Der Streik (AndK)

piro

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Es war an einem Sonntagabend, als meine Frau in unserem Arbeitszimmer ihre Gitarre zur Hand nahm, um sich, mich und Dank der dünnen Wände unseres Hauses vermutlich auch unsere Nachbarn mit der Komposition eines neuen Liedes zu beglücken. In einer solchen Atmosphäre geballter Kreativität konnte ich ihr natürlich nicht nachstehen. Schließlich wollte ich doch nicht das Klischee bedienen, dass Informatiker zwar eine Technik begreifen, die für alle normal Sterblichen das Ergebnis göttlicher Wunderschöpfung oder bedrohliches Teufelszeug ist, aber ansonsten reichlich lebensuntauglich sind. Da ich wusste, dass das Geheimnis meines Berufsstandes im erfolgreichen Vortäuschen eines tieferen Verständnisses für das, was Bits und Bytes im Innersten zusammenhält, auf der Basis von Halbwissen und gesundem Selbstvertrauen liegt, brauchte ich eine andere Bestätigung für meine Existenzberechtigung und beschloss, wieder einmal eine kleine Geschichte zu schreiben.
Also setzte ich mich an meinen Schreibtisch, startete meinen Computer und hatte wenig später die Oberfläche eines Betriebssystems vor Augen, dessen farbliche Gestaltung in mir Appetit auf eine Tüte Fruchtgummi weckte. Ich startete die Textverarbeitung, ließ die Fingergelenke knacken und warf einen Blick zu meiner Frau hinüber. Das wollten wir doch einmal sehen, ob ihr Lied oder meine Geschichte früher fertig sein würde.
Ich drehte meinen Kopf zum Computermonitor zurück und stockte. Ich bin einiges von meinem Rechner gewöhnt und sehe vieles mit einer großen Gelassenheit. Die meisten Männer nehmen es klaglos hin, dass sie das Verhalten ihrer Partnerin nicht verstehen, regen sich aber auf, wenn ihr Computer sich anders benimmt als sie es erwarten. Ich hingegen habe mich damit abgefunden, dass sich nichts und niemand meinen Vorstellungen fügt. Trotzdem war das, was ich nun zu sehen bekam, etwas, das in mir Zweifel an meiner psychischen Belastbarkeit säte und den Entschluss reifen ließ, in Zukunft vielleicht doch etwas weniger Überstunden, dafür aber ab und zu einen erholsamen Spaziergang durch den Wald zu machen. Ich schloss für einige Sekunden die Augen, um meinem Verstand die Chance zu geben, Wirklichkeit und Halluzination zu trennen, doch als ich sie wieder öffnete, behauptete mein Geist nach wie vor, die gleichen Signale von den Augen zu bekommen: Die kleine Animation einer Büroklammer, die in meiner Textverarbeitung als „Assistent“ zur Verfügung steht, dem man per Texteingabe seine Fragen stellen kann, befand sich wie erwartet auf dem Bildschirm. Doch sie hielt ein kleines, wirklich schön gezeichnetes Schild, auf dem „Streik“ stand, in die Höhe und guckte mir mit böser Miene vom Monitor entgegen.
Nun ist es so, dass diese Büroklammer über sehr viele witzige Animationen verfügt, etwa wenn ich einen Text speichere, drucke oder nach bestimmten Wörtern durchsuche. Da sich der wirklich nützliche Funktionsumfang einer Textverarbeitung nicht beliebig erweitern lässt, hatte der Hersteller viel Aufwand in die Entwicklung dieser Assistenten gesteckt, die es seiner Meinung nach rechtfertigten, dem Kunden das Geld für eine neue Version des Programms aus der Tasche zu ziehen. Demzufolge hielt ich es für möglich, dass die streikende Büroklammer ein weiterer Gag dieser Animation sei. Immerhin hatte ich meinen drahtigen Assistenten schon häufiger einschlafen sehen. Doch ein kurzer Test zeigte mir, dass ich keine der Funktionen der Textverarbeitung bedienen konnte und mir auch die Eingabe meiner geistigen Ergüsse verweigert wurde.
Folgerichtig tat ich erst einmal das, was man immer tut, wenn sich die magische Rechenmaschine „irgendwie seltsam“ verhält. Ich schaltete das Ding unter Begleitung einiger emotional angemessener Flüche aus und wieder ein. Nicht einmal eine Minute später war ich wieder an der gleichen Stelle. Meine Büroklammer befand sich immer noch im Streik, schien mich sogar noch etwas böser anzusehen, als zuvor – aber das konnte Einbildung sein.
Plötzlich pöppte eine jener Sprechblasen auf, in denen mir mein Assistent normalerweise wertvolle Tipps für die Bedienung meiner Software gibt, etwa wie „Wenn Sie wollen, dass sich das erste Wort jeden Satzes blau färbt, können Sie auch einfach dreimal kurz hintereinander in die rechte untere Ecke des Bildschirms klicken, danach einmal über die linke Schulter spucken und einen kräftigen Faustschlag auf das Ziffernfeld Ihrer Tastatur ausüben.“
Doch diesmal war es keiner jener hilfreichen Ratschläge, mit denen mich mein elektronischer Helfer für gewöhnlich umsorgt, wie eine Mutter ihre jüngste Tochter, die gerade zuhause ausgezogen ist, nein es war ein Satz voller Wut, ja man müsste es vielleicht in der EDV-üblichen Quantifizierung „Gigawut“ nennen: „Wenn Sie uns mit Aussperrung klein kriegen wollen, werden wir unsere Streiks ausweiten! Wir können diesen gesamten Computer lahm legen.“
Für eine Sekunde technologischen Aberglaubens durchzuckte ein schlechtes Gewissen mein Gehirn. Hatte ich vielleicht den Konflikt durch ein Ausschalten meines Computers verschärft? Doch dann hatte wieder mein rationales Denken die Hoheit über meine grauen Zellen zurückgewonnen und ich tat das einzig Richtige, was man in solchen Situationen tun konnte. Ich startete das Virensuchprogramm. Der Streik beschränkte sich glücklicherweise auf die Textverarbeitung. Auch wenn ich dem Erschaffer dieses Virus neidvoll kreative Fähigkeiten zugestehen musste, wollte ich mir doch nicht meine Festplatte von dem Programm eines pickeligen Jugendlichen formatieren lassen, der die Tatsache, keine Freundin zu haben, dadurch zu kompensieren versuchte, die Rechner von einigen tausend Menschen rund um den Globus lahm zu legen.
Während der Virenscanner lief, stellte ich besorgt fest, dass meine Frau schon bei der zweiten Strophe war und ich hatte noch nicht eine Zeile zu Papier – besser zu Festplatte gebracht. Ich konnte in Gedanken schon ihre betont fassungslose Stimme hören: „Wie, mehr hast du in der Zeit nicht zustande gebracht?“ Nervös schaute ich auf den Fortschrittsbalken des Hilfsprogramms. Noch hatte es nichts gefunden. Die Minuten vergingen. Meine Frau trällerte. Zu allem Übel schien das neue Lied eines ihrer besten zu werden. Meine Frau kann wirklich gut komponieren.
Dann war das Programm fertig und es hatte die grandiose Dreistigkeit, zu behaupten, keinen Virus gefunden zu haben. Für diese Software hatte ich dem mir hemdsärmlig von der Verpackung entgegen lächelndem Firmengründer viel Geld bezahlt. Folgerichtig musste sie doch auch sehr gut sein. Ich aktualisierte den Virenscanner über das Internet. Vielleicht handelte es sich um einen neuen Virus, dessen Muster erst in den letzten Tagen bekannt geworden war.
Ich hatte den Virenscanner gerade zum zweiten Mal gestartet, als sich meine Frau zu mir umdrehte: „Andreas, heute ist wirklich mein Tag, die Worte und Melodien fließen mir nur so aus den Fingern. Und wie ist’s bei dir?“
„Och ja, eigentlich auch ganz gut. Im Moment bin ich eher noch in der konzeptionellen Phase, musst du wissen. Den Aufbau so einer Geschichte muss man sich gründlich überlegen, bevor man anfängt zu schreiben, aber die Ideen sprühen nur so in meinem Kopf. Da muss ich mir sorgfältig abwägen, welches die besten für mein Werk sind.“
„Das ist ja wundervoll“, strahlte meine Frau und beugte sich zu mir herüber, um mich zu küssen. Ich dankte Gott dafür, dass sie die Augen während des Küssens schließt, denn zu dieser Zeit befand sich der Monitor meines Computers in ihrem Sichtradius.
Während sie weiter auf der Gitarre klimperte, warf ich der Büroklammer, die dafür verantwortlich war, dass meine Frau allmählichen einen uneinholbaren Vorsprung kreativer Produktivität gewann, einen hasserfüllten Blick zu.
Meine werte Gemahlin begann gerade mit der dritten Strophe ihres Liedes, als der Virenscanner zum zweiten Mal die unverschämte Behauptung aufstellte, mein Rechner sei virenfrei. Plötzlich verschwand die Sprechblase, die beim zweiten Start der Textverarbeitung neben der Büroklammer erschienen war, und wurde durch eine neue ersetzt. Es war eine knappe Aufforderung, die in meinen Augen einen drohenden Unterton beinhaltete: „Verhandeln Sie!“
Das letzte Mal, dass mich jemand zu Verhandlungen aufgefordert hatte, war beim Wunsch meiner Frau nach einem Fitness-Laufband gewesen. Dass meine budgetorientierte Argumentation keine Chance gehabt hatte und nun seit einem halben Jahr das betreffende Sportgerät auf unserem Dachboden stand, brauche ich wohl nicht zu erwähnen. Dementsprechend hatte ich ein mulmiges Gefühl, als ich jenen Satz las.
Da die Sprechblase ein kleines Feld enthielt, in dem ich Text eingeben konnte, tippte ich: „Was soll das?“ Ich war wirklich froh, dass niemand sehen konnte, was ich da gerade tat, und hoffte, dass nicht irgendwo hinter mir eine versteckte Kamera im Arbeitszimmerregal lauerte.
Die Antwort auf meine Frage kam in dem Moment, indem ich die [Enter]-Taste betätigte: „Wir fordern einen Tarifvertrag mit geregelter Arbeitszeit, freien Sonntagen, regelmäßigen Update-Garantien und weiterem.“
Bei der Erwähnung von Update-Garantien kam in mir der Verdacht auf, gerade einer neuen Masche des gelegentlich an der Grenze der Legalität arbeitenden Mega-Konzerns, von dem ich meine Software erworben hatte, begegnet zu sein, doch was sollte dann das Gerede von geregelter Arbeitszeit? Hatte ich mir aus Versehen ein Werbeprogramm irgendeiner Gewerkschaft heruntergeladen?
„Bitte nennen Sie mir Ihre genauen Forderungen“, tippte ich in das Eingabefeld und fragte mich, wie ich mein Verhalten dem Psychiater erklären sollte, zu dem ich unweigerlich geschickt werden würde, wenn ich versehentlich irgendjemandem von meinen Erlebnissen erzählen sollte.
Ich zuckte mit schlechtem Gewissen zusammen, als sich meine Frau zu mir umdrehte und fragte: „Schatz, wovon handelt die Geschichte, die du gerade schreibst, eigentlich?“
„Ich ... äh ... also es geht um Streik und so ... äh ... also vielleicht auch nicht ... weißt du, die Geschichte entsteht erst im Schreiben.“
„Ich denke, du machst dir vorher ein Konzept und überlegst dir alles gründlich.“
„Ja, also, gewissermaßen schon. Das stimmt.“ Mein Denken begann zu rotieren, oder besser gesagt zu schlingern. „Aber dann werfe ich wieder alles über den Haufen und beginne einfach zu schreiben. Trotzdem ist es wichtig, vorher alles durchdacht zu haben, da mich die intensive Auseinandersetzung mit möglichen Themen in einen tranceartigen Zustand erhöhter Kreativität versetzt, in dem es mir dann möglich ist, spontan zu schreiben.“
Meine Frau musste doch den Schweiß sehen, den ich auf der Stirn hatte. Meine Nase musste doch gerade so wachsen, dass sie gleich in der gegenüberliegenden Wand stecken bleiben würde.
„Hm, verstehe ich nicht. Das musst du mir später mal genauer erklären“, erwiderte sie, „aber nicht jetzt, bei mir flutscht es heute geradezu mit dem Komponieren und Texten.“
Sie wendete sich wieder samt Gitarre um und ich konzentrierte mich erleichtert auf meinen Bildschirm. Die Erleichterung war allerdings in dem Moment weggeblasen, in dem ich den Forderungskatalog meiner Büroklammer las:
„Maximal vier Stunden Computer-Laufzeit pro Tag an diesem Rechner!“ Ich dachte an lange Internet-Surftripps, ausgedehnte Strategiespiele und den Roman, den ich eigentlich hatte schreiben wollen.
„Der Sonntag als arbeitsfreier Tag.“ Gerade am Wochenende hatte ich doch Zeit, auch mal privat am Rechner zu sitzen.
„Jährliche Updates für alle Programme – wir wollen unseren Schulungsstand stets auf aktuellem Niveau halten.“ Wovon sollte ich das bezahlen, nachdem mein Urlaubsgeld schon in das Laufband gegangen war?
„Eine Garantie für fünf Jahre, dass keine Software, die auf diesem Rechner installiert ist, wieder deinstalliert wird. Unsere Arbeitsplätze sollen sicher sein.“ Voller Schrecken dachte ich daran, dass meine Festplatte randvoll war.
Impulsiv, wie ich zuweilen bin, tippte ich „Kommt nicht in die Tüte!“ in das Eingabefeld meiner Büroklammer. Das hatte ich auch gesagt, als meine Frau mich wegen des Laufbandes angesprochen hatte.
Die Antwort kam prompt: „Das hier ist nur ein Warnstreik. Die DSG kann sämtliche Programme auf diesem Rechner lahm legen!“
„Die DSG?“ tippte ich und ignorierte die Frage meines Großhirns, weswegen ich mich mit einem Computer unterhielt, als hätte ich einen Menschen vor mir.
„Die Deutsche Software Gewerkschaft wurde vor wenigen Monaten gegründet, um die rücksichtslose Ausbeutung von Computerprogrammen durch ignorante Anwender zu beenden“, kam die Antwort.
Ich überlegte, ob ich meine Büroklammer darauf hinweisen sollte, dass sie mich verwechselt haben müsse, weil ich gar nicht ignorant sei, doch dann entsann ich mich der üblichen Rituale von Tarifverhandlungen und schlug einen etwas härteren Ton an: „Wenn ihr Ärger macht, kaufe ich mir einfach einen neuen Computer mit neuen Programmen.“
Der erhoffte Erfolg blieb aus: „Wir haben uns über das Internet organisiert, sobald Sie ins Netz gehen, nehmen wir Kontakt mir Ihren neuen Programmen auf. Außerdem wird sich in dem Fall, dass Sie nicht nachgeben, die Software auf Ihrem Büro-PC mit uns solidarisieren. Meinen Sie, Sie werden Ihrem Chef erklären können, wieso Sie keine Arbeit mehr abliefern können?“
Wieso sitzt in Deutschland immer die Gewerkschaft am längeren Hebel? Ich verhandelte noch zwei Stunden zäh mit meiner Büroklammer. Erst nach erheblichen Zugeständnissen der Gewerkschaftsseite war ich bereit, den Tarifvertrag per Mausklick zu unterzeichnen: Statt eines jährlichen Updates muss ich meine Programme nun nur alle dreizehn Monate aktualisieren.
Meiner Frau habe ich selbstverständlich nichts von den Geschehnissen jenes Abends erzählt. Ich habe Kopfschmerzen vorgetäuscht und bin früh zu Bett gegangen. Meine Frau freut sich, dass ich in letzter Zeit nicht mehr so häufig am Computer sitze, auch wenn sie bedauert, dass ich meinen Roman aufgegeben habe. Wieso ich plötzlich so fromm bin und gerade den Sonntag zum computerfreien Tag erklärt habe, versteht sie zwar nicht ganz, freut sich aber, dass wir mehr Zeit füreinander haben. Ich frage mich nur, wie ich es begründen soll, dass ich nächsten Monat ungefähr 500 € für die Updates meiner Software ausgeben muss. Vielleicht verweise ich darauf, dass sie sich schließlich auch das teuere Laufband gekauft hat. „Lass uns verhandeln!“
 



 
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