Der Stellvertreter

Suhei

Mitglied
Es war die übliche Verabschiedungs-Stehparty. Die ganze Redaktion hatte sich im großen Konferenzraum versammelt, den Prosecco in der einen, das Fingerfood in der anderen Hand. Verlagsleiter Cohn beendete gerade seine schwungvolle Lobeshymne auf den scheidenden Chefredakteur als Stefan Mahn, der Stellvertreter, etwas abgehetzt den Raum betrat.
"Tschuldigung, der Titel musste noch raus."
"Aber ich bitte Sie", sagte Cohn, "Ihr unermüdlicher Einsatz und Ihr Engagement haben Ihren jeweiligen Chefredakteuren ja erst den nötigen Freiraum verschafft. Und ich bin zuversichtlich, dass Sie auch den Nachfolger von Andreas Leichtenfeld mit der gleichen Effizienz unterstützen werden."
Nachfolger? Stefan Mahn wurde noch eine Nuance blasser als sonst. Er musste sich an dem Stehtisch festhalten, um nicht umzukippen. Die Reden waren beendet, das Stimmengewirr schwoll an. Den Nachfolger unterstützen. Cohn hatte ihm fest versprochen, dass er auf den Posten des Chefredakteurs nachrücken würde. Leichtenfeld kam auf ihn zu und bedankte sich noch einmal artig und formvollendet für die gute Zusammenarbeit. Mahn hörte kaum, was er sagte. Warum erfuhr er erst jetzt von diesem Nachfolger? Und noch dazu auf diese demütigende Art und Weise? Plötzlich stand Cohn neben ihm. An seiner Seite Gero Wilder, der Macher des erfolgreichen Konkurrenzblattes.
"Herr Wilder, darf ich Ihnen Stefan Mahn, Ihren zukünftigen Stellvertreter vorstellen. Herr Mahn, Gero Wilder wird ab sofort die Position von Herrn Leichtenfeld übernehmen. Ich bin sicher, dass Sie beide hervorragend zusammenarbeiten werden."

"Und das willst Du Dir gefallen lassen?", Annabelle knallte die Kühlschranktür zu und ging ohne ihn eines weiteren Blicks zu würdigen hinauf ins Schlafzimmer. Resigniert schenkte Mahn sich noch einen Whisky ein. Als er Annabelle kennen lernte, war sie die Freundin seines älteren Bruders Alexander. Die beiden schienen wie füreinander geschaffen: schön, intelligent, lebens- und abenteuerlustig. Doch eines Tages kostete Alexander die Abenteuerlust das Leben. Beim Versuch einer Einhand-Weltumsegelung kenterte sein Boot und er ertrank irgendwo vor dem Kap der Guten Hoffnung. Stefan Mahn übernahm die Rolle des ritterlichen Trostspenders, und nach zwei Jahren hatte Annabelle sich so seine fürsorgliche und zärtliche Anwesenheit gewöhnt, dass sie einwilligte, seine Frau zu werden. Damals hatte er gerade bei dem Blatt angefangen und man sagte ihm eine glänzende Karriere voraus. Ein Jahr später war er bereits stellvertretender Chefredakteur. Doch das war jetzt mehr als fünf Jahre her. Mahn löschte das Licht und ging die Treppe hinauf. Er öffnete die Schlafzimmertür ganz leise. Annabelle stellte sich schlafend. Das Mondlicht schien direkt auf ihr Kopfkissen, und er sah ihre Augenlider zucken. Als er sich neben sie legte und versuchte, sie zu berühren, rückte sie von ihm weg. Mahn drehte sich auf den Rücken und versuchte, sich zu konzentrieren. Als er um sechs Uhr aufstand hatte er zwar keine Sekunde geschlafen, aber er fühlte sich ungewöhnlich frisch, denn sein Plan stand fest.

Zwei Monate später hatte Wilder längst sein Büro bezogen und mit der klassischen "Neue Besen kehren gut"-Mentalitität die Hälfte der Redaktion in Angst und Schrecken versetzt. Die andere Hälfte lebte eher nach dem Motto "Ich habe schon sieben Chefredakteure überlebt - den hier schaffe ich auch noch." Langsam kehrte wieder Routine ein. Mahn hatte seinen Job mit gewohnter Perfektion erledigt und dabei die Zeit genutzt, um Wilders Lebensgewohnheiten zu studieren. Der Mann war erschreckend langweilig. War er nicht gerade auf einer Dienstreise, rollte seine Limousine jeden Morgen um Punkt neun Uhr in die Tiefgarage. Sein Mittagessen nahm er grundsätzlich beim gleichen Italiener ein. Der Donnerstagabend gehörte seiner Frau – Theaterbesuch mit anschließendem Essen beim Franzosen. Der Montag war für die Geliebte, eine junge Journalistin mit Ambitionen, reserviert. An den übrigen Abenden drehte er nach vollbrachtem Tagewerk noch ein paar Runden im firmeneigenen Schwimmbad, Saunagang inklusive. Da die meisten Mitarbeiter lieber auf ihren Sport verzichteten, als ihrem Chef in Badehose gegenüberzutreten, hatte er das Bad für sich allein.
Heute war Dienstag. Um viertel vor sieben schaltete Mahn den Rechner aus, packte seine Sachen zusammen, verabschiedete sich von Wilder und rief der Sekretärin zu:
"Ich gehe jetzt zu dem Empfang im Grand Hotel. Wenn etwas ist, bin ich übers Handy zu erreichen."
Um sieben betrat Mahn den Blauen Salon des Grand Hotels, in dem 400 Gäste den 75. Geburtstag des Filmproduzenten Dieter Trollenkamp feierten. Er begrüßte ein paar Kollegen, gratulierte Trollenkamp persönlich und verschwand um zwanzig Uhr unbemerkt durch einen Seiteneingang. Zu Fuß ging er zurück zum Verlag, nahm den Eingang durch die Tiefgarage und erreichte um halb neun das Schwimmbad. Wie erwartet war Wilder da. Er saß auf der Saunabank, die Augen in kindlichem Erstaunen aufgerissen. Das Handtuch um seine Hüfte war verrutscht, seine Stirn durch ein hässliches Loch verunstaltet. Wider besseres Wissen hob Mahn die Waffe, die neben Wilder auf der Bank lag, auf. Während er noch fieberhaft überlegte er, was er tun sollte, näherten sich Schritte. Als er sich umdrehte, stand er Cohn direkt gegenüber. Der Anblick erschreckte ihn mehr als Wilders Leiche: Für den Bruchteil einer Sekunde flackerten unverhohlener Triumph und Schadenfreude in Cohns Augen auf. Doch er hatte sich schnell wieder unter Kontrolle:
"Mahn, lassen Sie die Waffe fallen! Machen Sie es nicht noch schlimmer."
Zwanzig Minuten später erschienen zwei Beamte von der Mordkommission, lasen Mahn seine Rechte vor, legten ihm Handschellen an und führten ihn ab.

Drei Monate später erging das Urteil gegen Mahn: lebenslänglich wegen vorsätzlichen Mordes an Gero Wilder. Nach der Überführung vom Untersuchungsgefängnis in die Vollzugsanstalt, überreichte ihm der diensthabende Beamte einen Brief von Cohn:
"Lieber Mahn, für mich bleiben Sie der beste Stellvertreter, den ich je hatte."
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
puh!

nach der lektüre muß ich mich erstmal schütteln. das haste sauber hinbekommen, ganz großes lob. aber mir fehlt der satz, der mir sagt, mit welchen absichten der akteur in die sauna gegangen ist. aber auch ohnedies - ganz große klasse! lg
 

Suhei

Mitglied
Stellvertreter

Hallo flammarion,
so ein dickes Lob geht ja runter wie Öl!!! Und danke für den Hinwei auf den fehlenden Saunasatz
 

Bonnie

Mitglied
Antwort auf e-mail

Hi
Ich antworte auf diesem Weg,weil ich über die andere Adresse nicht weiterkomme.
Der Ich-Erzähler ist in der Tat ein schon eingeführter,nicht aber Haudrauf-Detektiv,sondern eher eine
Detektivin.
Warum sie sofort losrennt,und Jutta mitkommen will.Sie kannten Leo beide.
Dann noch kurz,ich habe die Story nebenbei in knapp eine
halben Stunde in den PC geklappert,und mich dann nicht weiter damit beschäftigt,weil mir einfach die Zeit gefehlt
hat.
Grüsse
Bonnie :D
 

Zefira

Mitglied
Stellvertreter

Hallo suhei, hallo flamarion,

ich finde nicht, daß der Saunasatz fehlt. Es ist doch klar, daß Mahn sich Wilder irgendwie vom Hals schaffen will, wozu besorgt er sich sonst das Geburtstagsfeier-Alibi? Das Problem ist, scheint mir, daß der Leser an der Stelle den Eindruck hat, als hätte Mahn erwartet, Wilder erschossen vorzufinden.
Ich würde deshalb vorschlagen, zwischen den Sätzen "Wie erwartet war Wilder da" und "Er saß auf der Saunabank..." einen größeren Absatz einzuschalten. Das erhöht die Dramatik, und es ist gleich klar, daß Mahn selbst auch erschrocken ist.
Sonst ein klasse Krimi, hat mir gefallen. Genial der Satz: "Da die meisten Mitarbeiter lieber auf ihren Sport verzichteten, als ihrem Chef in Badehose gegenüberzutreten, hatte er das Bad für sich allein."

Alles Liebe,
Zefira
 



 
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