Der Sonntag

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animus

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Es ist Sonntag, die Tür geht auf
Schwester Judith bringt mir meine Pillen
„Wann darf ich wieder raus?“
sie sagt: „Heute nicht.“
Ich schlucke die bittere Pille
das Thermometer bohrt sich in mich hinein
die Bettdecke wird zu recht gemacht
Judith´s kalte Hände wechseln das Verband
„Heute ist Sonntag, meine Eltern kommen“
„Ja, heute werden viele Eltern kommen.“
Schwester Judith schließt mich wieder ein
„Heute ist Sonntag, meine Eltern kommen.“
die Bettdecke wieder zerknüllt
die Pille hat einen üblen Nachgeschmack
weißes Gitter vor dem Gesicht
die kleine Hände halten es fest
die Gitterstäbe und ich werden eins
schaue erwartungsvoll aus dem Fenster
schaue mir die Welt von hier an
die Brücke über dem blauen Wasser
frei sind die Vögel unter den Brückenträgern
frei ist das Wasser in seinem Bett
ob das Wasser kalt wie die Gitterstäbe?
Es hält nicht meine Eltern von mir ab
„Da, das Auto, die Farbe stimmt, sie kommen!“
das kleine Herz schlägt schneller
„Warten“ heißt der neue Feind
die Tür geht auf
Schwester Judith mit der Abendspritze
„Heute ist Sonntag, meine Eltern kommen.“
„Da, das Auto, die Farbe stimmt, sie kommen!“
Schwester Judith lässt mir keine Ruhe
drückt die Flüssigkeit in mich hinein
blickt kurz zur Brücke
„Heute sind viele Eltern gekommen.“
Judith geht und schließt mich wieder ein
warten heißt der ärgster Feind
zu ihm gesellt sich die Trauer
die Sonne beendet ihre Tagesrunde
der Mond zieht sich zur Arbeit an
das Mondlicht erfasst die leere Brücke
die freien Vögel fliegen eilend heim
mein Gemüt streift ein Schatten
„Wo sind sie geblieben?“
Die Wunde schmerzt
die Tür geht auf
die Traurigkeit kommt herein
die kleinen Finger am Gitter werden steif
Feuchtigkeit trübt mein Blick
kleine Tropfen fallen
auf das Gitter und meine kleine Hände
 



 
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