Der Schwur vom Dulsberg - ein satirisch-grotesker Krimi

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aboreas

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Auszug:

( ...) Der ehemalige Rentner-Greifer geleitete Elschen in den Saal. Er schloss die Tür, sah seine Frau lange und eindringlich an. In diesen Sekunden wurde ihm klar, dass sein Ruhm nicht einfach nur am verblassen, sondern schon gänzlich verblichen war. Elschen, eher über die körperliche Blässe ihres Gatten erschrocken, strich ihm sanft über das Haar. Irgendwie passte ihr Rüdi hierher. Ein ehrwürdiger alter Mann in einem ehrwürdigen alten Saal, der allerdings kurz vor der Restaurierung stand. Elschen erschrak. Hoffentlich verlangte nicht auch ihr Mann danach, restauriert zu werden.
Doch Rüdiger Reinpacker hatte dieses Verlangen nicht. Er war ein Mensch aus Fleisch und Knochen, kein Saal aus Stein und Stuck. Er war nicht Gegenstand eines Planes, nein, in ihm reiften Pläne. Und der Plan, der gerade Gestalt annahm, betraf Elschen. Denn auf ihre Hilfe war er jetzt angewiesen, die zu bekommen aber Schläue erforderte. Nachdem er sich gesammelt hatte, hauchte er ihr ins Ohr: „Elschen, mein Ferkelchen, mein zartes, süßes Ferkelchen...“ Er suchte in ihren Augen nach einer Reaktion. Wurde sie weich? Elschen erschauerte. Ferkelchen..! Wie lange war es her, dass Rüdi diesen Kosenamen geflüstert hatte? Unendlich lange war es her. Im Überschwang junger, unschuldiger Verliebtheit war der Name entstanden, damals, als beide noch nach dem Gemeinsamen in ihrer Sexualität geforscht hatten. Ach, würde Rüdi doch mal wieder den grunzenden Lockruf ausstoßen, sie verführen zum Saugen an seiner strammen Zitze. Elschen seufzte schwer vor Verlangen. Aufmerksam beobachtete Reinpacker jede Regung seiner Frau, seines kleinen Ferkelchens. Dann sagte er: „Elschen, meine Liebste, willst du der rettende Engel meines Herzens sein?“ Elschens Augenlieder zuckten, die Pupillen weiteten sich vollends, ihre Handflächen schwitzten, ihre Körperhaltung verriet Demut. Reinpacker setzte nach: „Elschen, wenn ich dich so ansehe, dann sehe ich die perfekte Frau; ja, und sogar eine Journalistin, eine von der mutigsten Sorte, die an vorderster Front ihren Auftrag erfüllt.“ Elschen zuckte, wandt sich, fühlte sich schwerelos wie ein Molch im Wasser. Dann wurde ihr heiß wie einem Huhn auf dem Grill. Als Reinpacker bemerkte, dass sie rundherum in Gänsehaut gehüllt war, war ihm klar, dass er gewonnen hatte. Nichts mehr auf dieser Welt würde sie ihm jetzt noch abschlagen können. Also erläuterte er seinen Plan. Danach sollte sie als Journalistin verkleidet Santa Fux aufsuchen, um Egon Brausewitz zu interviewen. Sie sollte Gebrechlichkeit vortäuschen, die es erforderlich machen würde, einen Stuhl oder Schemel mit in die Zelle zu nehmen. Das war es, worauf es Rüdiger Reinpacker ankam. Der Superflüchter sollte die Möglichkeit erhalten, das Geheimnis seiner Zelle zu lüften. Mit einem geeigneten Gegenstand, der sich auf den Tisch stellen ließe, um an das Fenster zu gelangen. Fragend sah Reinpacker in die glückselig eingetrübten Augen seines Elschens. Die nickte mit dem Kopf. Der Plan war beschlossene Sache.
Am nächsten Morgen griff Elschen nach dem erstbesten Holzschemel, der im Foyer des Hotels zu finden war. Dann suchte sie den Taxistand auf. „Nach Santa Fux bitte!“ Der Taxifahrer musterte sie kurz. Die Dame hatte einen Schemel dabei, das kam nicht alle Tage vor. Dann fuhr er los. Vor dem Gefängnis angekommen half er das kleine Möbelstück zum Tor zu tragen. Doch kaum hatte Elschen dem Pförtner einen guten Tag gewünscht, da wurde ihr der Schemel abgenommen. Sie protestierte, zeterte und rang die Hände, doch es half nichts. Gegenstände mitzunehmen sei unzulässig, beschied man ihr. Denn sitzen, das könne man im Gefängnis ohnehin, darauf sei man eingerichtet. Die Wachmänner hatten ein Grinsen auf den Gesichtern, als sie Elschen zum Direktor geleiteten.
Gefängnisdirektor Festhalter erwartete sie an der Tür. Eine Journalistin hatte man ihm angekündigt, eine von jenen weltlichen Geschöpfen, die den magischen Schlüssel zur Öffentlichkeit in ihren Händen hielten, unverzichtbar für die eigene Karriere. Festhalter war bereit dieses Tor zu öffnen. Doch jetzt, da die Dame sein Augenlicht streifte, erschrak er und war mit jedem Schritt, den sie sich näherte, um so enttäuschter. Journalistinnen hatten sich stets jung und knackig gezeigt, vorlaut zwar und oftmals aufdringlich, aber mit einem Hauch von Verführung und Sinnlichkeit. Diese jedoch, die da mit schwerem Schritt auf ihn zustapfte und deren Gesicht eher dem einer Vogelscheuche glich als dem eines lebendigen Menschen, machte der sensiblen Seele des gelernten Psychologen Artur Festhalter Angst. Er bat Elschen Platz zu nehmen. Festhalter lächelte gepeinigt, als er fragte, für welche Zeitung sie arbeite. Dem braven Eschen wurde mulmig. Jetzt kam es darauf an. Würde sie die Nerven behalten? Was hatte ihr der Rentner-Fuchs Reinpacker mit auf den Weg gegeben? Sie solle einen Dialekt gebrauchen. Auf diese Weise sei es selbst für einen Psychologen schwer, den Gesprächspartner zu durchschauen. Sie hob den Blick und sagte in einer undefinierbaren, selbst erfundenen Deutschvariante: „Ich bin vom Brandenburger Tageblatt. Unsere Leser sollen aus erster Hand erfahren, was es bedeutet, den gefährlichsten Ausbrecher unseres Erdkreises zu bewachen. Sie müssen nämlich wissen, Herr Direktor Festhalter, in diesem Jahr wird bei uns in der Stadt erstmals das Konni-Adebauer-Banner vergeben, eine Auszeichnung für mutige Kämpfer wider das Unrecht und das Böse. Damit soll der tapfere Einsatz für die Demokratie und den Rechtsstaat belohnt werden. Und Sie, verehrter Herr Direktor, stehen ganz oben auf unserer Liste. Und weil wir über jeden Kandidaten eine ganzseitige Reportage veröffentlichen, bin ich heute hier.“
Die Laune des Direktors wandelte sich schlagartig. Endlich mal eine Journalistin, die etwas von ihm wollte und nicht von diesem Brausewitz. Und hatte sie nicht gerade eben von einer Auszeichnung gesprochen? Das verhieß Ruhm und Ehre. Wenn da nur nicht dieser verdächtige Gegenstand wäre, dieses Banner. Das klang irgendwie kommunistisch... Und dann dieser Dialekt! Komisch, sehr komisch! Na ja, die Leute von drüben hatten halt ihre eigenen Gewohnheiten entwickelt. Das Leben in der DDR war schließlich kein Zuckerschlecken gewesen. Angesichts seiner Besucherin bedauerte Direktor Festhalter noch still die ostdeutsche Öffentlichkeit, die es offenbar mit Journalistinnen zu tun habe, die eher dem wandelnden Selbstporträt einer geschminkten Waschfrau glichen denn der jugendlich ästhetischen Vermenschlichung eines eleganten Sprachgebildes. Artur Festhalter atmete tief durch, seufzte kurz. Dann knöpfte er sein Jackett auf und bot sich selbstbewusst spreizend dar.
Elschen befragte den Direktor nach seinen Lebensgewohnheiten, seinem Tagesablauf, seinen Empfindungen beim Anblick der bedauernswerten Geschöpfe hier hinter den dicken Gittern und schließlich nach seiner Gesundheit. Es handelte sich um ein Interview, wie es sich Festhalter immer gewünscht hatte. Ohne die üblichen Nach- und Fangfragen kontern zu müssen, geriet er über sich, sein Leben in Santa Fux, überhaupt über sein Lebenswerk in fliederblütenhafte Verzückung. Und als Elschen ihm auch noch anbot, in Brandenburg einen Vortrag zu halten, sogar in Anwesenheit des Europa-Kanzlers, der die Schirmherrschaft über die Bannervergabe übernommen habe, da legte Direktor Festhalter alle Hemmungen ab. Er sprang auf, intonierte die Nationalhymne, schwor dem Osten und Brandenburg ewige Treue und versicherte, jederzeit zur Verfügung zu stehen.
Artur Festhalter breitete seine Weichteile offen vor Elschen aus. Und mit dem Instinkt und der Lebenserfahrung einer Siebzigjährigen biss sie zu: „Und jetzt, verehrtester Direktor Festhalter, kommen wir zum Höhepunkt ihres großartigen Lebens, der Bewachung des Superflüchters Egon Brausewitz.“ Artur Festhalter sprang auf. „Stets zu Diensten!“, rief er. „Fein, dann wollen wir ihn aufsuchen, auf dass ich meinen Lesern darüber berichten kann. Ich werde das Bild eines verruchten Wolfes zeichnen, das ich Ihnen, seinem Beschwörer und Meister, gegenüberstelle.“
Der Psychologe Artur Festhalter, gekitzelt an jeder Verästelung seiner Empfindungen, marschierte ohne zu zögern voraus. Elschen folgte ihm, allerdings - und das war wirklich ungewöhnlich - schleppte sie den mit Leder bezogenen Sessel mit, auf dem sie eben noch gesessen hatte. Niemand nahm Anstoß an ihrer Plackerei mit dem schweren Möbelstück, das sie schon bald, nachdem sie die Kräfte verließen, abwechselnd vor sich herschob oder hinter sich herzerrte, dabei scheppernd an Gitter, Geländer und Wände stoßend. Die Wärter schwiegen, da sich die merkwürdige Alte im Schlepptau des Gefängnisdirektors befand. Und die Gefangenen, die bei geöffneten Türen zusammenströmten, grinsten und tuschelten über das ungewöhnliche Paar. Manche mutmaßten, der Direktor sei mit seiner Geliebten auf dem Weg zu einem Schäferstündchen, andere glaubten angesichts der bunt bemalten Dame an eine bevorstehende Zirkusnummer im Rahmen der Aktion „Knast und Kultur.“ Festhalter, der wie im Rausch vorauseilte, bemerkte erst kurz vor der Zellentür seines berühmten Gefangenen, dass seine Begleiterin den Sessel mitführte. Er stutzte. Irgendetwas stimmte hier nicht. Mit aufsteigendem Misstrauen beobachtete er, wie Elschen den Sessel die Treppe hinunter ins Kellergeschoss stieß, kraftlos taumelnd, nach Luft japsend. „Hm!“ Nachdenklich kratzte sich Festhalter am Hinterkopf. Doch ein vernünftiger, erhellender Gedanke wollte sich nicht einstellen, denn noch immer hatte ihn der Zustand tiefster Glückseligkeit fest im Griff.
Direktor Festhalter ließ die Zellentür aufschließen. Höflich wie er war, half er Elschen sogar, den Sessel in die Zelle zu bugsieren. Superflüchter Egon Brausewitz lächelte seinen Besuchern entgegen. Er wirkte gelöst und zufrieden, ja heiter geradezu. Er stand auf, reichte die Hand zum Gruß. „Ach wie nett, der Direktor persönlich“, sagte Egon, „da freut sich der brave Sünder. Willkommen in meinem kleinen Heim.“ Die unerwartete Freundlichkeit irritierte den Direktor. War der Superflüchter nicht gestern noch zutiefst zerknirscht gewesen? Bei Gott! Ihm wäre es jetzt lieber, der ungehobelte Brausewitz wäre fluchend hochgefahren, hätte getobt, randaliert und sich verweigert. Die Leviten hätte er ihm lesen können, demonstrativ, vor den Augen dieser tapferen, zart besaiteten Journalistin. Gut hätte er dagestanden, kraftvoll und mit der Entschlossenheit eines Löwenbändigers. Doch Artur Festhalter war ein guter Psychologe, so verstand er es, auch dieser Situation eine gute Seite abzugewinnen. Vielleicht, so überlegte er, wäre es sogar von Vorteil, wenn Egon Brausewitz als Geläuterter dastünde, als positives Resultat seiner, Festhalters, Psychologie.
Direktor Festhalter wandte sich unterkühlt höflich an Egon und sagte: „Ich erlaube mir, Ihnen eine Dame vorzustellen, eine Journalistin, die einige Fragen stellen möchte. Ich bitte darum, ihr die gebührende Aufmerksamkeit zu schenken. Elschen reichte dem Superflüchter die Hand. „Guten Tag, Deutschmann ist mein Name, Tamara Deutschmann, Journalistin des Brandenburger Mittagsblattes.“ Egon ließ seinen Blick über den Arm zum bunt bemalten Antlitz der Dame hinaufwandern. Dann nahm er den im Hintergrund stehenden Direktor in Augenschein. Es ging nichts Bedrohliches von ihnen aus. Allein der ihm bekannte Sessel aus dem Besucherzimmer des Direktors verströmte das Odem der Gefahr. Er passte nicht ins Bild, fügte sich nicht in die Situation und wirkte sogar noch unwirklich, als Elschen schon auf ihm Platz genommen hatte. „Ich hoffe, Sie sitzen bequem“, sagte Egon in einem uneindeutigen Tonfall.“ Au weia! Der Superflüchter machte ausgerechnet den Stuhl zum Thema. Elschen wurde nervös. Händeringend versuchte sie, den Gefangenen durch allerlei Gesten und Geflüster zu verstehen zu geben, den Mund zu halten. Eine überflüssige Furcht, denn der Direktor hatte gar nicht zugehört. Seine Gedanken galten allein der Überlegung, wie er bei der schnuckeligen Journalisten einen noch besseren Eindruck machen könnte. Doch mochte er sich einfach nicht entscheiden. Sollte er dem Gefangenen gegenüber freundlich und fürsorglich sein oder grob und zwingend? Achselzucken!
Nach einem Moment der Besinnung begann Elschen mit dem Interview. Sie fragte nach allerlei Persönlichem, nach Egons Jugend, seiner Herkunft, seinen Empfindungen auf der Flucht. Der Superflüchter malte ihr in plakativen Pinselstrichen das Bild des verkannten Künstlers mit trauriger Kindheit, des verkannten Genies mit ungewisser Zukunft, des Justizirrtums mit bitterem Ausgang, des Bürgers und Menschenfreundes mit sauberer Weste. Kommentarlos schrieb Elschen jedes Wort mit.
Elschen hatte den Direktor während des Interviews nicht aus den Augenwinkeln gelassen. Sie war bemüht, ihm durch allerlei verdeckte Gesten zu verstehen zu geben, dass sie unbeeindruckt bleibe von der salbungsvollen Selbstdarstellung des Superflüchters. Irgendwann musste es dem Psychologen Festhalter aber zuviel geworden sein, denn er verabschiedete sich kurz, wollte lieber draußen im Gang als in der Zellentür warten. Elschen beobachtete den Vorgang mit Misstrauen. Sie fürchtete, dass der schwüle Nebel, der den Direktor eingelullt hatte, kondensieren könnte. Niemals würde es ihr dann gelingen, den Sessel in der Zelle zu vergessen. Es war an der Zeit, das Interview zu beenden. (...)

Weitere Textproben: http://www.aboreas.de
 

majissa

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Stilsicher!

Lieber Aboreas,

Rüdiger Reinpacker, Egon Brausewitz, Festhalter!!! Herrlich! Ich bin gleichermaßen entzückt und beeindruckt. Nach langer Zeit treffe ich hier mal wieder auf ein Stück gute Literatur. Meines Erachtens dürfte dir auf literarischem Gebiet so schnell nichts passieren. Garant dafür sind der sichere Stil (keine Holperstellen, kein unnötiges Abschweifen), die spritzigen Dialoge (du zeigst deine Figuren handelnd und überfrachtest sie nicht mit Geschwätzigkeit) und nicht zuletzt die Konsequenz, mit der du jeden Erzählstrang geschickt in die Handlung verwebst und gleichzeitig Stück für Stück die Spannung erhöhst. Deine Charaktere sind interessant und glaubwürdig. Die Harmonie zwischen Autor, Text und Leser stimmt. Allein das Bild von Elschen, die, als wäre es das Normalste der Welt, in einem Gefängnis einen Mordssessel hinter sich herschleift, war einfach zum Kringeln. Bis auf die Tatsache, daß du uns hier nur einen Ausschnitt präsentiert hast, habe ich nichts zu bemäkeln. So, nun aber genug des Lobes...;)

Liebe Grüsse
Majissa
 

aboreas

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Ein artiges Dankeschön

Hallo majissa.

Ich habe gar nicht mehr damit gerechnet, eine Antwort zu bekommen. Und dann eine so wohltuende...

Hab tausend Dank!!!

Entschuldigen muss ich mich dennoch. Ich habe deinen Beitrag schon vor Tagen gelesen, wollte auch immer antworten, habe mich aber mit allerlei anderen Dingen verzettelt.

Zum Text möchte ich noch anmerken: Eigentlich ist es eine über Jahre gewachsener Nonsens-Menge, die ich dann zu einem doch recht umfangreichen Roman verarbeitet habe - mit den üblichen Schwächen, die sich halt so einstellen, wenn man von der ersten Umschlagzeile bis zur Rückseite alles im Alleingang gemacht hat. Es ist eine kolossale Erfahrung, ein ständiger Lernprozess, ein ewiges Korrigieren eigener Fehleinschätzungen hinsichtlich der Dauer von Arbeitsabschnitten und der Qualität ihrer Ausführung.

Aufgrund deines Beitrages habe ich mit Hilfe des Profils deinen letzten Text angesehen. Und gewiss nicht der Höflichkeit halber kann ich dass Lob zurückgeben. Habe mich wirklich außerordentlich amüsiert.

Lieber Gruß. aboreas
 

majissa

Mitglied
Lieber Aboreas,

das Phänomen des ewigen Korrigierens kenne ich nur zu gut. Scheinbar kommt man damit nie zum Ende und ständig läuft man Gefahr, einen Text irgendwann kaputt zu korrigieren. Ich halte nicht viel davon, eine Geschichte gleich nach dem Schreiben zu posten, weil Abstand zum eigenen Werk eine gewisse Objektivität schafft, die es einem noch mal ermöglicht, Schnitzer auszubügeln. Leider neige ich dazu, dieses Procedere so oft durchzuführen, daß meine Beiträge aus der Schublade gar nicht mehr rauskommen. Das ist auch eine kolossale Erfahrung...

Noch ein Wort zu deiner Geschichte: Mir fiel gleich angenehm auf, daß es keinen qualitativen Knick gab, der mir bei längeren Texten sonst häufig begegnet. Meistens findet er sich in der Mitte, so als hätte der Autor plötzlich Lust und Energie verloren. Zum Ende hin wird’s dann meistens wieder besser. Also ging ich davon aus, daß du überlegt und besonnen arbeitest und auch nachbearbeitest. Bin gespannt auf dein nächstes Opus.

Danke übrigens für dein Lob. Es hat mich gefreut.

Liebe Grüsse
Majissa
 

aboreas

Mitglied
Hallo Majissa.

Wie es scheint, haben wir die gleichen Erfahrungen gemacht - und die gleichen Schlussfolgerungen gezogen.

Du sprichst vom Abstand zum eigenen Werk. Ich bin auch der Auffassung, dass man oft erst mit der gebotenen Distanz imstande ist, eigene Verse und Prosa zu optimieren - jedenfalls soweit es die individuellen Möglichkeiten zulassen.

Man ist oft durchdrungen von der eigenen Sprachmelodie; umzingelt von den sprachlichen Bildern, die man gerade entworfen hat; eingesponnen in die Handlungsstränge, an denen man sich begeistert; getragen von dem Stolz über die Leistung, die man gerade vollbracht hat. Alles natürliche Verhaltensmuster. Aber die Erfahrung (meine jedenfalls!) lehrt eben, dass man diesen Empfindungen misstrauen sollte, jedenfalls für den Augenblick.

Man schwebt regelrecht über allen Klippen, eine Schwerelosigkeit, die aber den geneigten Leser nicht tragen will. Der wird sich unweigerlich stoßen und schneiden an den Unebenheiten. Eine Erfahrung, die man selbst machen könnte, würde man einen gerade fertig gestellten Text für einige Tagee oder Wochen in die Schublade legen. Dann aber sollte er raus!!! ;) Sonst wird er sauer. Wer will das schon?

Deine Bemerkung über den von dir beobachteten „Knick“ in der Mitte eines Werkes finde ich sehr interessant. Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Es ist wohl die Auswirkung eines psychologischen Phänomens. Ja, ich denke, dass man einer Idee folgend ans Werk geht. Dann, mit der Entwicklung des Stoffes, wenn der Reiz der ursprünglichen Idee verblasst, beginnt vielleicht eine Phase emotionsloser Textarbeit. Zum Schluss, dem Ziel so nah, kommt die Begeisterung zurück. Oder?

Man sollte dieses Muster vor Augen haben und stets seine Arbeitsweise überprüfen. Wie heißt es doch so schön: Gefahr erkannt, Gefahr gebannt! Man lernt eben nie aus.

Viele liebe Grüßte. aboreas
 

Schakim

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Hallo, arboreas!

Jetzt melde ich mich auch einmal bei Dir - nur kurz! Ich wusste ja nicht, dass Du so spannende Geschichten schreibst... Bin ganz zufällig hierher gelangt, normalerweise halte ich mich eher bei den Gedichten auf, weil Kurzgeschichten mir zu lang sind, d.h. zu lang, um sie am Bildschirm zu lesen. Für diese Literaturform habe ich doch noch lieber die Buchausgabe in den Händen, wo ich es mir in einem Sessel bequem machen kann...

Sende Dir viele Grüsse!
Schakim
 

majissa

Mitglied
Lieber Aboreas,

interessante Aspekte, die du da ansprichst. Den Entwicklungsprozeß eines Werkes und die damit einhergehende Selbstüberschätzung hättest du treffender nicht schildern können. Der Liste vermeidbarer Fehler hätte ich noch einen Punkt hinzuzufügen: Das „lieb gemeinte“ Urteil guter Freunde sollte keinesfalls als alleiniger Maßstab für die Qualität eines Textes gelten. Freunde neigen dazu, mit über die Klippen zu schweben. Mitunter schweben sie noch ein Stückchen höher. Davon spreche ich mich selbst nicht frei. Wenn mir aber ein Freund mal einen Text zu Lesen gibt, versuche ich – falls sich grad kein Streit vom Zaun brechen lässt, der die Sicht auf einen Schlag ungleich objektiver werden lässt – besonders kritisch vorzugehen.

An der Schublade führt kein Weg vorbei, möchte ich mal behaupten. Erst kürzlich las ich irgendwo, dass der Autor nur ein einziges Mal die Möglichkeit hat, sein Werk nach dem Weglegen mit den Augen eines Fremden zu betrachten. Das halte ich für übertrieben, denn meine Werke werden mir von mal zu mal fremder, je öfter ich sie zurücklege. Irgendwann streiche ich sie ganz zusammen, und wenn ich mir das Gezeter aus der Schublade so anhöre, vermute ich, dass die allzu lange Lagerung der Texte sie nicht nur sauer, sondern auch gemeingefährlich werden lässt. :)
Daraus ließe sich übrigens eine nette Story machen.

Zum Knick: Zwischen Anfangs- und Endbegeisterung (ja, ich glaube auch, daß sie zum Schluss hin zurückkehrt) liegt meines Erachtens der Versuch, den gefährlichen Mittelteil so schnell als möglich hinter sich zu bringen. Entweder mit emotionsloser Textarbeit (dann klingts plötzlich langweilig) oder mit übertriebener Anstrengung (dann wirkt’s bemüht oder überladen). Das mag komisch klingen, aber ich habe das an mir selbst beobachtet.

Aber es soll ja auch diese Genies geben, die einen Text gleich nach dem Schreiben posten und tatsächlich saugute Literatur liefern. Das sind dann wohl die schubladenlosen Mittelteilakrobaten...

Liebe Grüsse
Majissa
 

aboreas

Mitglied
Hallo Majissa,

ja, die guten Freunde...

Die darf man natürlich nicht vergessen. Wenn es denn wirklich gute Freunde (für mich übrigens seltene Spezies) sind, kann ihr Urteil eine Art Schwungrad sein, das die durch allerlei innere und äußere Reibung verloren gegangene Energie erneuert. Manchmal sind Freunde aber auch nur Freunde, um ihre versteckte Feindschaft besser ausleben zu können. An ihren Ratschlägen sollte man sie zu erkennen suchen.

Noch ein Wort zu den Urteilen oder Ratschlägen oder Verbesserungen oder wie auch immer: Der „Freund“ ist ja in dem Moment, da er aufgefordert wird, sein Urteil abzugeben, nicht mehr der frei urteilende Leser, sondern er befindet sich in der Rolle eines Lektors, wenn man so will in der Funktion eines Literaturkritikers. Eine Aufgabe, die eigentlich Kenntnis und Erfahrung voraussetzen sollte. Und da habe ich so meine Bedenken. Gute Ratschläge, wenn sie mir nicht gerade allzu viel Zeit rauben, nehmen ich immer zur Kenntnis. Aber meistens weiß ich es besser - bilde ich mir jedenfalls ein. Manchmal merkt man hinterher, dass man es eben doch nicht besser gewusst hat. Dann - kann man sich damit trösten, etwas dazugelernt zu haben.

Im Großen und Ganzen vertraue ich mehr dem Beispiel, egal ob in einer Leselupe oder zwischen zwei aufgeschlagenen Pappdeckeln mit einem bekannten Namen darauf. Weil auf diese Art niemandem gesagt wird, dass sein Text weniger gut ist, weil man ihm nicht den Mut nimmt. Letztendlich liegt es an jedem selbst, wie er mit Prosa und Gedichten umgeht, wie er sich zu seinen Mitdichtern in Beziehung setzt. Es gibt welche, die verachten die Form, andere stellen sie in den Mittelpunkt ihres Schaffens. Manche missachten die strengen Vorgaben aus dem einfachen Grund, weil sie ihnen fremd sind. Nicht zuletzt in einem solchen Forum wie der Leselupe wäre es möglich, den Nutzen der Form, ihren Sinn, ihre Vorteile durch das Studieren/Lesen der Texte zu ergründen. Ohne ein „Jamben-Fan“ werden zu müssen, hat man auf diese Weise die Gelegenheit dazuzulernen, auszuprobieren. Manche tun es, andere nicht.

Um nicht missverstanden zu werden: Es geht nichts über ein gelungenes Lob, über Zuspruch und Ermunterung. Immer!!! Auch von Freunden, sogar von falschen. Aber mit einer mehr oder minder negativen Kritik sollte man in den meisten Fällen gaaaanz vorsichtig sein.

Noch etwas: Im Gegensatz zu dir habe ich keine umfangreichen Werke in der „Schublade“, so dass ich sie nicht „zetern“ hören kann. ;) Schade eigentlich! Hätte mich schon interessiert, ein solches Konzert. Stelle ich mir sehr kreischend-modernistisch vor. Aber immerhin: Solange sie zetern, leben sie noch.

Ganz liebe Grüße und (weil ich ganz einfach gefällig bin) ein bisschen besseres Wetter
wünscht dir aboreas

Nachtrags-PS: Der kluge Mensch, den du zitierst, der gesagt hat, dass man einen Text nur einmal mit Distanz lesen könne, der hat vielleicht sogar Recht. Später wäre einem der Text vermutlich fremd geworden. Und womöglich würde man allerhand Leute verdächtigen, dass sie ihre Elaborate falsch abgelegt hätten. Ja, haben die denn keine eigene Schublade..? :D
 



 
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