Der Selbstmörder

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Ohrenschützer

Mitglied
(30.05.2007)

Und er winkte mir zu
reglos, fast segnend
mit schwach blond behaartem Arm
und einer blauen Armbanduhr

der Tote unter dem Waggon
auf den ich hinuntersah
um herauszufinden, warum der Zug
seit beinah zehn Minuten stand

und er winkte auch dem Schaffner
„Scheiße“ war dessen Kommentar
ich zog mein Sakko aus
vor plötzlicher innerer Hitze

Wir stiegen gemeinsam aus
im vordersten Waggon
und wünschten dem leichenblassen
Lokomotivführer alles Gute

ohne ihm zu winken.
 

Ohrenschützer

Mitglied
Vielen Dank an ENachtigall, die diesen Thread in die Empfehlungsliste aufgenommen hat. Mich würde natürlich interessieren warum, und würde mich über Rückmeldungen freuen.

Schöne Grüße,
 

ENachtigall

Mitglied
Emphehlungsgrund

Lieber Ohrenschützer,

bemerkenswert gut gefällt mir an diesem Text die Pietät (Respekt und Ehrfurcht) des Lyrich:

gegenüber dem Selbstmordopfer - dargestellt in der Art der Beschreibung dessen, was von ihm sichtbar ist. Eine Wahrnehmung, die den Menschen individuell, nicht klischeehaft, schon gar nicht effekthaschend zeigt und ihm dadurch sogar noch eine Form von Schönheit gibt.

Und er winkte mir zu
reglos zwar, fast segnend
mit schwach blond behaartem Arm
und einer blauen Armbanduhr
Aber auch gegenüber dem Lokführer, dem dieses einzige Wort in den Mund gelegt wird, das hier mehr als erlaubt ist - und die Achtung, ihm "alles Gute" zu wünschen, wo andere sonst ausreichend mit der Bewältigung des eigenen Schreckens beschäftigt sind.

und er winkte auch dem Schaffner
„Scheiße“ war dessen Kommentar
ich zog mein Sakko aus
vor plötzlicher innerer Hitze
Nicht zuletzt auch sich selbst gegenüber, im sich Zurückziehen und Entfernen vom Ort des Geschehens, anstatt schaulustig zu sein und zu bleiben.

Wir stiegen gemeinsam aus
im vordersten Waggon
und wünschten dem leichenblassen
Lokomotivführer alles Gute

ohne ihm zu winken
Da steckt ungeheuer viel lyrische Melancholie und Zivilcourage drin; eine sehr seltene Mischung.

Glückwunsch von Elke
 
A

Arthrys

Gast
hm,

ich habe lange überlegt, ob ich reagieren soll. Aber es gibt in diesem Text so vieles, das ich gern beantwortet hätte:

der Titel: Der Selbstmörder

Wer sagt mir, dass sich dieser Mensch vor den Zug geworfen hat? Es geht nicht aus dem Text hervor.
Es kann also auch ev. einen anderen Grund geben.

Nicht der Lokführer, sondern der Schaffner sagte "Scheiße". Was wird er noch gedacht haben? Etwa "schon wieder einer",
oder "irgendwann musste mir das ja auch mal passieren", oder "die Vorschriften, was mach ich jetzt?" Wir wissen also nicht, war es der Erste, der Fünfte oder der Zehnte, der während seines Dienstes um Leben kam.

Sich in solch einer Situation das Sakko auszuziehen weil einem innerlich heiß wird, ist eine völlig untypische Handlungsweise und zeugt eher von ev. Ratlosigkeit, Hilflosigkeit, Stressreaktion und/oder Verlegenheit. Es sei denn, ich möchte das Sakko über den Toten legen (das wäre Zivilcourage).

Bezieht sich "dem Lokführer alles Gute wünschen", auf die ihm bevorstehende Zeit "danach"; auf die Nächte mit unruhigen Träumen, schweißgebadetem Aufschrecken, auf die Bewältigung dieses Schockerlebnisses? War es für den Lokführer auch der Erste, der Fünfte oder der Zehnte, bei dem ein Bremsen des Zuges nicht mehr ausreichte, nicht mehr rechtzeitig möglich war?

Ich sehe in diesem Text auch die Effekthascherei (wenig Text = viel Wirkung. Was ja nicht von Nachteil sein muss).

Es ist in meinen Augen auch nicht Melancholie, sondern eher Hilflosigkeit und Tragik, die dieser Text ausdrückt (was ja ebenfalls nicht von Nachteil sein muss). Du armer Mensch, was hat dich nur bewogen, diesen Schritt zu tun? Ich weiß nicht wer du warst. Bin ich doch ein Nichts auf dieser Welt, nicht fähig anderen vielleicht diesen Schritt zu ersparen. Drum schleich ich mich still und leis' davon und gedenke deiner. Kann ich doch eh nicht helfen. Dir nicht mehr und auch nicht den anderen. Was ist die Welt doch schlecht, dass sie dir dies angetan hat.

So ist es auch nicht Zivilcourage, die in diesem Text zeichnet. Zivilcourage beinhaltet u. a. beherztes Eingreifen, Schaulustige in ihre Schranken zu verweisen, sich z.B. des Lokführers annehmen, und nicht nur ihm "alles Gute" zu wünschen.

Vielleicht sehe ich das Ganze auch zu realistisch. Wenn du diese Situation jedoch selbst erlebt haben solltest, oder zumindest entfernt dabei warst, wünsche ich dir von ganzen Herzen, dass du mit anderen darüber reden konntest, oder kannst, um dir diesen Druck von der Seele zu nehmen.

Und trotz allem gefällt mir dein Text.
LG
Arthrys
 

Zeder

Administrator
Teammitglied
Hallo Ohrenschützer,

mir ist klar, dass im Tagebuch andere (Text)Regeln greifen; trotzdem möchte ich dich auf ein paar Ungenauigkeiten hinweisen:

Und er winkte mir zu
reglos zwar, [blue]aber/trotzdem - das zwar sucht sein Pendant[/blue]fast segnend
mit schwach blond behaartem Arm
und einer blauen Armbanduhr

der Tote unter dem Waggon
auf den ich hinuntersah
um zu sehen [blue]besser: nachforschend (oder ähnlich)[/blue], warum der Zug
seit beinah zehn Minuten stand

und er winkte auch dem Schaffner
„Scheiße“ war dessen Kommentar
ich zog mein Sakko aus
vor plötzlicher innerer Hitze

Wir stiegen gemeinsam aus
im vordersten Waggon
und wünschten dem leichenblassen
Lokomotivführer alles Gute [blue](dieses "alles Gute" kann ich mír wirklich und wahrhaftig angesichts des eben erlebten Todesfalls nicht vorstellen! Noch nicht einmal das "Wünschen". Eher ein unbeholfenes "Du kannst nichts dafür!" Ganz ehrlich: Wer denkt in solch einer Situation daran, dem Lokführer für sein weiteres Lokführerdasein "alles Gute" zu wünschen?)[/blue]

ohne ihm zu winken. [blue](Das würde ich komplett streichen - es wirkt sehr strange - außer du schreibst deinen kompletten Text auf dieses Ende hin um: Danach allerdings sollte er in "Ungereimtes" stehen).[/blue]

Viele Grüße, Zeder
 

Ohrenschützer

Mitglied
Liebe Mitlupianer und Mitlupianerinnen,

vielen Dank für die ausführlichen und vielfältigen Kommentare. Es freut mich, dass Ihr Euch die Zeit dafür genommen habt. Die Reaktionen sind für mich äußerst interessant, weil ich kaum Vorstellungen davon hatte, was der Text transportiert und was nicht.

Es erscheint mir auch wichtig, festzustellen, worüber wir diskutieren: Nämlich nicht über das wirklich Erlebte (wenngleich es die reelle Basis für das Gedicht ist), sondern über das lyrische Extrakt daraus. In dem Fall ist die Handlung sehr nah an der Realität, also es wurde von mir nichts dazu erfunden, es wurde nur verkürzt ausgedrückt und möglichst das Überflüssige ausgeblendet. Ich habe längere Zeit darüber nachgedacht und denke, es geht darum, wie gut es mir gelungen ist, das Wesentliche des Erlebten lyrisch abzubilden und zu transportieren; daher gebe ich hier auch ein wenig Hintergrundinformation über „die Realität“, also das tatsächlich Erlebte.

Arthrys meint, es geht aus dem Text nicht zwingend hervor, dass es sich um einen Selbstmörder handelt, und hat völlig Recht damit. Auch in der Realität waren wir uns nicht hundertprozentig sicher, ob es sich um einen Selbstmörder handelte, aber aufgrund der äußeren Umstände war es sehr wahrscheinlich. So wahrscheinlich, dass ich den Titel zu vergeben wagte; ich würde nicht sagen, dass es zwingend noch zusätzlich im Text vorkommen muss, um schlüssig zu sein.

Zum Kommentar des Schaffners: Elke findet ihn sehr zutreffend, und ich stimme ihr da voll zu, obwohl ich nicht genau weiß, was er sich dazu denkt. Alle Gedankengänge, die Arthrys beispielhaft aufzählt, sind denkbar. In der Realität stand der Schaffner am Bahnsteig, während ich aus dem Waggonfenster sah; er war am Weg zum Lokomotivführer, der ihn ausgerufen hatte. Von seiner Position aus konnte er den Toten viel besser als ich, wahrscheinlich vollständig sehen. So wie er „Scheiße“ gesagt hat, in einem kurzen, dumpfen Tonfall, klang es für mich wie „mein Gott, das sieht ja furchtbar aus“, nur eben viel treffender. Ich kann mich an meine Reaktion auch wörtlich erinnern, es war „Ach du Scheiße“. Fazit: Der Ausdruck des Schaffners war für mich treffend in der Art, wie er es sagte, weil es auf die an sich unappetitliche Szene hinweist; das scheint bei Elke angekommen, bei Arthrys für Irritation gesorgt zu haben.

Ob die Reaktion, das Sakko auszuziehen, typisch ist, weiß ich nicht; dass einem heiß wird, würde ich aber schon behaupten. Ein Adrenalinschub, der nicht weiß, wohin. Das Sakko über den Toten zu legen, wäre eine tolle Reaktion gewesen; war aber leider nicht so. Meine ersten Gedanken in der realen Situation waren wohl, meine Beste, die Ohrenschützerin, vor dem Anblick zu bewahren; ihre letzte Begegnung mit einer Leiche hat sie jahrelang im Schlaf verfolgt (aber das kommt im Gedicht nicht vor und soll daher nicht Thema sein). Die angesprochene „innere Hitze“ würde ich als Gefühlsstau, als momentane Überforderung und kurze Paralyse beschreiben. Erstaunlich, dass das bei Arthrys nicht ankommt, ich dachte, das würde der Leser aus anderen Situationen kennen.

Bevor ich meinen Kommentar unterbreche, noch ein Satz zu Zeders Vorschlag zu Zeile zwei: Ich schwanke nun zwischen den Varianten „reglos, fast segnend“ und „reglos zwar, und doch fast segnend“, tendiere zu Ersterem, weil das zwar sich nur darauf bezieht, dass „segnend“ für mich eine kleine Bewegung beinhält (scheint vernachlässigbar zu sein).

Fortsetzung folgt…
 

ENachtigall

Mitglied
alles Gute

Inzwischen habe ich mir noch einmal Gedanken zu "alles Gute" und der von mir genannten Zivilcourage gemacht. Schön, dass Ohrenschützer in seinem Kommentar noch nicht darauf eingegangen ist. So kann ich mich ohne seine Hintergrundgedanken zu kennen dazu äußern.

Das Couragierte ist in meinen Augen, überhaupt Worte zu finden in der Situation und an den zu richten, den das Erlebte wohl am unmittelbarsten trifft: den Zugführer. Dabei wird dieser wahrscheinlich mehr auf die emotional tragenden Zwischentöne zu hören im Stande gewesen sein, als wir, die wir den Text mit kritischen Augen und Gedanken lesen.

Viel zu oft wird nicht reagiert, nichts gesagt, der Geschockte allein gelassen. Man wartet auf die Fachleute. Da gibt es später auch Therapeuten, die sich dessen annehmen... In meinen Augen ist es aber mutiger, sofort Hilfe zu leisten. Dem Toten ist nicht mehr zu helfen; dem Zugführer schon. Da ist man aber nicht in der Lage, die Worte sorgsam abzuwägen. Deshalb finde ich "alles Gute" in Ordnung. Was sonst hätte er sagen sollen? Vielleicht: es tut mir leid für Sie? Oder ihn umarmen. Wir sind der Zuwendung in solchen Situationen, glaube ich, sehr weit entfremdet. Deshalb unterlassen wir sie meist lieber, als etwas Falsches zu sagen, zu tun. Leider, kann ich nur sagen.

Diesen Moment der verbalen Zuwendung bringt der Text gut rüber.

Grüße von Elke



P.S.

Vorschlag: segnend, wenngleich reglos
 

Ohrenschützer

Mitglied
Der Reaktion zweiter Teil

... Fortsetzung ...

Was mich doch irritiert, ist der Eindruck der Effekthascherei, den Arthrys gewonnen hat. Wenig Text und viel Wirkung sagt für mich noch nichts über den Stil aus, und Effekthascherei ist für mich eine stilistische Bewertung. Ich denke, dass man wesentlich effektvoller und sagen wir undezenter erzählen könnte, über die anatomischen Details des Toten, Schweißperlen auf des Schaffners Stirn, Emotionsausbrüche, was auch immer. Mich hat viel mehr die Ästhetik dieses scheinbar still winkenden Arms bewegt, dieses Bild hat mich noch einige Tage verfolgt. Respekt und Ehrfurcht, wie Elke es ganz richtig herausliest.

Dieses Winken, das wie ein „memento mori“ Gruß aus dem Jenseits wirkte, unerwiderbar und auch nicht weitergebbar (daher auch die letzte Zeile). Um konkret auf den Einwand von Zeder zu antworten: Die letzte Zeile ergab sich aus der tatsächlichen Intention in der Realität, dem Lokführer über die größere Distanz (er befand sich weit oben im Führerstand der Lok) auch genau das visuelle Zeichen des Toten zu übermitteln, indem man einfach die Hand hebt – ein vollkommen aus dem Bauch entstandenes Bedürfnis, das dann nach kurzem Innehalten nicht umgesetzt wurde. Andererseits hätte man beinah seine Aufmerksamkeit nicht anders erhalten; auf Zuruf reagierte er nicht sogleich, fast hätte man sich auch seinen Blick auf sich ziehen müssen (indem man die Hand gehoben hätte). Mit hat die letzte Zeile deshalb gut gefallen, weil sie eine inhaltliche Klammer zur ersten Zeile bildet und auch ausdrückt „denn winken tut nur der, der nichts mehr sagen kann; vielleicht hätte der Tote sonst auch mir ‚Alles Gute‘ gewünscht“.

Damit schon zum nächsten Kritikpunkt, der Ausspruch „Alles Gute“, der tatsächlich so gefallen ist, und – so ungelenk er vielleicht jetzt im Nachhinein wirken mag – seinen Sinn an den Lokführer transportiert hat, soweit man dies seinem Gesichtsausdruck und dem „Danke“ entnehmen konnte. Und es war so gemeint: „… bei der Bewältigung dieses Erlebnisses.“
Und wenn Zeder meint: „Ganz ehrlich: Wer denkt in solch einer Situation daran, dem Lokführer für sein weiteres Lokführerdasein "alles Gute" zu wünschen?)“, dann sage ich: Meine Beste, die Ohrenschützerin; vielleicht auch, weil sie selbst einen starken visuellen Eindruck eines Toten vor Jahren nur schwer verarbeiten konnte.

Danke, Arthrys, für Deine Wünsche; ich denke, ich konnte es bis dato recht gut verarbeiten. Dieser Text ist ein Schritt dazu. Manchmal denke ich mir, dass es so besonders dann doch nicht ist. Außer dass der Tote ausgerechnet direkt unter unseren Füßen zu liegen kam.

Danke, Zeder, für die Textstelle „sehen“, die eine unschöne Wortwahl und noch dazu eine Wortwiederholung darstellt. Ich versuchte es mit: „Zu ergründen suchend“ und fand schließlich „Um herauszufinden“.

Danke, Elke, für Deine genaue Analyse, was Dir am Gedicht zusagt. Für mein Gefühl ist sehr viel von dem, was und wie ich es sagen wollte, bei Dir angekommen. (Ob Schaffner oder Lokführer ist für mich zweitrangig.) Wie Du richtig sagtest, kommt es real auf die Zwischentöne an, auch auf Nonverbales. Dies in geraffter Form auszudrücken, ist natürlich schwer. Umso schöner, dass es bei Dir angekommen ist. Danke auch für den Vorschlag zur Zeile zwei, ich ziehe dennoch meine Variante vor.

Beste Grüße,
 



 
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