Der Stift

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Rainer Lieser

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Der Stift

Es gab einmal einen Stift, der schrieb die Gedanken der Menschen auf Papier, die ihn in der Hand hielten. So wie das alle Stifte tun. Er tat dies tagein und tagaus – und es langweilte ihn von Tag zu Tag mehr. Das unterschied ihn von all den anderen Stiften, denen es gleichgültig war, was man mit ihnen niederschrieb.
Dieser eine Stift nun, ärgerte sich grenzenlos über die Dummheit der meisten Menschen, deren Gedanken er festhalten musste. Eines Tages nutzte ihn ein junger Mensch, um damit einen Abschiedsbrief zu schreiben. Da hatte der Stift endgültig genug. Er liess es nicht zu, dass der Mensch den Abschiedsbrief beendete. Stattdessen brachte der Stift die Hand des Menschen dazu den Text eines alten Kinderliedes aufzuschreiben. Als der Mensch nach einer Weile mit dem Schreiben inne hielt – und las, was auf dem Papier stand, traten ihm Tränen in die Augen. Erinnerungen an das Elternhaus und viele glückliche Momente kamen ihm ins Gedächtnis. Ein sanftes Lächeln erschien in seinem Gesicht. Der Stift spürte, wie in dem Mensch neuer Lebensmut anwuchs. Das erfüllte den Stift mit Freude. Er war stolz auf das, was er soeben vollbracht hatte und beschloss in Zukunft öfter Einfluss auf die Menschen zu nehmen, die sich seiner bedienten. Er hatte die Kraft in sich gespürt, etwas ändern zu können, begriff, wozu ein Stift in der Lage sein konnte, sobald er es nur wollte. Waren es nicht Stifte gewesen, die Kriege erst entfacht und dann wieder beendet hatten. War ein Stift nicht auch in der Lage, zwei Menschen die sich liebten, zu einem Paar zu vereinen. Und ihm selbst wohnten diese Möglichkeiten ebenso inne – und womöglich noch viele mehr. Er musste sie nur nutzen. Als der Stift das erkannte, war er sehr betrübt über die Zeit, welche er unnütz vertan hatte, indem er sich über die Schwächen der Anderen geärgert hatte, statt die eigenen Stärken einzusetzen, um Gutes zu bewirken. Während er so dachte, war der Mensch, den er vor dem Tod bewahrt hatte, fort gegangen und hatte den Stift aus Unachtsamkeit liegen lassen.
Der Stift wartete nun also auf einen anderen Menschen. Und als ihn eine Hand ergriff, da nahm er sich vor, diesem Menschen den Himmel auf Erden zu eröffnen. Doch die Miene des Stifts war aufgebraucht. Als der Mensch das erkannte, warf er den Stift in die nächste Mülltonne.
 



 
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