Der Sinn des Lebens

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Rumpelsstilzchen

Foren-Redakteur
Teammitglied
Die Anschnallzeichen erloschen und Hansen stieß mit einem wohligen Seufzer die Lehne zurück. Was für ein Auftrag! Zweihundertachtzigtausend!
"Hallo, Sie! Das geht aber nicht!"
Er entschied, den wütenden Aufschrei seines Hintermannes einfach zu überhören und klemmte seine Füße unter den Vordersitz. Die gesamte Inneneinrichtung der neuen Stuttgarter Firmenzentrale sollten sie liefern. Gabotti konnte verdammt zufrieden sein. Hansen unterdrückte ein Gähnen und warf einen Blick auf das Sportchronometer an seinem Handgelenk. Seit gestern früh sechs Uhr war er auf den Beinen. Das waren jetzt... Neununddreißig Stunden. Die Überarbeitung des Angebots hatte ihn den Schlaf der vergangenen Nacht gekostet. Steinmeiers "Kalkulation"! Auf Hansens Stirn bildete sich eine steile Falte und verschwand wieder. Aus den Bordlautsprechern plärrte ein ausgenudeltes Band unverständliche Sicherheitsinstruktionen. Eine schon etwas angejahrte Brünette hatte sich neben ihm im Mittelgang aufgebaut und gab die Hampelshow mit Schwimmweste und Sauerstoffmaske. Na ja. Immer noch besser, als das gegelte Bübchen, das vor der Cockpittür hampelte. Hansen gähnte. Trotzdem, die Borddamen waren auch nicht mehr das, was sie mal waren. Wurden die eigentlich erst mit den Maschinen ausgemustert? Wenn sie wenigstens wie die Jets regelmäßig generalüberholt würden... Seine Lider sanken herab.

Wie Schweinehälften in blauer Uniform hingen sie in langen Reihen in dem riesigen Hangar. Von Zeit zu Zeit ging eine Welle der Bewegung durch die Körper, wenn die Montagebahn zur nächsten Reparaturstation vorrückte, wo vielleicht ein blindes Auge oder abgedrehter Arm erneuert wurde. Hatten sie die eine Seite des Hangars erreicht, schwangen sie herum und wurden in Gegenrichtung weiter getragen, bekamen je nach Bedarf ein frisches Gesicht aufgedampft oder die Krampfadern gezogen. Alles vollautomatisch.
Er versuchte durch die wogenden Leiber das Ende der Bahn auszumachen. Dorthin musste er. Wo die Endkontrolle stattfand, würde er das Gesuchte finden. Hansen schlüpfte durch baumelnden Reihen. Wenn sie vorruckten, hielt er an, denn er durfte keinesfalls den Ablauf stören.
Der Rhythmus wurde schneller, unregelmäßiger, Hansen konnte sich jetzt oft nur mit einem Sprung oder abrupten Halt vor dem Zusammenprall retten. Angst hängte sich bleischwer an seine Beine, aber das Verlangen trieb ihn voran.
Mit einem Mal verharrte der Zug der Leiber. Hansen wartete. Endlos schwangen sie nach, langsam sachter, hingen schließlich still. Er wagte den Schritt hindurch. Noch eine Reihe. Die nächste. Er begann zu rennen, auf den Ausgang zu, den er manchmal in der Ferne zu sehen glaubte.
Hansen spürte eine Bewegung hinter sich und wandte sich im Laufen um. Der nächste Körper traf ihn mit Wucht.

"EntschuldigenSiebitteestutmirschrecklichleidichhabedasGleichgewicht verloren." Der Wortschwall stank nach Zwiebeln und Zahnfäule.
Hansen blinzelte. Sein rechter Oberschenkel protestierte kribbelnd gegen den Druck der fleischigen Hand, als sich sein Sitznachbar umständlich zurück auf seinen Fensterplatz schob.
"Ich wollte nur meine Tasche..." Er deutete vage über Hansens Kopf und stemmte sich noch einmal halb in die Höhe, zerrte die Gurte hervor, dann sackte er sichtlich erschöpft zurück und lächelte Hansen hilflos an.
"Wie sieht sie aus?" hörte Hansen sich gegen seinen Willen sagen. Seine Beine stellten sich taub, als er aufstand.
"Oh, das ist nett! Rot. Eine rote Leinentasche."
Er öffnete das Gepäckfach und zog die erstbeste rote Tasche heraus.
"Ja, genau!" Eifrig griff sein Nachbar danach. Hansen ließ sich zurück auf seinen Sitz fallen. Der Versuch, mit den Zehen zu wackeln, misslang.

"Brotmüller." Mit einem überdimensionalen Taschentuch tupfte Brotmüller über das schweißglänzende Gesicht und die Leberflecken seiner Halbglatze, stopfte es zurück in die Innentasche seines Sakkos und streckte ihm die Hand entgegen.
"Hansen." Hastig ließ er die kleinen feuchtwarmen Weißwürste wieder los. Hansen schielte über die Sitzkante, um zu sehen, ob seine Füße noch da waren.
"Sie sind sicher sehr aufgeregt, nicht wahr?"
Hansen schob seine Hände unter die Schenkel, hievte seine Beine ein wenig in die Höhe und ließ los. Seine Füße beantworteten den Aufprall mit einem dumpfen Summen. „Eher müde.“ Er wiederholte das Manöver. Das Summen steigerte sich zu einem Brummen.
„Ich jedenfalls wäre das“, versicherte Brotmüller. „Aber sie sind ja Profi.“
Hansen antwortete nicht. Abwechselnd umfasste er seine Knie und stuckte die Füße gegen den Kabinenboden. Seine Waden begannen spitze Schreie auszustoßen.

„Ihre Tarnung finde ich übrigens perfekt.“
„Welche Tarnung? Meine Beine sind eingeschlafen.“ Er sah auf.
Brotmüller saß halb gegen das Kabinenfenster gelehnt und zwinkerte ihm verschwörerisch zu. „Schon gut.“ Er beugte sich vor und flüsterte: „Ich weiß Bescheid. Oder meinen Sie, ich hätte zufällig 17D? Wenn schon, denn schon. Hautnah.“ Brotmüller grinste triumphierend. „Ein kleines Bakschisch für den Eventleiter wirkt manchmal Wunder.“ Das Grinsen erstarb und er kniff sich in die Wange. „Leider hat es dann nur noch für dieses Kostüm gereicht.“ Er sah eine Weile bekümmert vor sich hin. Plötzlich lehnte er sich mit einem listigen Schmunzeln zurück. „ Aber die anderen sind auch nicht viel besser. Wissen Sie, eigentlich bin ich ja anerkannter Xenophobiker. Siebzig Prozent Handikap stehen in meinem Ausweis.“ Er zog bedeutungsvoll die spärlichen Brauen in die Höhe. „Siebzig Prozent! Ohne die Immunisierung könnte ich es hier nicht eine Sekunde aushalten. War übrigens im Reisepreis enthalten. All inclusive.“ Er nickte zufrieden.

Hansen beschloss, seine Beine zu ihrem Glück zu zwingen. „Ich muss mir ein wenig die Füße vertreten.“ Überraschenderweise gehorchten ihm die tauben Klötze, auch wenn er nur ein weißes Rauschen von ihnen empfing. Die Nackenwirbel knackten, als er im Gang seine Einsfünfundneunzig aufrichtete. Behutsam drehte er den Kopf nach rechts und links und rollte die Schultern. Die meisten anderen Passagiere schienen zu dösen, nur einige Workaholics traktierten ihre Laptops. Aus der Bordküche am hinteren Ende der Maschine tauchte ein Steward mit dem Servicewagen auf, gefolgt von der Brünetten.
„Geht's los?“
Hansen nickte abwesend. Die vorderen Toiletten waren belegt und nach hinten konnte er jetzt nicht. Aber er spürte seine Füße wieder. Mit durchgedrückten Knien stützte er die Hände gegen die Gepäckablage. Als der Wagen näher rückte, faltete Hansen sich zurück in seinen Sitz.
„Wieso setzen Sie sich wieder? Ich denke, es geht los?“ Brotmüllers Wangen zitterten entrüstet. „Laut meinem Programmheft müssen Sie um zweiundzwanziguhrfünfundvierzig fertig sein. Jetzt ist es einundzwanziguhrachtunddreißig und Sie haben noch nicht einmal angefangen!“
Hansen kniff die Lider zusammen und atmete geräuschvoll aus. Vielleicht sollte er den restlichen Flug besser auf dem Toilettendeckel hinter sich bringen. Er wies mit dem Daumen Richtung Heck. „Kommen schon.“
„Wer kommt?“ Erfolglos versuchte Brotmüller über die Rückenlehnen nach hinten zu sehen.
„Bordservice.“
Der Fausthieb auf seinem Oberarm ließ Hansen auffahren. Brotmüllers Schweinsaugen leuchteten ihn bewundernd an. „Raffiniert. Ich sag's ja, Sie sind ein Profi! Ich hab' mich schon gefragt, wie Sie mit der Waffe durch die Kontrollen gekommen sind.“ Kopfschüttelnd kicherte er leise in sich hinein und tätschelte Hansens Oberschenkel. „Auf den Caterdienst wäre ich nie gekommen.“

Es reichte.
Hansen packte Brotmüller am Revers und zog ihn heran. „Hören Sie, ich habe weder eine Waffe, noch die geringste Lust mir Ihr schwachsinniges Gequatsche länger anzuhören. Entweder halten Sie ab sofort Ihre Laberbacken dicht oder ich setze Sie persönlich an die Höhenluft.“
Die Augen des Dicken zuckten ängstlich hin und her. „Ich... schon gut. Ich sag ja schon gar nichts mehr.“
Hansen ließ los und lehnte sich mit demonstrativ geschlossenen Augen zurück.

„Ich werde mich beim Veranstalter beschweren. So springt man mit mir nicht um.“
Hansen öffnete das rechte Auge einen Spalt und schielte zu Seite. Brotmüller hatte sich an das Fenster gedrückt und schimpfte leise in die Schwärze hinaus. Er drehte kurz den Kopf, um Hansen einen bösen Blick zuzuwerfen. „Auch kein Rashid Muawad. Ich bin zahlender ...“ Das Rumpeln des näherrollenden Trollis übertönte seine Schimpftirade.
„Kaffee oder Tee?“
„Ja bitte.“
„Kaffee oder Tee?“
Hansen sah verwirrt auf. Die Brünette lächelte geduldig auf ihn herab.
Sie wirkte mit der dunkelblaue Bordschürze so mütterlich, dass er automatisch zurück lächelte. „Tee bitte.“ Er klappte seinen Tisch heraus und nahm den Plastikbecher entgegen, den sie ihm mit einer Papierserviette reichte.
„Und Sie?“ wandte sie sich an seinen Sitznachbarn.
„Nichts, danke“, schnappte Brotmüller. „Außerdem wissen Sie ganz genau, dass mein Metabolismus die hiesigen Getränke nicht verträgt.“
Beinahe hätte Hansen seinen ersten Schluck in den Becher zurück gespuckt. Der Typ gehörte in die Klapse! Gemeingefährlich. Eine Gefahr für die Luftfahrt. Hastig nahm er noch einen Schluck und stellte den leeren Becher in die Vertiefung des Tisches. Er warf einen vorsichtigen Blick auf den Irren neben sich, der noch immer beleidigt zum Fenster hinaus stierte, zog seinen Kugelschreiber aus dem Timer und strich die Serviette glatt.

Mein Platznachbar hat ernst zunehmende Andeutungen über eine geplante Flugzeugentführung gemacht!
Er scheint darin verwickelt zu sein, bitte unternehmen Sie etwas!!!


Er überlas das Geschriebene noch einmal, setzte in großen Druckbuchstaben ein '17D' darunter und beugte sich in den Gang. Das Einsammeln des Leergutes hatte begonnen. Seine Mundwinkel zuckten. Er sah den schlabberigen Fettsack schon vor sich, wie er in Rom von einem Trupp Spezialisten der Antiterroreinheit in voller Kampfausrüstung aus der Maschine geholt wird.
Hastig schrieb er auf die Rückseite ein großes „WARNUNG“ und darunter „HILFE“, schließlich unterstrich er beide Worte mehrmals.

Die Brünette schob sich rückwärts neben ihn, blieb stehen und griff nach dem Plastikbecher, den er ihr hinhielt. Als er nicht gleich los ließ, sah sie ihn verdutzt an. Hansen nickte ernst und reichte ihr die Serviette.
Sie warf einen Blick darauf.
Für einen winzigen Moment flackerte ihr Lächeln. Dann steckte sie die Serviette in die Schürzentasche, nickte zurück und wandte sich zur gegenüberliegenden Seite: „Darf ich Ihre Tasse haben, bitte? Danke sehr, möchten Sie einen Fruchtbonbon?“
Hansen betrachtete anerkennend ihr Hinterteil. Er hatte etwas übrig für Leute, die ihren Job verstanden. Und der Arsch sah eigentlich auch nicht so schlecht aus für ihr Alter. Der Wagen quietschte weiter und er wandte den Kopf, um nach seinem Nachbarn zu sehen. Der Sitz war leer.

Hansen spürte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten. Der Dicke konnte unmöglich unbemerkt seinem Platz verlassen haben! Sein Blick glitt suchend in den Fußraum, wo der rote Leinenbeutel einsam zurück geblieben war.
„Herr Hansen?“
Er schreckte herum. Vor ihm stand die Brünette, jetzt wieder ohne Schürze.
„Würden Sie bitte für einen Moment mit mir kommen?“ Ihr Lächeln wirkte nervös; auf ihrem Gesicht glänzte einen leichter Schweißfilm im schwachen Licht der inzwischen abgedimmten Deckenleuchten.
„Selbstverständlich.“
Sie trat hastig einen Schritt zurück, als er sich aus dem Sitz wand und deutete auf den verschlossenen Vorhang am Ende des Ganges. „Bitte.“
Niemand beachtete sie, während sie nach hinten gingen. Die wenigen Passagiere, an denen sie vorbei kamen, schienen zu schlafen. Hansens runzelte irritiert die Stirn. Waren sie nicht voll besetzt gestartet?

„Herr Hansen, ich will nicht lange herum reden, die Zeit ist knapp.“ Der Steward hatte den Vorhang hinter ihnen wieder zugezogen und sah ihn durchdringend an. Er wirkte beherrscht im Vergleich zu seiner älteren Kollegin, die ihr mühsam aufrecht erhaltenes Lächeln verloren hatte und mit aufgerissenen Augen von einem zum anderen sah. „Wir brauchen Ihre Hilfe.“ Die stahlgrauen Augen in dem unbewegten Gesicht hielten Hansen fest; nur an seiner Schläfe zuckte ein Muskel.
„Ich...“ Hansen räusperte sich. Sein Blick wanderte an den Einschubkästen hinter dem Steward herab. In was für einen Schlamassel hatte er sich da nur reingeritten? Schlagartig wurde ihm bewusst, dass er mit seinem idiotischen Einfall eine lebenslängliche Flugsperre riskierte. Gefährlicher Eingriff in die Luftsicherheit. Als selbstständiger Handelsvertreter wäre er erledigt. Er beschloss, die Flucht nach vorn anzutreten. „Es war ein dummer Scherz. Nichts weiter.“ Er sah auf und grinste die Brünette schief an. „Es tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe und Ihnen Unannehmlichkeiten bereite.“
Da sie keinerlei Anzeichen der Erleichterung zeigte, wandte er sich dem Steward zu. „Nichts passiert, verstehen Sie?“ Hansen lachte unsicher auf. „Außer, dass dieser Brotmüller verschwunden ist. Einfach so. Weg. Puff!“ Demonstrativ warf er die Hände hoch.
„Er wurde bereits mit den anderen evakuiert.“
Hansen blinzelte den Steward verwirrt an.
„Evakuiert? Aber wie...“
„Das spielt jetzt keine Rolle. Haben Sie eine Waffe?“
„Natürlich ni...“ Fast hätte er die Automatikpistole fallen gelassen, die ihm der Steward in die Hand drückte.
„Was soll ich damit? Ich kann mit so einem Ding überhaupt nicht umgehen!“ Hansen stolperte zurück, als die Maschine sich abrupt zum Sinkflug neigte.
„Sie müssen nicht schießen, die Piloten sind betäubt. Nur ein wenig herumfuchteln. So, dass es durch die Cockpitfenster gut zu sehen ist.“ Mit einer einladenden Armbewegung deutete der Steward nach vorn. „nach Ihnen.“
Mechanisch drehte Hansen sich um und tappte in den Gang.
„Es ist eine Schlüsselszene.“ Der Steward schob ihn vorwärts. „Der ganze weitere Spielverlauf hängt davon ab.“
Hansen wandte den Kopf und zwinkerte verwirrt. „Was für ein Spiel? Bitte, ich...“ Er stieß gegen eine Lehne, etwas polterte dumpf auf den Kabinenboden.Er fuhr herum. „Entschuldigung.“ Die Frau auf dem Gangsitz schlief mit herab gesunkenem Kopf weiter, ohne den zwischen ihren Füßen hochkant und halb aufgeklappt stehenden Laptop zu beachten.
Ein harter Griff stieß ihn vorwärts. „Weiter. Wir haben nicht mehr viel Zeit, die Staffel sollte schon aufgestiegen sein.“
Sie erreichten die Cockpittür und der Steward langte an ihm vorbei, um sie aufzuziehen. „Rein mit Ihnen.“ Er schob Hansen hinter die Pilotensessel, in denen die bewusstlose Cockpitbesatzung lag und wollte die Tür wieder schließen.
„Halt!“ Es war der Anblick des Speichelfadens, der dem ohnmächtigen Flugkapitän aus dem Mundwinkel hing, der Hansen in die Wirklichkeit zurück katapultierte. Blitzschnell stellte er sein Bein in die Türöffnung und die scharfe Kante des Türblattes prallte schmerzhaft gegen sein Knie. „Lassen Sie den Quatsch.“ Der Steward klang verärgert. Hansens Fuß explodierte, als das volle Gewicht des Gegners in einem Absatz konzentriert auf seinen Spann traf. Er wimmerte, hielt aber stand.
„Das Bein weg!“ Die Türkante wich zurück, um erneut gegen sein Knie zu knallen. „In dreieinhalb Minuten werden wir in der Kuppel des Petersdoms einschlagen.“ Täuschte er sich, oder schwang in dem Befehl leichte Panik? Er warf einen Blick über die Schulter auf die Instrumententafel. Es schien ihm beruhigend normal auszusehen, viel Grün, nichts blinkte um Aufmerksamkeit. Die Steuer bewegten sich gemächlich nach der Regie des Autopiloten. Der Schmerz in seinem Bein war einer wohltuenden Taubheit gewichen, durch die gerade noch dumpf die Stöße und Tritte des Stewards zu ihm drangen. Sein Blick irrte über das Wirrwarr der Anzeigen und Bedienelemente. Er zuckte die Achseln. Etwas über drei Minuten hatte er noch. Er war Kaufmann, kein Pilot. Es ließ ihn seltsam gleichgültig. Wenn er nur wüsste...
„Warum?“
Die Stöße setzten aus.
„Der Paneuropäische Kreuzzug!“ Der Steward schöpfte nach Atem und lehnte sich gegen den Türrahmen. „Mit dem Absturz dieser Maschine in den Petersdom startet Level Neun. Der große Kreuzug gegen die terroristischen Islamisten.“ Er schnalzte mit dem Daumen. „DER Renner für die nächste Spielesaison.“ Die Begeisterung in seiner Stimme verschwand so schnell wieder, wie sie gekommen war. „Und Du machst es kaputt. MEIN Spiel!“ Mit neuer Wut trat er gegen Hansens Schienbein. „Ich bin der Programmierer! Kapierst Du, dämlicher Algorithmus? Ich bin Dein Schöpfer!“
Er trat den Takt der Worte gegen das Bein, was Hansen einmal gehört haben mochte, wie dieser sich zu erinnern glaubte. Eine Spielfigur? Er? Er war Hansen, Handelsvertreter für Büroeinrichtungen, ein Mensch. Er träumte sogar. Von Stewardessen. Sein leichtes Lächeln verschwand hinter Stirnrunzeln. Sein Vorname. Wie, zum Teufel hieß er mit Vornamen? „Die anderen Passagiere. Der Dicke neben mir.“ Er schluckte trocken. „Wohin...“
„Betatester. Wurden schon ausgeklinkt.“ Sein Schöpfer hielt inne. „Nur meine Assistentin und ich sind noch da.“
Hinter ihm tauchte die atemlose Gestalt der Stewardess auf. „Wir müssen raus, Chef! Zwanzig Sekunden bis Einschlag.“
„Zeig' Dich am Fenster!“ Die Stimme des Stewards überschlug sich. „Die Waffe! Die Jäger müssen die Knarre sehen!“
„Chef!“
Plötzlich schwang die Tür vor Hansen frei auf. Er war allein. Er sah auf die Waffe herab, die seine Rechte noch immer umklammert hielt. Er zog das Bein zurück. Er ignorierte den scharfen Stich in seinem Schenkel und straffte sich. Er sah aus dem Fenster. Keine fünfzig Meter neben ihm flog ein Abfangjäger. Er winkte mit den Tragflächen. Hansen hob die Waffe.
 

wando

Mitglied
Hi Rumpelstilzchen,

gefällt mir wahnsinnig gut, habe den Text morgens um 5.30 gelesen, bevor ich in die Arbeit musste, konnte nicht aufhören.
Klasse!

Gruß wando
 

Amadis

Mitglied
hi rumpel,

gefällt mir insgesamt gut: spannender plot, gute pointe und handwerklich top. was mir nicht einleuchtet ist die sache mit dem metabolismus, der die örtlichen getränke nicht verträgt. an dieser stelle habe ich auf zeitreisende aliens getippt, die auf der erde als katastrophentouristen unterwegs sind. auch das verhalten des "betatesters" ist etwas merkwürdig. er muss doch wissen, dass ein einfacher "algorithmus" seinen status nicht kennen kann. auch die anspielungen auf eine reisebuchung passen nicht recht zu einem computerspiel, wenn auch extrem interaktiv. hier macht die geschichte auf mich den eindruck, dass du zunächst auf eine andere pointe hinauswolltest und dann umgeschwenkt bist.

grüße
mike
 

Rumpelsstilzchen

Foren-Redakteur
Teammitglied
So nette Ovationen für diesen abgehangenen Schinken! Danke dafür, auch wenn es mir ein wenig peinlich ist, bei diesem holprig angeklatschten Schluss.

Amadis, Du hast den Finger in die Wunde gelegt: tatsächlich schlummerte der Text bis zu dem Moment, wo Hansen mit dem Steward die Bordküche verläßt, nahezu ein Jahr auf meiner Festplatte. War allerdings ein unruhiger Schlaf; immer wieder warf er sich auf meinen Bildschirm, so sehnte er sich nach einem Ende. Gestern nun war es so weit. Ich warf das Ruder um, wagte eine Halse und kreuzte ins Ziel. Endlich angelandet, warf ich ihn auch gleich auf die Wiese, ehe ich erschöpft in meine Hängematte kroch.

Jetzt bin ich garnicht mehr zufrieden. Weil die Konsistenz bei meinem Wendemanöver über Bord ging. Du hast das gleich richtig erkannt.

Teufel auch, man sollte seine Leser nie unterschätzen! Jetzt muss ich wohl noch einmal ran. Oder zweimal. Mir schwant nämlich, es werden zwei Varianten werden...

Schwand tief geneigt, doch ungebeugt
 

jon

Mitglied
Teammitglied
… wenn du noch mal drüber gehst: Die eingeschobene Szene vorn mit den "Schweinehälften" ist wohl ein Überbleibsel aus den Anfangszeiten des Textes. Irrritierend waren auch (auch wegen der "agbekoppelten Szene") die Leerzeilen-Kapitel. (Ich weiß: Die Lesbarkeit am Monitor – aber mit "Eckklammer Leerzeichen ZahlDerLehrzeichen Eckklammer" am Absatzanfang kann man einrücken, das macht viel aus.)
 

Rumpelsstilzchen

Foren-Redakteur
Teammitglied
Danke Jon,

für die Müllentsorgung. Beim Copy ist irgendwie die Paste verschmiert; ein Textteil fehlte, dafür hing am Ende noch einmal ein ordentliches Stück vom Text dran. Als ein Reparaturversuch nur noch mehr Chaos anrichtete, entschloss ich mich zur Löschung und Neueinstellung. Die Leiche ließ ich natürlich auf der Wiese liegen.

Auf die Schweinehälften mag ich irgendwie nicht verzichten. Der Traum ist so schön schräg, dass mein Sentiment sich mit aller Gewalt dagegen stemmt, ihn einfach zu streichen. Dabei bringt er die Story nicht einen Fatz weiter!

Es sei denn...

Voll Grundgedankengrübel wankte er ins Textverrenkerstübel
 
P

Pete

Gast
Matrix Reformatted!

Eine schöne Plotentwicklung, hin zur Pointe. Du thematisierst für mich die Angst, das eigene Leben könnte nur eine unwichtige Statistenrolle sein, der Sinn homöopatisch dosiert.

Dein Protagonist hat sich die Begegnung mit seinem Schöpfer sicherlich romantischer vorgestellt.

Grüße

Pete
 



 
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