Der Souffleur

Als Hans-Dietrich Krause heute Morgen aus dem Knast zurückkam, wusste er, dass jener ein Mann war. Vorher hätte sie auch eine Souffleuse sein können. Jedenfalls flüsterte ihm vor wenigen Stunden noch eine überzeugend klingende Stimme Worte zu, von denen er nicht mehr überzeugt werden wollte.
Auf seiner persönlichen Bühne agierte längst eine ihm nicht bekannte Unperson, die sich überall mit seinem Namen vorstellte. Eigentlich hätte er einen neuen Namen annehmen müssen. Entweder Hans oder Dietrich, aber nicht diesen verfluchten Doppelnamen.
Die psychologische Erklärung war offenbar einfach:
Sein Vater hatte ihn brutal geprügelt. Der ehemalige Wehrmachtsunteroffizier, ein untersetzter buckelnder Untertan, hieß Hans. Dessen Schwiegervater namens Dietrich, der Großvater von Hans-Dietrich, war von stattlicher Statur, großzügig, gutmütig und unbestechlich. Er trug einen mächtigen geschwungenen Schnauzbart, ließ sich von Autoritäten nicht beeindrucken, trotzte einst geschickt den Nationalsozialisten und vergaß der katholischen Kirche und deren Oberhaupt nie, dass sie gegenüber den Nazis nicht eindeutig Stellung bezogen.
Hans-Dietrichs Vater Hans lief nach anfänglichem Widerstand gegen die Hitlerjugend irgendwann einfach mit, schwärmte nach dem Untergang des auf tausend Jahre angelegten Deutschen Reiches noch von Hitlers Autobahnen und äußerte sich später, wenige Jahre vor seinem Tod noch abfällig über türkische Gastarbeiter und Neger.
„Ihre beiden männlichen Bezugspersonen konnten unterschiedlicher kaum sein“, stellten seine Psychotherapeuten übereinstimmend fest. Bei ihnen – immer wieder bei einem anderen, hatte er stets aufs Neue eine Therapie begonnen und sie nach wenigen Sitzungen mit dem Gefühl abgebrochen, sie könnten ihm nicht wirklich helfen.
Als er sich schließlich nach seinem Großvater nur noch Dietrich nannte, fühlte er sich dennoch nur wenige Wochen wohl, bis er sich wieder dabei ertappte, von seinem Büroleiter beim Katasteramt, Hermann Heidler Aufträge anzunehmen, deren Sinn er zwar nicht einsah, die er aber zu erfüllen versuchte, weil Heidler ihn dazu zwang.
Schließlich fiel ihm auf, dass Hermann Heidler, den er schon sehr lange duzte, ihn ganz betont mit Hans-Dietrich ansprach. Und immer dann, wenn er seinen Doppelnamen hörte, begann seine innere Stimme auf ihn einzureden. „Hans, du bist gar nicht so. Du hast keine Angst. Ängste werden von Anderen nur ausgenutzt.“
Natürlich hatten seine Psychotherapeuten ihn überzeugen wollen und behauptet, jemand, der seine Ängste offen zugebe, sei eigentlich viel mutiger als einer, der sie verschweige.

Und dann begegnete er an einem warmen Spätsommerabend vor gut zwei Jahren auf dem Bahnhofsvorplatz Friedhelm, gute dreissig Jahr alt, klein und von bulligem Körperbau. Er trat gerade einem Rollstuhlfahrer gegen die schmalen Reifen. Der Mann, etwa genauso alt wie Friedhelm kreischte mit hoher Stimme. „Haun Sie ab. Lassen Sie das. Lassen Sie das…Hilfe…“
Und je häufiger, lauter und höher er kreischte, desto kräftiger trat Friedhelm zu, nicht nur gegen die Reifen sondern auch gegen die offenbar gelähmten Beine des Mannes.
Der Rollstuhl drohte umzukippen. Leute, die vor dem Bahnhof herumstanden, wandten sich ab, andere gingen hastig und ohne aufzusehen an beiden vorbei.
Hans-Dietrich hatte zuvor in einem Straßencafé in Bahnhofsnähe zwei Cappuccino getrunken und wollte mit der S-Bahn nach Hause fahren. Da trat der bullige Friedhelm gerade so heftig zu, dass der Rollstuhl nach hinten kippte und sein Fahrer hilflos auf dem Rücken liegen blieb. Friedhelm trat auf den Liegenden ein, traf nur den Rollstuhl, ging herum zum Kopf und holte aus, als wollte er einen Fußball wegkicken.
Hans-Dietrich packte Friedhelm von hinten bei den Schultern und riss ihn zurück.
Aus dem Bahnhofsgebäude kamen in dem Moment zwei Polizisten. Der jüngere der beiden stieß Hans-Dietrich zur Seite und drehte Friedhelms rechten Arm auf den Rücken. „Du schon wieder. Das kostet dich diesmal deine Bewährung.“
Der ältere Polizist kümmerte sich um den Liegenden, hob ihn samt Rollstuhl auf und stellte den wieder auf seine Räder.
Friedhelm versuchte sich loszureißen, brüllte die Umstehenden an, die jetzt interessiert zusahen. „Arschlöcher seid ihr, feige Arschlöcher.“
Dann hielt er inne, atmete schwer und sah Hans-Dietrich an.
„Kommst dir wien Held vor, was?“
Hans-Dietrich schüttelte den Kopf, während ihm der Polizist, der den Rollstuhlfahrer aufgehoben hatte, auf die Schulter klopfte.

Heute Morgen besuchte Hans-Dietrich Friedhelm zum dritten Mal im Knast. Er saß wegen versuchten Mordes und mehrfacher Körperverletzung.
Als Hans-Dietrich sich von ihm im Besucherraum verabschiedet, sagte Friedhelm leise, Schwachheiten könne er einfach nicht ausstehen.
Und obwohl er von seinem Souffleur angeherrscht wurde: „Sag Feigling zu ihm“, schwieg Hans-Dietrich, umarmte Friedhelm und verließ, ohne sich umsehen, den Besucherraum.
 



 
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