest der erste Satz dieses Absatzes sollte stehenbleiben! Aber ich gebe Rainer insoweit recht, als die Pointe noch ein wenig besser herausgearbeitet werden könnte.

Da und dort ist es ein wenig unklar formuliert, ich habe die Stellen mal herausgesucht:

Er entschloss sich, dem Rat seines Apothekers nachzukommen und griff nach dem Päckchen schnell wirkenden, fiebersenkenden Tee für Übergewichtige. Als Wundermittel zur Restabilisierung der Gesundheit Übergewichtiger wurde dieser Spezialtee gehandelt. (Hier sagst du in zwei Sätzen zweimal dasselbe, das kann man zusammenfassen. Etwa: „Er entschloss sich, dem Rat seines Apothekers nachzukommen und griff nach dem Teepäckchen. Es war ein Spezialtee, der als Wundermittel zur blitzschnellen Wiederherstellung erkrankter Übergewichtiger galt.“ … oder so.) Er sollte zwar scheußlich schmecken, aber seine Wirkung nicht verfehlen.

Er brühte Wasser auf, (Moment – man brüht nicht Wasser auf, sondern den Tee. Also: Er setzte Wasser auf, oder er machte Wasser heiß …) entfaltete den Beipackzettel und versuchte den Inhalt zu verstehen, der ihm aber aufgrund der kleinen Schriftgröße und komplizierten Wörter unzugänglich blieb. Überfordert und angestrengt stützte er dabei seinen schweren Kopf auf. (Klasse die Stelle – man fragt sich, ob vielleicht das Übergewicht vom schweren Kopf kommt und eigentlich ist der Arme, vom Kopf abgesehen, durchaus schlank …) Als Übergewichtigen bereiteten ihm besonders die Blicke der Passanten Probleme. Sie gafften ihn an, als wäre er schwer krank, naja, der Begriff "schwer krank" ist nicht mal unpässlich. („Unpäßlich“ ist zwar eigentlich verkehrt, weil es „krank“ bedeutet, aber insoweit ist es eigentlich schon wieder päßlich! :D ) Er war 164 kg schwer und krank.

Der fertige Tee spiegelte sein verzagtes Gesicht. (Toll formuliert) Er begann rückwärts zu zählen und vereinbarte mit sich selbst, dass bei Null ein kräftiger, erster Schluck folgen sollte. Drei - zwei - eins - null ..... zögernd führte er die Tasse zum Mund und der stark bittere Geruch des Tees stieg ihm in die Nase und löste Übelkeit aus. Angewidert wandte er sich von der Tasse ab. (Er sollte sie erst hinstellen) Er begann zu schwitzen. Unbeherrscht wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Ein zweiter Anlauf. Diesmal aber. Er schüttete sich den grässlichen Tee in seine Kehle, worauf sich augenblicklich starker Schweißausbruch und massiver Brechreiz einstellte. Schwitzend und vom Ekel des Tees erregt, (nein, nein, nicht erregt vom Ekel des Tees, der Tee ekelt sich ja nicht … besser „schwitzend und aufgewühlt vom Ekel“, daß es vom Tee kommt, ist eh klar) stemmte er sich aus dem Sessel, um im Kühlschrank schnell Essbares aufzuspüren, um den widerlichen Geschmack loszuwerden. (Zwei Nebensätze mit „um“ hintereinander, solltest Du anders formulieren) Das noch verpackte, rohe Hackfleisch und die Neige der Rotweinflasche schienen für eine schnelle Geschmacksveränderung geeignet. Mit bloßen Händen stopfte er sich das Faschierte in dem Mund und nahm hastig immer wieder einen ordentlichen Schluck dazwischen aus der Flasche. (urks)

Gestärkt und betrunken (Moment – betrunken von der „Neige der Rotweinflasche“? Dann sollte die Flasche vorher mindestens halb voll sein, und das wäre dann keine „Neige“) ließ er sich im Wohnzimmersofa mit einer großen Tafel Schokolade und einer frischen Flasche Wein nieder, falls dieser Ekel erregende Geschmack wiederkehren sollte. (Super) Als Vorsichtsnahme riss er die Schokolade schon mal auf und verleibte sie sich mit großem Appetit ein. Nachdem auch der Wein getrunken war und die Verpackung der Schokolade nur noch ein zusammengeballtes Knäuel in einer Ecke des Wohnzimmers war, schluchzte er laut auf und erkannte, dass er wieder schwach geworden war. ("Schluchzte er auf und erkannte" ist nicht ganz korrekt, es müßte ja genau umgekehrt passieren ... ich würde die "Erkenntnis" überhaupt streichen: "... schluchzte er laut auf. Wieder war er schwach geworden. Er hatte nichts erreicht etc.")Er hatte nichts erreicht, keine Ernsthaftigkeit gezeigt und die Leute werden sich weiter über ihn lustig machen. Darüber war er zutiefst bekümmert. (Diesen letzten Satz würde ich allerdings streichen.)

Mit großer Mühe wuchtete er sich an diesem Abend noch ein letztes Mal aus seinem Sofa, um Essensnachschub und vielleicht ein paar Dosen Bier zu holen, denn das wären seine emotionalen Stützen, wenn er sich traurig die Urlaubsfotos aus frühen Zeiten anschaute, in denen Fettleibigkeit noch keine Sünde war. (Also das finde ich herrlich – andere Dicke gucken sich die alten Urlaubsfotos an, auf denen sie noch schlank sind …)

lG, Zefira
(auf Kohlsuppendiät :rolleyes: )
 

pleistoneun

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Uff, so viel Feedback. Zefira: deine Anmerkungen sind stellenweise mehr als berechtigt, doch habe ich manche Stellen (...vom Ekel des Tees erregt...--> er wirkte also Ekel erregend!) so belassen. Schon lustig, zu sehen, wie viele Schwachstellen ein so kurzer Text haben kann *g. Andererseits bin ich ja auch nur ein verformtes Formulierungsopfer meines Faches. Verdreht und verschachtelt drängen sich immer mehr Wörter in Sätze, die eigentlich ganz kurz und prägnant mehr Aussagekraft hätten. Ich bemühe mich um Prägnanz - die ich selbst bevorzuge.

Danke aber nochmal für die Ausführlichkeit der Kritik.
 



 
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