Der Seufzer des Souffleurs

4,40 Stern(e) 5 Bewertungen

Zeder

Administrator
Teammitglied
Das Publikum in die Statisterie gezwungen,
bar jeder Anteilnahme,
die Münzen zählend in der hohlen Hand.

Das Stück getarnt als Mitspieltheater,
die Hauptdarsteller mit aufgeschminktem Lächeln
und jetzt : “Das Leid, das Leid, das Leid, das Leid.“

Und kein deus ex machina.
--------

Liebe Vera-Lena,

ich weiß, ich nehme dir einen Teil weg - es ist auch nur mein (Lese-)Vorschlag.
Ein gekonnt suggestiver Text!

Viele liebe Grüße von Zeder
 

Montgelas

Mitglied
liebe vera-lena,

der vorschlag von zeder ist bedenkenswert,
weil er konsequent in den
"theaterbildern" bleibt.
ein wirklich tiefgründiger text
ist dir da gelungen. wenn ich mal
mehr muse habe, komme ich unbedingt
darauf zurück.

bravo, da capo !

montgelas
 

Vera-Lena

Mitglied
Liebe Zeder,

danke für Deine Auseinandersetzung mit dem Text. Allerdings ist das Bühnenvolk in die Statisterie gezwungen, und nicht das Publikum. Dieser Unterscheid ist von Bedeutung.
Denen, die da eigentlich agieren sollten, bleibt kein Spielraum, keine Heldenrolle, kein längerer Text, sie stehen am Rande.
Das Publikum sind die Zuschauer, die angeblich aufgefordert sind mitzuspielen und das Geschehen, den Schluss des letzten Aktes angeblich beeinflussen könnten.

Diese beiden Dinge wollte ich im Text drin haben.

Ich wollte, dass man sich zwei Ebenen vorstellt: Die Bühne und den Zuschauerraum.

Es freut mich, dass Dich der Text anspricht.:)
Liebe Grüße von Vera-Lena
 

Vera-Lena

Mitglied
Lieber Montgelas,

auch mein Text bleibt konsequent in den "Theaterbildern".
Beim Theater heißt es sogar "Volk" bei Schlillers "Wilhelm Tell" zB, und wenn der Regisseur wünscht, dass die Statisten sich mit Lauten bemerkbar machen, dann bittet er um "Volksgemurmel" und die Schauspieler sprechen dann das Wort: "Rhabarber, Rhabarber, Rhabarber" natürlich nicht gemeinsam in einem Rhythmus, weil man dieses Wort im Publikum nicht verstehen kann.
Aber in meinem Text ist das Wort "Volk" dann noch doppeldeutig zu verstehen.
Danke für Dein Lob:)
Liebe Grüße von Vera-Lena
 

Montgelas

Mitglied
gedankensplitter

Im antiken Theater kam tatsächlich bei völlig ausweglosen Situationen ganz überraschend ein Gott aus der Theatermaschine, einer kranähnlichen Flugmaschine, die plötzlich auf die Bühne schwebte. Dieser konnte dann in die Geschicke der Menschen eingreifen und sie ganz nach Belieben retten oder verdammen.
(aus dem netz)


liebe vera-lena,

dein souffleur verleiht mit seinem seufzer seiner verzweiflung ausdruck, dass die mechanik des "deus ex machina" offenbar versagt.
das volk in die statisterie gezwungen ohne jeglichen aktionsradius, das publikum schaut, greift nicht ein in das geschehen, kennt nur zu gut das "mitspieltheater" als phrase oder ist auch nicht wirklich am schicksal des "volkes" interessiert. die hauptdarsteller, allesamt "geschminkt", maskiert schmettern den text in den raum: "des Leides...,

diesen text habe ich für mich dreimal deuten können.

- er bildet tatsächliches theater ab.
das publikum hat teuer bezahlt, die statisterie,
will endlich den bühnenraum betreten,
nach dem die hauptdarsteller ihren text gesprochen haben,
aber die technik versagt, „deus ex machina“ senkt sich nicht hernieder. der souffleur verzweifelt, weil weit und breit kein kran zusehen...
die vorstellung droht an dieser techn. panne zu platzen.

- er spiegelt eine aktuelle gesellschaftliche realität, wie wir sie derzeit kennen. die betroffenen (statisten) haben keinen handlungspielraum, die voyeure(publikum)
neugierig und befremdet, denken überhaupt nicht daran ins geschehen einzugreifen. während im osten tausende auf die strasse gehen, wird hier im westen über tv ruhig und distanziert, das eigene geld zählend , zugeschaut.
nahezu verhöhnend heucheln die hauptdarsteller(journalisten, politiker, pfarrer u.a. diverse) mitleid.

und niemand da der korrigiert, partei ergreift, seufzt der souffleur.

- die frage nach einem aktiven gott, der das publikum aus seinem desinteresse herausreißt, dem volk seinen platz gewährt und heuchler jedweder art in die schranken weist, lässt deinen mitfühlenden "souffleur" seufzen.
in dieser sehweise verliert dein text seinen aktuellen bezug zwar nicht, weist aber weit ins allgemeine unserer menschl. existenz hinaus.
antigone und iphigenie, die zwei schwestern der humanität und wahrhaftigkeit, hatten immer hilfe in ihren göttern. der moderne mensch stattdessen zur statisterie verurteilt, als publikum bestochen, imaginiert sich hauptdarsteller, deren heuchelnde monotonie nur von fern an das antike theater erinnern. nirgendwo katharsis.
beckett regiert allerorten.

aber hoffnung auf veränderung ist immer dort,
wo gedanken in handlungen sich niederschlagen.
einen text zu schreiben, der sehr dicht eine zustandsbeschreibung allgemeiner menschl. existenz ausdrückt und damit in lesern nachdenken auslöst
ist eine solche handlung,

die hoffen lässt,

meint

montgelas
 

Dorothea

Mitglied
Wer ist nur Publikum und wer Akteur?

Hallo Vera-Lena,

auch mir gefällt der Text ausnehmend gut, und er überragt Vieles, was hier an Fingerübungen (auch von mir) präsentiert wird. Darum will ich auch nicht rummäkeln.
Nur eine Frage stellt sich mir. So klar, wie im Text behauptet, sind wohl Akteure nicht vom Publikum geschieden beim Lebenstheater!
LG.
 

Vera-Lena

Mitglied
Lieber Montgelas,

da hast Du ja meinen Text hin und her gewendet und beleuchtet, wie man sich das als Autor nur wünschen kann.

Ja, der antike Mensch glaubte, dass er selbst keinerlei Handlungsspielraum habe, sondern dem unterworfen sei, was die Götter über ihn bestimmt haben. Und so ist es ganz folgerichtig, dass dann auf der Bühne die Gottheit in aller Schlichtheit auftauchen konnte, um dem Menschen ganz faktisch und praktisch aus seinen Schwierigkeiten heraus zu helfen.

Der moderne Mensch hat sich von allem Göttlichen herausgelöst und meint die Schwierigkeiten auf eigene Faust lösen zu können.
Wenn man das als Souffleur mit ansehen muss, wie da Leid produziert wird anstatt Leid zu lindern, wie man den eingeübten Text den Darstellern zuflüstern muss, obgleich man weiß, das er das Stück keiner Lösung zutreibt, weder Katharsis noch einen akzeptablen Aktschluss herbeiführen kann, dann bleibt nichts als ein Seufzer.
Und auch der Trick mit dem Mitspieltheater funktioniert nicht, weil das Publikum aus den Erfahrungen all solcher
Spiele weiß, dass zwar Vorschläge angenommen werden, aber dann wieder in eine längst vorgedachte Richtung umgeleitet werden. Und so denkt sich jeder bei dem Ganzen:"Hauptsache mich trifft es nicht." Und er überblickt mal eben, was ihm das Leben bis jetzt geschenkt hat und hofft, es zu behalten.
Die Hauptdarsteller, Fädenzieher, können die eigene Ratlosigkeit nur noch durch Schminke übertünchen.
Ich denke viele Ereignisse, die sich zur Zeit in der Welt zutragen sind so geprägt.
Die Verfahrenheit der Situationen ist durch menschliche Schwäche entstanden: Engstirnigkeit, Gleichgültigkeit, Habgier, was auch immer. Aber dem Menschlichen wohnen auch die andren Seiten inne: Erbarmen, Güte, Weitsicht ein gewisses Maß an Selbstlosigkeit und vieles mehr.
Der Soffleur hofft auf den Gott der plötzlich aus der Versenkung auftaucht vergeblich, gewiß, aber durch sein langes Bühnenleben weiß er, wozu der Mensch eigentlich fähig ist, und dass er die Kraft besitzt, sich mit dem Göttlichen innerhelb seines Selbst wieder zu verbinden, und deshalb geht dieser Seufzer für ihn nicht wirklich ins Leere.

Lieber Montgelas, das ist der längste Text, den ich bisher als Antwort auf eine Interpretation geschrieben habe, aber Du hast mich so sehr bestärkt, in dem was mein Gedicht beinhaltet, dass ich Dir das nun auch deutlich unterbreiten wollte.
Ich danke Dir ganz herzlich.
Wenn ich mich mit dem Souffleur identifiziere, dann ist mein Herz zur Hälfte voller Trauer und zur anderen Hälfte voller Hoffnung.
Und ich freue mich, dass auch Du das Wort Hoffnung zum Schluss verwendest.
Ganz liebe Grüße von Vera-Lena
 

Vera-Lena

Mitglied
Liebe Dorothea,

danke für Deine lieben Zeilen.:) Ja, genau so ist es, hier bilden Bühne und Zuschauerraum zusammen das ganze Lebensterrain ab, so hatte ich es gemeint.
Heute kann sich auch niemend mehr herausreden:"Das habe ich nicht gewußt". Die Welt ist nun nicht gerade durchsichtig aber doch um einiges transparenter geworden, und dadurch ist die Verantwortlichkeit eines jeden um einiges gewachsen.

Liebe Grüße von Vera-Lena
 

Montgelas

Mitglied
"Lesen, indes der weiße Flügelschlag
Der Zeit uns streift,
ist das nicht Seligkeit ?
Freunde zu haben, die von fern her
zu uns kommen,
ist das nicht Freude ?"

(Ezra Pound)


liebe vera-lena,

für deine aufmerksame antwort,
vielen dank !

montgelas
 



 
Oben Unten