Der Sommermann

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Frank Zimmermann

Junior Mitglied
DER SOMMERMANN
Er schreckte auf, der nachrichtenankündigende Pieps des Radios hatte ihn geweckt. Er war auf dem Balkon in der Sonne eingeschlafen. Sein T-Shirt klebte an seinem Körper. Er lauschte auf die Stimme des Nachrichtensprechers, es gab nichts, außer den üblichen Toten und sonstigen Weltkatastrophen. "Different day, same shit" dachte er und wollte gerade wieder in seine Traumwelt fliehen, als ihn das Ende des Wetterberichts aufschrecken ließ: "...mit -2 bis +3 Grad weiterhin kühl." "Ja spinn' ich denn?" "Wir haben August mit Hochsommerwetter und der labert so eine Scheiße, ist der Typ denn total bekifft?" Nur um sich selbst zu beruhigen schaltete er den Fernseher ein, den Nachrichtenkanal: ein Bericht über einen Flugzeugabsturz, eine Revolution in einer Bananenrepublik, dann ... ein Bericht über das Vorweihnachtsgeschäft. Sein Blut begann zu pulsieren, Hitz e schwallte in ihm auf, das konnte doch nicht wahr sein. Er stürmte zurück auf den Balkon: friedliche Sommerstille, seine Geranien blühten noch, er war also nicht verrückt! Gott sei Dank! Aber wie kam es dann zu diesen absurden Nachrichten. Er schlüpfte in seine italienischen Slipper und verließ ohne Socken und Jacke das Haus, um vielleicht so etwas zu erfahren. Auf der menschenleeren Straße wandte er sich Richtung Supermarkt. Die Gegend war wie ausgestorben. Sonst waren die Straßen sonntags nachmittags voll von Spaziergängern und Fahrradfahrern, die ihren freien Nachmittag genossen, doch heute, keine Seele.
Das Supermarkt-Schaufenster gab ihm den Rest. Schokoladenweihnachtsmänner, Lebkuchen und andere saisonbedingte Waren wurden dort ausgestellt. Wie von Sinnen rannte er über die leere Straße, ein Stück die von kahlen Bäumen gesäumte Allee entlang, auf das nä chste Haus zu. Dort klingelte er Sturm, bis ihm eine ältere Frau in langer Hose und mit einer dicken Strickjacke bekleidet die Tür öffnete: "Ja bitte?" "Welche Jahreszeit haben wir?" bestürmte er die verstörte Alte. "Winter mein Herr,... sie holen sich ja den Tod in ihren dünnen Sachen, gehen sie lieber nach Hause und ziehen sich wärmer an." Die Türe schloß sich vor seiner Nase. Die Frau fand diesen verwirrten Überraschungsauftritt wohl unheimlich und wollte lieber nicht riskieren, daß er am Ende noch in ihrer Wohnung landete.
"Ihr seid ja alle wahnsinnig!", schrie er das Haus an, "wir haben 30 Grad im Schatten, es ist heiß, es ist verdammt noch mal Sommer, ihr Idioten, ihr total kranken Psychopathen!"
Sie fanden ihn am Montag Morgen zwei Straßen von seiner Wohnung entfernt. Er lag zusammengekrümmt auf dem Bürgersteig. Seine nackten Arme waren ganz blau und seine offenen, starrenden Augen waren vom Nachtfrost befroren. Als sie bei der Autopsie seine starre linke Hand unter lautem Knacken öffneten, fanden sie darin eine Geranienblüte.


(Übernommen aus der 'Alten Leselupe'.
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