Der Tag Iks

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Aligator

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„Jetzt steck schon deine Hand rein“, sagt sie.
Ich starre auf das Kästchen, dann in ihr Gesicht, mit den Händen demonstrativ in den Hosentaschen. Mein Puls beschleunigt und ich beiße mir auf die Unterlippe.
„Und du bist dir sicher, dass da nicht irgend ein Scheiß drin ist?“, presse ich hervor.
Sie grinst dämonisch und ihre dunklen Augen funkeln.
„Tu – es!“
Ich blicke mich um, keiner da, der mir weitehelfen könnte. Ich ziehe Luft durch die Nase und versuche runterzukommen. „Also gut.“
„Bitteschön!“, sagt sie und hält mir das Kästchen entgegen.
Mit zitternden Fingern bewege ich meine Hand zur Öffnung. Die kleinen, bunten Holzrauten am Kästchen schimmern in lila Farbnuancen. Ich bemerke, wie sich die Größenverhältnisse ändern. Das Kästchen wächst zur Truhe, die Umgebung schrumpft und schwindet schließlich. Alles scheint wie von einem Strudel dort ins Schwarze der riesigen Truhe eingesogen zu werden. Mein Arm wird länger und länger, schon kann ich meine Hand nicht mehr sehen. Ich versuche aufzublicken, aber alles besteht nur noch aus bunten Fäden. Etwas in mir sträubt sich noch, doch es hat keinen Sinn, ich lasse los und stürze mich hinein.

Am Morgen

Es gibt Tage, da wache ich ausgeschlafen und gutgelaunt auf.
Heute nicht. Der Wecker reißt mich aus meinen durchgeknallten Traum und ich erwache, als würde die Seele noch nicht am rechten Platz sitzen. Der Schädel drückt und mein Kreuz schmerzt. Solche Tage starten mit einem beherzten: „Fuck!“
Ich liege zerknüllt auf der Matratze und starre zur Decke. Jetzt kann mich nur noch eins retten: ein duftende, heißer, mit drei Löffeln Zucker verfeinerter Bohnenkaffee. Wie in Trance überwinde ich sämtliche Schmerzsignalisierungen meines Körpers und stapfe ins Bad. Ein Schwall kaltes Wasser ins Gesicht. Heute ist Donnerstag. Der unscheinbarste Tag der Woche. Keine Ahnung, warum' s ausgerechnet da donnern sollte. Ich blicke in die halboffenen Augäpfel mit den erweiterten Äderchen. Die dunkle Schmalzlocke klebt wie gewohnt nach links. Dort schimmert noch der Sabber im Bart.
„Du siehst so scheiße aus“, sage ich, als wäre ich mir soeben dieser Tatsache bewusst geworden und spucke ins Waschbecken.
Meine Küche, schon fünf Tage überfällig, verströmt einen faden Mief. Die Sonne tut ihr bestes, sich durch die milchige Fensterscheibe zu kämpfen. Ich kippe das Fenster und ziehe mit geschlossenen Augen die Kühle des Morgens ein. Wie ich das liebe! Die Vögel zwitschern, die Baustellen lärmen und durch die Häuserschluchten dringt das Tosen des Berufsverkehrs. Ich ziehe mir einen Senseo, mache ihm Platz auf dem Küchentisch und lasse mich stöhnend auf dem braunen Stuhl nieder.
Mein Blick wandert über das Chaos: Ungeöffnete Briefe, leere Dosen und ganz unten drunter die Zeitung von gestern. Wie von selbst ziehe ich sie ungeachtet der herunterfallenden Sachen hervor und erblicke eine unscheinbare, winzige Anzeige. Dort steht:
DU!
Ich runzle die Stirn, nehme ich einen Schluck und sage aus einer Laune heraus: „Wer, ich?“
WER SONST? steht da.
Also, was sich diese Fuzzies alles einfallen lassen, denk ich mir und schüttle den Kopf.
TREFFE MICH HINTER DER LITFASSSÄULE UM FÜNF!
„Warum sollte ich?“ Vielleicht rippen die da Leute ab, einsame, etwas einfältige Bürger, die sich dort eine schnelle Nummer versprechen. Ja, das ergibt Sinn!
ICH ERWATRTE DICH!
„Na dann, viel Spaß dabei!“
Aus purem Zeitvertreib lese ich mir manchmal solche Anzeigen durch. Es gibt schon ganz schön kranke Gesellen, aber irgendwie amüsiert‘ s mich. Ich überfliege noch einige weniger originelle Texte, zerknülle schließlich die Zeitung zu einem Basketball und versuche mein Glück. Bumm! Voll ins Gelbe! Heute ist mein Glückstag, der Sack ist sogar umgefallen.
„Moment mal, steht heut nicht was an?“ Arbeitsamt um elf.
Da merke ich, dass ich noch achteinhalb Minuten habe, bis die U-Bahn fährt.

Im Tunnel

Wackelnde Leute sitzen mir gegenüber. Omas mit Taschen auf den Schößen und Schulkids, die wie blöd ihre Smartphones betatschen. Die sind mir für gewöhnlich ziemlich wurscht, aber ich schaffe es einfach nicht, diese kaugummikauende Schwarzhaarige gegenüber zu ignorieren. Immer wieder streift mein Blick ihren Pferdeschwanz. Er pendelt im Rhythmus zu meiner Musik, die aus den Kopfhörern strömt. Irgendein ein Progressiv-Rock aus den Siebzigern, weiß auch nicht wie der heißt, ist doch egal. Eine sphärische Klangschönheit umspult mich. Es ist so ein ganz besonderer Moment, in dem sich das Universum zu verdichten scheint. Oh shit, sie guckt her!
Ich schaue schnell auf meinen Schoß, als hätt ich etwas Verbotenes getan. Dazu dieses abgefahrene Gitarrensolo. Ich schäme mich so sehr. Aber warum eigentlich? Jetzt erst recht!
Vorsichtig hebe ich den Kopf. Oh, Mann, sie schaut immer noch zu mir herüber, mit so einem verschmitzten Lächeln. Irgendwo hab ich die doch schon mal gesehen …Was für einen merkwürdigen, silbrig glitzernden Trainingsanzug die anhat. Der Gitarrenguru hebt gleich ab, er ist schon am 18. Bund. Da sagt sie etwas, ganz langsam.
Ich versteh‘ s nicht. Und Lippenlesen zählt auch nicht zu meinen Stärken. Oder doch? Hat sie nicht „I love you“ gesagt?
Ich setze den Köpfhörer ab.
„Hä?“
„Was-willst-du?“, kommt von.
„Nichts.“ Wie schlagfertig! Mich treffen die Schakalblicke der anderen Fahrgäste. Der ganze Zauber ist aus.
Mein Gesicht verkrampft sich kurz zu einem schiefen Grinsen, dann setzte ich mir den Kopfhörer wieder auf und ziehe die Kapuze meines Pullis über den Kopf.
Da kommt jetzt der noch viel krassere Song. Ob ich das überlebe? Ich drehe voll auf und schließe die Augen.
Komisch, der hört sich heute anders an. Da ist die Orgel, da die Flöte, da der Bass, aber da ist noch etwas im Hintergrund, ganz leise. Hm, es ist so eine Art Jingle. Es hat einen Text, der sich ständig wiederholt. Die haben doch damals immer so Botschaften untergemischt, wie „Kauf die Platte“ und so. Jetzt verstehe ich' s:
„Was willst du – was willst du ...“. Immer wieder. Komisch, wieso singen die deutsch? Verträumt öffne ich die Augen und …
Ach du Scheiße! Die ganzen Leute um mich herum singen das ja! Die Omas und die Schulkids!
Sie sind alle aufgestanden und tanzen - so gut das in einer fahrenden U-Bahn halt geht - im Rhythmus wie auf Viva, singen immer lauter und zeigen bei dem „du“ mit den Zeigefingern auf mich.
„Was-willst-du!“
Noch dazu kommen sie immer näher. Ich springe auf die Bank und – aua! - haue mir ordentlich den Schädel am Gepäckfach an.
„Was-willst-du!“
„Ich will, dass das aufhört, ihr Idioten!“, schreie ich, aber ohne Wirkung. Im Gegenteil: Mein Geschrei hat es noch verstärkt, jetzt ziehen sie mit dem Tempo an.
„Torben!“, hör ich da jemanden.
„Ja, so heiß ich!“, rufe ich zurück.
„Hier rüber, Torben!“ Da merke ich, dass der schwarze Pferdeschwanz an der Tür zum nächsten Wagen herwinkt.
„Ich komme!“ Die durchgeknallten Tanzzombies lassen mich ungehindert rüber rennen und ich spring aus der Tür, in der auch Sekunden zuvor meine Retterin verschwunden ist.

Das Mädchen schließt die Tür hinter mir und es wird still. Nur mein Keuchen ist zu hören, ich hab ja ungelogen noch niemals so einen Schiss verspürt wie gerade eben. Ich stütze mich auf den Knien ab und atme. Allmählich stimmt die Sättigung in meinem Hirn. Mein Blick streift das Fenster. Was ist das? Wir fahren nicht mehr durch das Dunkel der U-Bahnschächte, sondern durch eine helle Sommerlandschaft. Kornfelder ziehen wie ein Meer an uns vorüber.
„W-was war das gerade?“, stottere ich noch immer am ganzen Leib zitternd.
„Du bist in eine Entscheidungssubraumtangente geraten“, antwortet Pferdeschwanz kühl.
Ich nicke mit dem Kopf. Nach einer Weile frage ich verdattert: „Was?“
„Dein Bewusstsein hat in Verbindung mit der Geschwindigkeit der U-Bahn und den Schwingungen der Musik einen neuronalen, hypertransorbitalen Cluster ausgelöst ...“
Sie ist so wunderschön … und klug!
„ … und dadurch konnte ein Riss im Zeit-Raum-Kontinuum entstehen, der wiederum ...“
Ich glaub ich hab mich verknallt. Ausgerechnet jetzt!
„ … deinen Kortex mit fluxkompensatorischer, temporärer Masse überflutet hat. Du wirst dich nun wahrscheinlich etwas verwirrt fühlen, aber das sollte sich bis in zehn Minuten wieder legen. Dann hat sich dein Gehirn an die veränderte Raum-Zeit eingepasst. Auch dein Parasymphatikus, übrigens!“ Sie deutet auf die Ausbeulung meiner Hose.
Ich setze mich auf die Bank, schlage die Beine übereinander und frage:
„Wer bist du eigentlich? Und warum redest du so neunmalklug?“
Sie zieht ihren Pferdeschwanz fester, setzt sich mir gegenüber und lächelt.
„Ach, ich bin die Kadelen und ich lese halt gern.“
Mein Mund steht offen. Ein Speichelfädchen seilt sich ab. Ich merke wie mir alles zu viel wird und ich wie ein angepiekstes Sufflé zusammensacke.
„Bitte …“, stammle ich mit letzter Kraft, „ ... lass mich jetzt nicht allein!“ Dann wird alles schwarz.

„Torben!“, höre ich den Singsang aus der Ferne
„M-hm?“
„Wach auf, Torben!“
„Mussnonet…“
„TORBEN!“ Diesmal geschrien.
Ich reiße die Augen auf, drehe mich um und sehe Kadelen vor mir stehen, die Hände auf die Hüften gestützt. Sie sagt: „Komm jetzt zu dir, wir müssen los!“
Ich setzte mich wie nach einer durchzechten Nacht auf. Wir sind immer noch allein in dem Wagen, allerdings fährt er wieder im Dunklen.
„Ähm, danke nochmal, dass du mir vorhin geholfen hast.“ Ich schaue auf meine Uhr. Sie muss stehen geblieben sein, denn sie zeigt fünf vor vier an. „Ich muss dann nächste Haltestelle raus.“
„Ja und du wirst dich entscheiden müssen, welches Raum-Zeit-Portal du durchschreiten möchtest, ...“
Langsam aber sicher geht sie mir auf die Nerven mit ihrem Startrek-Gelabere.
„ … und pass auf, dass du dich nicht in einer Schicksalsschleife verhedderst. Dann würde ein und derselbe Moment immer wiederkehren und ...“
„Stopp!“ Ich kann' s nicht mehr hören!
In diesem Moment bremst der Zug ab. Gut so, besser ich gehe und lasse das Mädchen aus einer anderen Welt zurück.
Wir halten an und die Türen öffnen sich. Wie jetzt, auf der linken und rechten Seite? Ich gehe langsam zu der einen. Doch da ist keine Haltestelle. Draußen sehe ich eine Fußgängerzone! Lauter Leute mit Tüten. Ich drehe mich um und blicke aus der anderen. Oh Mann, es sieht so aus, als befindet sich eine Wüste da draußen. Dünen über Dünen. Heißer, staubiger Wind weht mir ins Gesicht. Etwas ratlos wandert mein Blick wieder zu Kadelen. Die steht da, grinst und meint: „Ich sagte dir ja, du musst dich entscheiden!“
Nach ein paar Sekunden zucke ich mit den Schultern, sage „tschüss“ und verlasse diesen merkwürdigen Zug, natürlich zur Stadt hinaus. Keine Ahnung, welche special effects die hier aufgefahren haben. Dieser Tag ist mir zu verwirrend, als dass ich mir jetzt darüber Gedanken machen kann. Ich sollte lieber mal Sendepause halten.

Der Retter naht

Verdammt, wo bin ich hier? Ich kenne keine Straße, kein Geschäft und überhaupt, irgendwas stimmt schon wieder nicht. Seit fünf Minuten gehe ich einfach geradeaus. Aus unbeirrbarem Glauben an mich selbst habe ich noch niemanden nach dem Weg gefragt. Ich kenne mich in dieser Drecksstadt doch aus. Zwangsläufig, denn ich habe es selten aus ihr heraus geschafft. Aber hier, wo bin ich gelandet? Diese Menschen, sie lächeln alle aufgesetzt und keiner sagt was. Man hört nur das Trap-Trap der Schuhe und das Klock-Klock der Highheels. Sie sehen ja ganz gut aus, wie Schauspieler oder Statisten. Da pass' ich gar nicht rein, mit meiner Halbmasthose und den zerfetzten Chucks. Hoffentlich merken die das nicht. Egal, ich frag den da jetzt:
„Tschuldigung, können Sie mir vielleicht sagen, welcher Stadtteil das hier ist?“
Der Typ im Anzug und der schmierigen Frisur schaut mich an, grinst mir sein blinkendes Pferdegebiss entgegen und denkt nicht daran, stehen zu bleiben.
„Vielen Dank auch, du Lackaffe!“, denk ich mir. Aber ich sage es lieber nicht laut. Langsam steigt die Angst empor. Was, wenn das hier wirklich eine andere Realität ist? Oder bin ich auf irgendwas hängengeblieben?
„Hi, Torben!“
Scheiße, bin ich erschrocken! Ich dreh mich um, weil mir jemand auf die Schulter geklopft hat und wer steht da? Kadelen, natürlich.
„Ach du bist' s!“, freue ich mich fast.
„So wird das aber nichts, mein Freund“, sagt sie.
Wow, sie hat 'Freund' gesagt. So hat mich nie ein Mädchen genannt. Nur die wenig charmante Verniedlichkeitsform davon. Vielleicht können wir ja doch heiraten und Kinder bekommen.
„Du musst schon irgendwie interagieren, wenn sich weitere Portale öffnen sollen.“
Geht das Generve wieder los!
„Nö“, antworte ich so zickig ich nur kann, „hab aber keine Lust zu interagieren!“
Sie senkt den Kopf. Dann sagt sie traurig:
„Das ist aber schade, denn es steht immerhin das Universum auf dem Spiel.“
„Ach!“ Mit schiefen Kopf und süffisantem Lächeln lass ich Hohn auf sie hageln.
„Ich habe dir doch von den transorbitalen Cluster, denn du ausgelöst hast, erzählt. Er wird in kurzer zu einem schwarzen Megaloch implodieren, das alles verschlingen wird.“
Also gut, Mädchen.
„Wie soll ich diesen scheiß Cluster denn ausgelöst haben, hä? Mit Rockmusik aus den siebzigern?“
Kadelen schaut mich irritiert an und sagt:
„Haben dich deine Eltern etwa nie vor Rockmusik gewarnt?“
„Willst du mich verarschen“, jetzt schreie ich, „ich hab die Mukke doch von meinem Alten!“
„Aber die Auswirkungen werden verheerend sein!“
„Na Prima, kann mir doch nur recht sein, wenn der Laden den Bach runter geht! … Entschuldigung.“ Bei 'Bach' hab ich gespuckt.
Sie wischt sich über die Stirn. „Und alle Menschen, deine Familie und deine Freunde, sind sie dir alle egal?“
Ich schlucke. Jetzt hat sie mich. Sicher könnt ich jetzt „ja“ sagen. Habe mit meinen Eltern seit drei Jahren nicht mehr gesprochen. Und Freunde? Da fällt mir nur Pflaume ein, die alte Flipsbirne, der ist meistens so drauf, dass er sich bereits in einer anderen Realität befindet. Und Detlef mein Sandkastenkumpel ist nach Schweden gezogen, der Verräter. Mir könnten die echt alle egal sein, aber wer ist schon gern alleine auf diesem Planeten? Wer kann schon von sich behaupten, er brauche niemand?
„Was ist denn los?“, fragt Kadelen und berührt zärtlich meine Schulter. Wow, die riecht nach Pfirsichen. Und da wird es mir schlagartig klar: ich muss es tun! Ich muss es für sie tun! Scheißegal was, aber ich werde mir selbst in den Arsch treten und es tun! Und wie ich es tun werde!
„Ich will' s mit dir tun!“, sage ich mit entschlossener Haltung.
Kadelen zieht die Hand zurück.
„Ich will das Universum retten!“
Da fängt sie an zu strahlen und sagt:
„Na prima!“
„Aber“, lege ich mit erhobenen Zeigefinger fest, „dazu muss ich dich erst mal besser kennenlernen!“
„Torben, die Zeit drängt!“
„Bis du von hier?“
Sie seufzt und wir setzen uns auf ihren Wink hin auf eine Bank. Dann schließt sie kurz die Augen und fängt an:
„Nein, ich bin nicht von hier, nicht mal aus dieser Dimension. Ich komme von einer Welt, die du dir nicht mal im Entferntesten vorstellen kannst. Der intergalaktische Rat hat mich auserwählt, dir auf deiner Mission beizustehen.“
„Aber Moment mal, du warst doch schon vorher in der U-Bahn gesessen, noch bevor die Sache mit den Omas und Schulkids passiert ist.“
„Ich wusste, dass es passiert. Es war dir schon immer bestimmt, den Iks auszulösen.“
Verstehe nicht.
„Heute ist er, der Tag Iks. Der Tag der Intergalaktischen Katastrophen Sekunde. Wir haben sogar unsren Kalender danach berechnet.“
Das stimmt mich nachdenklich. „Und ich hab ihn ausgelöst?“
Schade, dass Pflaume jetzt nicht da ist, der glaubt mir das niemals.
Kadelen schaut mich ernst an und fährt fort:
„Vergiss nicht, es kann nur ein gutes Ende nehmen, wenn du dich für die richtigen Portale entscheidest.“
Ausgerechnet ich, der sich von allen Entscheidungen drückt.
„Woher soll ich wissen… “
„Das ist die eine Schwierigkeit, die andere ist, dass du die Portale erst aufspüren musst.“
„Mhm und diese komische Stadt ...“
„Die Realität in der wir uns jetzt befinden, ergibt sich aus der Raum-Zeit-Abnormalität und deinem eigen, erweiterten Unterbewusstsein. Aus irgendeinem Grund beschäftigt dich anscheinend das Konsumverhalten deiner Artgenossen.“
„Soll das heißen wir befinden uns in so ner Art Gedankenwelt … in meinem Hirn?“, schließe ich.
„Sozusagen.“
„Oh-mein-Gott!“

Verabredung mit dem Belzebub

Wir gehen jetzt schon eine halbe Stunde. Ich trotte voraus, Kadelen wachsam hinterher. Diese Zone muss hunderte Kilometer lang sein. Ich blicke mich immer wieder um, aber sie zuckt nur mit den Schultern.
Die Statisten ziehen grinsend vorüber. Alle mittleren Alters. Alle gestriegelt und braungebrannt. Meine Armbanduhr zeigt fünf vor fünf an. A-ja, wegen der veränderten Raum-Zeit! Mir sticht da eine Litfaßsäule ins Auge. Da war doch was … Ich gehe mal zu ihr hin. A-ha, Zigarettenwerbung.
„Nicht da lang!“, bricht Kadelen das Schweigen.
„Wieso?“
„Ich empfange negativ geladene Masseteilchen.“ Sie fuchtelt mit so einer Art Tricorder umher.
Ich schnuppere angestrengt. „Also ich empfange nichts.“ Da hinten blinkt doch was!
„Torben“, befiehlt sie, „bleib stehen!“
Fortgeschrittene Technik und weibliche Intuition trifft meinen Dickschädel.
„Wer ist denn hier der Retter des Universums, hä?“, rufe ich.
Es blinkt in der Gasse, ganz hinten, in der Dunkelheit. Da muss es sein!
„Torben, ich kann dir nicht dahin folgen, bitte komm zurück!“, fleht sie. Das gefällt mir natürlich.
„Komme gleich wieder, hab keine Angst!“
Ich frage mich, warum ich selbst keine verspüre. Muss Neugierde sein.
Mit jedem Schritt wird es dunkler. Es ist, als ob das Licht von dort hinten eingesogen werden würde.
„Da bist du ja endlich!“ Eine versoffene, männliche Stimme dringt an mein Ohr.
„Hallo?“ Ich kneife die Augen zusammen, kann aber nichts erkennen. Schließlich nehme ich die Umrisse einer Gestalt war, die sich zu mir bewegt. Ich glaube, sie schwebt sogar. Er hat mich mit einer Taschenlampe hergelockt, der Halunke!
„Gut, dass du meiner Einladung gefolgt bist!“, sagt er.
Einladung? Meint er etwa die abgefahrene Zeitungsannounce von heute früh?
„Wie konntest du mich durch die Zeitung kontaktieren?“, frage ich schließlich, „und warum eigentlich?
Die Stimme grollt: „Bist du nicht der große Retter, der Milchmann?“
„Milchmann?“
„Ja, der Retter der Milchstraße!“
„Hm, … kannst du mich nicht einfach Retter des Universums nennen?“
„Viel zu lang und so steht es nun mal in den Prophezeiungen!“
… So schlecht hört sich' s auch wieder nicht an.
„Okay, nenn mich wie du willst. Sag mal, du bist nicht zufällig an so Portalen vorbei gekommen? Jetzt komm doch mal ins Licht, ich seh dich ja gar nicht!“
„Mag sein, großer Milchmann!“
„So sag er mir: wo jetzt?“
Die Gestalt nähert sich. Er ist in einen schwarzen Umhang gehüllt. Von seinem Gesicht kann man nur die rotglühenden Augen sehen. Auf dem Kopf trägt er einen Zylinder. Verdammt, hätte ich Schiss, wenn ich nicht der Milchmann wäre!
„Hier!“ Er streckt mir zwei Spielkarten entgegen: ein Pik-Ass und eine Kreuz-Sieben. „Wähle, denn du bist der Entscheidende!“
Das sollen Portale sein, will der mich verarschen? Da pass ich doch gar nicht durch.
„Hast du nicht was Größeres für mich?“
„Also wenn sie dir nicht gut genug sind“, sagt Auge beleidigt, „dann wünsch ich noch viel Erfolg bei deiner Suche!“
„Moment, Moment, Moment!“ Ich kratzte mich am Hinterkopf. Besser ich nehm jetzt eine, anstatt noch Stunden in Komparsenstadt zu verbringen. „Kreuz sieben!“
Der Typ lacht wie ein Lungenkranker. Ein Schauer jagt mir über den Rücken.
„Oder doch vielleicht die andere?“, sage ich schnell.
Das Lachen verstummt. „Was jetzt?“, fragt er.
„Kann ich eigentlich auch beide haben?“
„Nein, entscheide dich für eine! Das kann doch nicht so schwer sein!“
„Okay, dann, dann … nehm ich die Pick-Sieben.“
...
„Ich hab aber keine Pick-Sieben!“
„Hast du gar kein Herz?“
„Aaaaach!“ Auge ist ganz schön genervt. Ist aber auch nicht leicht. Es geht schließlich um' s Universum.
„In Ordnung, dann nehm ich halt die erste.“
„Eine weise Wahl, Milchmann!“
Er schnippt sie mir rüber und sie landet direkt auf meiner Hand.
„Hey! Das war ganz schön cool, Alter!“, bemerke ich anerkennend. „Kannst du dass auch ein zweites Mal?“
„Sicher kann ich das“, behauptet Auge.
„Niemals!“, sage ich.
„Sieh und staune, Milchmann!“
Als die zweite Karte landet, gebe ich Gas. Ich renne um mein Leben und werfe Mülleimer dabei um. Auge ist gar nicht amüsiert und kommt hinterher geflitzt.
„Kadelen!“, rufe ich, „welche ist die Richtige?“
Sie steht immer noch an der Litvassäule. „Sind das die Portale?“
„Gleich hab ich dich, du Würstchen!“, höre ich den Teufel immer näher kommen.
„Ist wohl nichts mehr mit großer Milchmann, oder was?“.
„Wähle eines aus!“, schreit Kadelen.
„Ja, aber…“
Ich spüre eine eisige, knochige Hand an meinem Nacken. „Nimm deine Wichsgriffel von mir!“, schreie ich.
„Wähle endlich!“, ruft Kadelen.
„Ich wähle Tor Kreuz-Sieben!“, brülle ich in den Himmel.
Plötzlich wächst die Karte zur Größe einer Plakatwand. Ich verliere den Boden unter den Füßen und stürze in einen Strudel aus Raum und Zeit und … Lakritze.

Im Albtraumland

Tante Renate – Stoff für reichlich Kindheitstraumata. Gut an ihr war, dass sie im Norden lebte. Weit weg von unschuldigen Kindern. Aber nicht weit weg genug, um mir das alljährliche Geburtstagsdrama zu ersparen. Sie steht also vor mir, ihre kalten, feuchten, pink schimmernden, mit Stoppeln gekrönten Lippen spitzen sich, ich erleide Schauer um Schauer, und dann … Ich erspare mir den restlichen Teil der Rückblende. Auf jeden Fall kannte ich den Grund für ihre Verkommenheit: Ihre unstillbare Leidenschaft für Bärendreck, diese eklige, schwarze Süßspeise, würg!
Ich stehe auf einem Hügel Lakritze, betrachte das Lakritzgebirge mit dem angrenzenden Süßholzwald und denke mir:
„Ja, das ist wirklich der Leibhaftige gewesen. Welch perverser Geist sonst könnte ausgerechnet mich ins Lakritzeland verbannen?“
Stunden später trotte ich noch immer den schwarz gepflasterten Weg entlang, keine Spur von Kadelen, meine Hoffnung schwindet und die des Universums mit ihr. Die Beine werden schwerer und schwerer. Doch es hilft nichts, ich muss weiter.
Wieder Später wate ich durch den L.-Sumpf. Ich will und kann dieses Wort nicht mehr vollständig denken. Meine geliebten und einzigen Schuhe bleiben in L. stecken. Selbst mein Pulli und meine Jeans wurden mir entrissen, doch es gelingt mir mit letzter Kraft, es heraus zu schaffen.
Irgendwann liege ich nackt und mit L. beschmiert auf der unendlichen Weite der L.-Steppe. Ich möcht nicht mehr. Die schwarze Sonne brennt. Ich starre in die L.-Wolken und denke mir: „So das war' s, der Milchmann gibt auf. Was ein beschissener Abgang!“
Wieder Stunden später. Meine rechte Gesichtshälfte klebt auf dem Boden. Die Hitze lässt die Luft über der schwarzen Ebene flimmern. Eine salzige Träne rinnt herab, tränkt die herbsüße Steppe wie ein leiser, letzter Protest. Ich schließe die Augen …
… und öffne sie noch ein letztes Mal. Da, eine Fata Morgana am Horizont. Ein Motorrad wirbelt Staub auf. Ich höre das Bollern des V2, spüre die Vibrationen. Echt geil gemacht, die Hallu. Respekt für meinen kranken Geist! Die Harley kommt näher, wird geparkt, der Fahrer steigt ab beugt sich zu mir herunter und sagt:
„Um Himmels Willen, Torben?“
„Bist du' s, Kadelen?“
Sie nimmt meinen Kopf auf ihren Schoss.
„Bist du aus – Lakritze?“, frage ich.
„Natürlich nicht, aber bei dir wär ich mir nicht so sicher.“

Eine halbe Stunde später bollern wir über den Highway. Die Landschaft hat sich allmählich und zu meiner Beruhigung verändert. Vereinzelnden Kakteen und trockene Sträucher ziehen an uns vorbei. Es sieht hier aus wie im Wilden Westen. Ich sitze hinten auf dem Sozibrötchen und klammere mich an Kadelen. Sie hat mir was zu trinken gegeben, mich notdürftig gesäubert und mir mit einen Lendenschurz ausgeholfen, den sie kurzerhand aus ihrem T-shirt gerissen hat. Der silberne Stoff flattert über meinem nackten Hintern. Aber es ist mir egal, denn hier ist keine Seele weit und breit, die mir was abgucken könnte. Und wenn schon.
„Wo hast du denn das Motorrad her?“, rufe ich ihr ins Ohr.
„Hab' s mir geborgt!“, schreit sie zurück.
„Und von wem?“
„Von Typhon. Na ja, eigentlich hab ich‘ s aus seiner Garage gestohlen. Da standen noch mehr. Er sammelt die anscheinend.“
„Ach so.“ Hauptsache der Tank ist voll. „Und, wo fahren wir jetzt hin?“
„Na, erst mal weg von Typhon, natürlich!“
„Klar!“ Ich blicke vorsichtshalber nach hinten. Nichts zu sehen.
„Ähm, Kadelen?“
„Ja?“
„Wer ist denn dieser Typhon nochmal?“
„Ach nur so ein riesiges Ungeheuer, hab ihn mal auf ner Party kennengelernt. Ist eher so ein Intellektueller, der sich gern reden hört.“
„Also nicht gefährlich oder so?“
„Na ja, er hat 100 Drachenköpfe, man weiß nie so recht, mit welchem man reden soll. Das kann in einer Disskussion schon gefährlich werden.“ Sie lacht, findet das wohl witzig. „Übrigens, er kommt auch in der griechischen Antike vor.“
„Interessant! - Kannst du nicht ein bisschen schneller fahren?“
„Keine Sorge, der holt uns schon nicht ein.“
In diesem Moment macht sich mit lautem Knall eine Fehlzündung bemerkbar. Der V2 stottert. Kein Sprit mehr. Wir rollen noch eine Weile im Leerlauf, dann kommen wir zum Stillstand.
„Ups“, meint Kadelen.
„Und jetzt?“, frag ich.
„Hm, weiß auch nicht so recht …“
Ich blicke mich noch mal um und erkenne eine Staubwolke am Horizont, die sich uns tosend und unaufhaltsam nähert.
„ …vielleicht rennen?“

Ich sitze im Schneidersitz auf dem Highway und warte. Angesichts des sich nähernden Unheils, scheint jede Flucht sinnlos. Die Harley steht ein Stück entfernt. Kadelen schreibt eine SMS mit dem Tricorder. Ihr schwarzer Zopf flattert im Wüstenwind. Sie scheint sich keine großen Sorgen zu machen. Vielleicht kann sie sich aus der Geschichte herausreden. Labern kann sie ja.
Irgendwie haben die vielen bedrohlichen Situationen mich verändert. Es ist nicht so, dass ich keine Angst verspüre, aber ich kann besser mit ihr umgehen. Der Kick bleibt aus. Ich atme ruhig und fokussiere das Riesenungeheuer, wie es rast und tobt und sich auf uns zu bewegt. Immer mehr Details kann ich ausmachen. Es läuft auf den Hinterbeinen. Flügel hat es keine. Dafür hat es wirklich verdammt viele Köpfe. Aber hundert? Niemals, - Halt doch mal ruhig! - das sind höchstens an die dreißig. Dass die Leute immer so übertreiben müssen!
„Also gut“, sagt Kadelen, „ich hab mal alles überschlagen. Wenn man die neuronale Struktur dieser Situation betrachtet, müssten die nächsten Portale im Zusammenhang mit dem Ungeheuer erscheinen. Eine Konfrontation ist sowieso unausweichlich.“ Ach nee!
„Aber das mit der Harley biegst du wieder hin“ fordere ich. „Dafür kann ich ja nichts.“
Kadelen macht ein Gesicht, als hätte sie in eine Zitrone gebissen. „Sorry, aber es wär wohl das Beste, wenn ich jetzt verschwinde.“
„Wie jetzt?“
„Ich werde mich weg teleportieren.“
„Und was ist mit mir?“
„Das ist unmöglich. Du kannst nur durch die Portale verschwinden.“
„Du willst dich also so mirnichtsdirnichts aus dem Staub machen?“
„Versteh mich nicht falsch, es ist kompliziert.“
„Find ich nicht. Ist doch ziemlich klar, alles.“
Sie schaut mich mitleidig an, dann sagt sie:
„Vertrau mir, du wirst es verstehen!“ Und mit einem Lächeln löst sie sich in Luft und Seifenblasen auf.
„Ja, ja, der Milchmann macht das schon.“

Die Konfrontation mit dem Kritiker

Das Ungeheuer ist nun fast da. Es bremst mit einer gewaltigen Staubwolke ab und stampft zur Harley, hebt sie vorsichtig zwischen Daumen und Zeigekralle hoch und einer der Drachenschädel schnuppert daran. Die anderen haben mich längst entdeckt. Einer ruft: „Ey Jungs, guckt mal, der da drüben, den machen wir platt!“ Andere brüllen einfach rum. Unter intellektuell stell ich mir was anderes vor.
Ich stehe auf, räuspere mich und rufe:
„Hallo Herr Typhon, ich hab das Motorrad nicht geklaut, ganz ehrlich!“
Der Titan stampft auf mich zu. Die Erde erzittert unter seiner Last. Ein Koloss von zwanzig Metern Höhe verfinstert die Sonne.
Ein Drachenkopf mit Brille und Ziegenbart, er scheint der Verhandlungsführer zu sein, beugt sich zu mir herunter.
„Winzling“, sagt er majestätisch, „du steckst tief im Schlamassel.“
Immer noch besser als Lakritze. Mal versuchen, ob ich es mit labern hin krieg.
„Ich bin nur zufällig hier vorbei gekommen und hab mir gedacht: 'Dieses herrenlose Motorrad, das da so rumsteht, würde doch ausgezeichnet in die Sammlung des unbezwingbaren Typhon passen'. Welch freudiger Zufall also, dass Sie jetzt persönlich gekommen sind. Dann kann ich ja gehen. Also …“
„Schweig still!“, brüllt der mit der Brille. Er hat Ähnlichkeit mit dem Direktor meiner alten Schule. Oh Mann, jetzt merk ich‘ s: da sitzt ja das ganze Lehrerzimmer auf den Hälsen. Sogar Hansen, der Sportlehrer! Der hat mich noch nie leiden können.
„Lasst uns ihn auffressen, er geht mir jetzt schon auf die Nerven!“, ruft dieser.
„Das kann ich gut nachvollziehen, aber …“, ich füge eine dramatische Pause ein und gehe dabei bedeutungsvoll auf und ab, „ … aber ich gebe Ihnen zuvor noch etwas zu bedenken: Es ist nämlich so, dass sich dort oben in der Atmosphäre ein Cluster gebildet hat, der sich irgendwie in ein schwarzes Loch oder ähnliches verwandeln wird, und das alles und jeden – und somit auch Sie! – verschlingen wird, wenn nicht…“, ich erhebe feierlich Stimme, „ …wenn nicht ich, der intergalaktische Milchmann, durch das richtige Portal schreite und dem Ganzen Einhalt gebiete … noch dazu bleibt übrigens die Zeit nicht hängen!“
Dreißig Augenpaare mustern mich. Dann sagt der Professor – hatte ich den nicht in Deutsch? – mit Würde und Gelehrsamkeit in der Stimme:
„Mein Lieber Milchmann, oder wie du dich zu nennen scheinst, das ist nun wahrlich die unglaubwürdigste Geschichte, die mir je zu Ohren gekommen ist. Man könnte meinen, du hättest dir ohne Plan und Richtung etwas zusammengereimt, es mit pseudowissenschaftlichen Begriffen gespickt, um den Ganzen eine Sci-Fi-Note zu geben und würdest dich nun von einem Kapitel ins nächste hangeln, ohne einen Funken Ahnung, wohin das letzten Endes führen soll.“
„Was für Kapitel?“
„Und dann dieser Heldenmythos. Wie oft hat‘ s das schon gegeben? Ist dir da wirklich nichts Besseres eingefallen?“
„Aber es muss doch immer einen Helden geben und … ich bin‘ s doch, der Milchmann“, schmolle ich.
„Das ist ein so erbärmlich schlechter Plot und ich kann mir nicht vorstellen, dass du so jemanden bei der Stange halten kannst. Mich hast du nicht überzeugt!“ Das reicht jetzt aber!
„Ja, Mann, ich hab‘ s kapiert! Und ich möchte nur mal so eben klarstellen, dass Ihr Gelaber weder was ändert noch jemanden nützt!“
„Diese Füllwörter, hör auf, hör bitte auf! Kommt Kollegen, diesem ist nicht weiterzuhelfen. Reine Zeitverschwendung, lasst uns verschwinden.“
Der Gigant erhebt sich und will sich aus dem Staub zu machen. Aber das kann ich jetzt nicht so stehen lassen.
„Hey, ich soll nicht glaubwürdig sein oder was? Scheiße, was bist du dann, mit deinen annähernd dreißig Köpfen und dummen Sprüchen? Eine Nebenrolle, ein aufgepumpter Komplex meines intellektuellen Versagens bist du! Komm schon, fress mich auf, wenn du es schaffst! Aber du kannst mich nicht mal anknabbern!“ Ich merke wie ich aus mich heraus wachse. Man bin ich drauf! Sicher ein Flashback von der Lakritze.
Tatsächlich, er bleibt stehen. Der Professorenschädel dreht sich zu mir um, schüttelt sich und macht nur „Z-z-z, wie erbärmlich!“.
Der nimmt mich nicht ernst! Ich bin doch auch wer! Milchmann oder nicht, jetzt lass ich‘ s krachen.
Da schwebt ein kleines Päckchen am Fallschirm vom Himmel. Ich fange es auf, darin ist ein Griff eingepackt und ein Zettel. Darauf steht: Jetzt bist du soweit! Grüße, Kadelen.
Ich umschließe feierlich den Griff mit beiden Händen. Eine gleißende, metallisch schimmernde Klinge erwächst aus ihm. Geil, ein Samuraischwert aus einer anderen Dimension!
Ohne weitere Anweisung begreife ich, was zu tun ist. Ich renne schreiend auf das Ungetüm zu, hole aus und lasse die Klinge durch die Sehnen seines linken Beins gleiten. Typhon jault. Immer wieder ramme ich das Schwert ins Bein, springe hoch und schaffe es so an Höhe zu gewinnen. Jetzt ist der erste Schädel dran. Zuerst verarbeite ich seine Ohren zu Filet. Violettes Blut schäumt aus den Wunden. Das Monster versucht krampfhaft mich loszuwerden, aber es ist immer ein Hals oder Schädel im Weg. Wie ein Mördermoskito setzte ich ihm zu, hiebe wie von Sinnen in sein Fleisch. Typhon brüllt und rast. Mein Katana pfeift durch die Luft.
Irgendwann lande ich keuchend auf dem Boden. Das Schwert ramme ich daneben. Ich bin mit Typhons violetten Lebenssaft getränkt, unbesiegbar und mit schier endlosen Intelligenz beseelt.
Der Titan taumelt, gurgelt Blut, mit den meisten Hälsen unbekopft fällt er rücklings in die staubige Ebene. Ein letztes Mal hebt sich der geschundene Brustkorb und mit einem gestöhntem „Milchmann!“ die Seele zu entlassen. Typhon ist tot.
Was hab ich getan? Wie konnte es nur soweit kommen? Und, wie soll ich ihn jetzt nach den Portalen fragen?
Da höre ich ein leises Stöhnen. Es kommt von hinter dem mächtigen Leib her. Ich ziehe das Schwert wieder aus der Erde, schreite kampfbereit um das Ungetüm herum. Da, etwas entfernt, liegt ein einsamer Kopf. Er scheint noch zu leben.
„Milchmann“, presst er hervor. „Komm zu mir, Milchmann!“
Ich lasse die Waffe sinken und trete näher. Dieser Schädel hat Ähnlichkeit mit meinem Kunstlehrer, Herrn Kalowsky. Die Zunge hängt aus seinem riesigen Maul, doch er scheint zu grinsen.
„Herr Kalowsky, sind Sie es?“, frage ich.
„Du hast mich gerettet.“
„Hab ich das?“
„Ja, du hast mich befreit.“
Ich verstehe nicht... „Aber Sie werden doch sterben.“
„Besser einen Tod mit freiem Geist, als hundert Leben in geistiger Versklavung.“ Er hustet einige Male.
„Aber es wird für Sie enden, Herr Kalowsky! Sie werden zu Grunde gehen!“
„Kennst du nicht den Phönix, wie er sich aus seiner Asche erhebt und in unerreichte Höhen emporsteigt? Du hast mir diese tödliche Wunde zugefügt, doch nicht, um mich von meinem Dasein zu trennen, sondern vielmehr vom unnützen Wissen anderer und derer heuchlerischen Nachahmung. Jetzt koste ich die Süße meiner letzten Stunde mit dem Bewusstsein, dass das kranke System mich nicht bezwingen konnte. Diese Wunde ist die Pforte für meine Neuentwicklung und höhere Daseinsform. Du hast mir die Freiheit geschenkt, Milchmann.“
„Gern geschehen“, sage ich traurig. Ich merke wie alles verschwimmt. Jetzt bloß nicht flennen! „Sagen Sie mir Herr Kalowsky, sie haben doch nun freie Sicht, warum soll ich Portale finden?“
Der Schädel zittert, die dunklen Augen drehen sich nach oben, dass man nur das Weiße sehen kann.
Dann blickt er mich wieder an, auf eine Weise, als könne er tief in mir lesen.
„Sie stehen für deine Entscheidungen. Und es sind immer zwei, weil du ständig zwischen zwei Möglichkeiten wählst.“
„Warum dieses Entscheiden?“
„Damit du dich selbst erkennst.“
„Hmm und wenn ich mich selbst erkannt habe, wird das dann wirklich Auswirkungen auf‘ s gesamte Universum haben?“
Der Schädel verzieht das Maul zu einem Lächeln. Dann spuckt er lila Blut und flüstert mit letzter Kraft:
„Puffz.“
„Was?“
Shit, er ist hinüber.

So was wie ein Ende

Und so richtig schlau wurde ich aus Kalowskys Rede nicht gerade. Oder, doch? Er hat die Portale als Möglichkeiten bezeichnet. Ich muss also alle Möglichkeiten abschätzen und auf zwei Gegenpaare kommen, die sich dann als Portale materialisieren, von denen wiederum eines in eine neue Bewusstseinsschleife führt. Ganz klar.
Ich schaue in die flimmernde Weite des Horizonts.
Was soll diese ewige Schwarz-Weiß-Malerei? Scheiß Opportunismus!
Langsam hebe ich das Schwert und lasse die Klinge in der Sonne blitzen. Dann werfe es mit aller Kraft gegen die Bläue des Himmels. Die wirbelnde Klinge zerschneidet ihn wie eine Leinwand. Ein Riss ist entstanden. Ich trete langsam näher und erblicke … lauter graue Anzugfuzzies. Sie stehen mit grinsenden Visagen da und klatschen. Die applaudieren mir! Bis auf den einen auf dem Boden, der mein Schwert gefangen hat.
Ich trete also aus der Einscheidungssteppe in die Wirklichkeit. Ein Fuzzi mit einem Monokel tritt mit ausgetreckter Hand auf mich zu. Er sieht aus wie das Monopolymännchen.
„Ich beglückwünsche Sie, Herr Milchmann, ehrenwerter Retter des Gesamtreiches intergalaktischer Planeten und dritter Anwärterwelten …“
„Ach, sagen Sie einfach Milchmann zu mir …“
„Sie haben die Katastrophen-Sekunde gemeistert, indem sie den Cluster-Algorhythmus irreparabel beschädigt haben, was zur Folge hatte, dass die Zerstörung des Universums verhindert werden konnte.“
„Ja, wenn Sie das meinen … Kadelen!“
Sie drückt sich mit einem hellgrünen Festtagstrainingsanzug durch die Menge und fällt mir schließlich in die Arme. Wow, jetzt knutscht sie mich! Mit Pfirsichgeschmack.
„Du hast es geschafft. Jetzt wird alles gut, Torben.“
„Mhm … Aber darf ich jetzt nie wieder Rockmusik hören?“
„Doch, dein Bewusstsein hat die Stufe der offenen Großhirnrinde erreicht. Somit hast du Macht über das Schicksal erhalten.“
„Klasse! Aber ohne deine Hilfe wären wir den Bach runtergegangen, Kadelen. Danke für das Schwert. Was ist das denn für eins?“
„Ein japanisches.“

Und somit blieb der Kosmos bestehen und der Tag Iks ging mit viel Wein und Gesang seinem Ende entgegen. Wenn man denn so will.
 

nananuk

Mitglied
Hallo Aligator,

deine Geschichte finde ich hammerhart fantasievoll geschrieben. Ehrlich gesagt, es ist die fantasievollste Geschichte, die ich bisher in meinem Leben lesen durfte. Da kann ich dich nur um deine Kreativitaet beneiden.

Die Handlung kommt mir wie ein Trip vor. Ich selbst habe noch nie Halluzinogenes genommen und kann daher nur mutmassen, dass dabei manchmal so ein Kopfkino wie in deiner Geschichte zustande kommt - vielleicht mangelt es mir aber einfach nur an Fantasie.

Sehr gut finde ich auch den erzaehlerischen Verlauf. Es faengt erst ganz realitaetsbezogen an, und gleitet dann immer tiefer ins fantastische ab - wie ein Strudel zieht es den Leser immer tiefer in den Bann.

Das Ende haengt mir jedoch irgendwie in der Luft. Wenn es Fantasy ist, finde ich das ok, aber Science Fiction? Die Geschichte gehoert meiner Meinung nach in die Fantasy-Ecke.

LG, nananuk
 

Aligator

Mitglied
Hi nananuk!

Vielen Dank für deinen Beitrag.
Habe mich sehr über die Lorbeeren gefreut.
Gut finde ich, dass du keine Drogen genommen hast.
Da ich früher alles mögliche ausprobiert hab, kann ich dir versichern, dass man da nicht solche Filme erlebt. Es mag sein, dass meine Art zu denken dadurch beeinflusst worden ist, mir neue Wege eröffnet wurden. Aber letztendlich führt das ganze in eine neblige Sackgasse, an der (unteranderem) auch die Kreativität zu Grunde geht. Aber das nur nebenbei.
Du hast recht, ist sicher nicht ganz Sci-Fi, aber auch nicht Fantasy. Meiner Meinung eher surrealer, philosophischer Selbstreflektionismus, oder so. Ist bestimmt nicht jedermanns Sache. Aber schön, dass ich dich unterhalten durfte. Merci beaucoup.

Grüße,
Alig.
 

jon

Mitglied
Teammitglied
Pluspunkt: der Sarkastische Tonfall. Manchmal neigt er ein wenig zu "zu wenig erzählt", aber okay.

Großer Minuspunkt: Was erzählst du da? Ich verstehe nur Bahnhof: Ein Haufen Züge fahren hin und her und Leute steigen ein und aus – aber weder weiß ich, wo die Züge hinfahren (bei einem würde es mir schon reichen), noch warum (haben sie überhaupt ein Ziel? hat sie jemand „losgeschickt"? weswegen?), noch wer von den Leuten wo einsteigt und warum. Am Ende (immerhin hab ich es in einem Ruck durchgelesen, keine Selbstverständlichkeit bei "sowas") fühlte ich mich nicht "gut unterhalten", im Gegenteil.

Ich denke, sowas:
Meiner Meinung eher surrealer, philosophischer Selbstreflektionismus, oder so.
geht (als Text für Leser) eher selten gut – das ist das Grundproblem. Man könnte es mildern, indem der Ich-Erzähler nicht so flach bleibt. Du bist da wahrscheinlich in eine der "beliebtesten" Fallen (vor allem bei Ich-Erzählungen, aber nicht nur) getappt: Der Autor hat ein recht lebendiges Bild vom LyrIch (in dem Fall wohl sich selbst), "vergisst" aber, das im Text zu zeigen. Beim Überarbeiten ruft er dieses Bild in sich ab, der Leser jedoch kann auf diese Quelle nicht zugreifen.

Wenn das LyrIch zur Indentifikationsfigur ausgebaut wird, gewinnt der "Hä?"-Effekt der Handlung einen anderen Charakter. Denke ich.

"Schräge" SF hat durchaus Publikum, es lohnt sich wahrscheinlich, diesen Text für dieses Publikum aufzuarbeiten.
 

Aligator

Mitglied
Hallo Jon!

Danke für dein Kommentar, und dass du es ganz gelesen hast;)

Ich werde (so Gott will) versuchen, den Ich für den Leser etwas mehr Farbe zu geben. Ich gebe dir Recht mit dieser Falle, da hat' s mich wohl voll reingehauen. Hmm, ist gar nicht so leicht, ständig das zu beschreiben, was der Ich gerade tut, oder wie er es tut, wenn man in seinem Schädel steckt. Na hätt ich da bloß den Er genommen. Quatsch.

"surrealer, philosophischer Selbstreflektionismus, oder so", das rächt sich auf jeden Fall, wenn man das auch noch zugibt.

Das du nur Bahnhof verstehst, kauf ich dir nicht ab. Das hast du doch etwas überspitzt gemeint, auch das mit den Zügen, oder? Dieses "wohin wir fahren, warum, von wem, wo ist das Ziel, macht' s überhaupt Sinn"...
Mich würde interessieren, ob du das jetzt wirklich für dich so gesehen hast, oder ob du da für eine Leserschaft sprichst. Ist nicht bös gemeint. Das ist nur weil ich es echt nicht nachvollziehen kann, dass man du nur "Bahnhof" versteht. Oder weil in der Geschichte so ein Durcheinander herrscht?

„Das ist ein so erbärmlich schlechter Plot..."
Liebe Grüße,
Aligator
 

nananuk

Mitglied
Koentest du den Schluss der Geschichte nicht noch ein wenig erden?

Irgend ein passendes Ende fuer nen Antihelden..
...wie waers z.B. wenn der Milchmann schlussendlich bepisst im Bett aufwachen wuerde? Dann waere die Handlung auch nicht so galaktisch egozentrisch, wuerde dafuer ne ironische Note bekommen.

LG
 

jon

Mitglied
Teammitglied
"Ich verstehe nur Bahnhof" ist wirklich nur für mich gesagt. Ich schließe allerdings nicht aus, dass es andern auch so geht.

Dass du das mit dem Selbstreflektionismus erwähnt hast, hat mir immerhin erklärt, woher der Wind weht - ohne das hätte ich auch eher an kaum gelenkte (Drogen-)Fantasien oder einen etwas ausgeschmückten Traum gehalten. So kann ich immerhin annehmen, dass du irgendwas "mit Gehalt" hast schreiben wollen - Gehalt, den ich einfach nur nicht sehe. (Ein Effekt übrigens, der mich auch bei den Sterntagebüchern von Lem behindert.)

Ich erwarte nun nicht, dass Geschichten ihren "Gehalt" immer bretterbreit offenlegen – um Himmels willen! Das wäre öd wie sonstwas! Ich hätte halt nur gern (von mir auch gehalt"frei") eine Geschichte, wo ich den Plot verstehe („wer macht was warum wie?“ und als Sahnehäubchen. „was macht das mit ihm?“).

Konservativ, ich weiß …;)
 

Aligator

Mitglied
Hi nananuk!

Wenn du eine merkwürdige Geschichten als feuchten Traum enden lässt, entziehst du ihr die Grundlage, merkwürdig zu sein, denn das sind Träume ja immer ein wenig. Ich hab das schon gemacht und dann waren die Leser immer enttäuscht: Ach so, war ja nur' n Traum ...
Ich glaub eher, der Schluss kommt nicht so richtig gut rüber. Es ist so dass der Milchmann, der ein echter Held ist :), das Spiel gewinnt, indem er auf die Regeln pfeift und aus dem selbst geschaffenen Gefängnis seines Intellekts ausbricht.
Shit, jetzt mach ich scho wieder ein Subkommentar...
Ich danke dir für deine Rückmeldung!
 

nananuk

Mitglied
ein Vorschlag

Ja, wenn er einfach so aus nem Traum aufwacht, wirkt das ganze schon irgendwie abgedroschen.

Hier ist mir folgende Idee gekommen:
Mit Hilfe seines freudig dahinscheidenden Kunstlehrers hat er ja erkannt, dass er einfach nur in seinem Unterbewusstsein gefangen ist. Wenn er nun dieses Problem realisiert hat, koennte er auf die Idee kommen, dass das endgueltige Ausgangsportal er selbst ist. Also setzt er alles auf eine Karte, ueberwindet sein grosses Ego und meuchelt sich selbst.

Du koenntest ihn dann neben seiner Angebeteten im Bett aufwachen lassen, also in einer anderen Realitaet/Dimension.
Dann waere das Ende mehrdeutig ..und ich liebe mehrdeutige Geschichten :)

..sorry wegen dem Generve um das Ende, aber deine Geschichte hat mein Jagdfieber geweckt, ich will sie zur Strecke bringen;)
 

Aligator

Mitglied
Hallo jon!

Danke für deine Erklärung. Ich werde mir das Ding hinsichtlich deiner Einwände nochmals vornehmen. Vielleicht etwas greifbares einbauen, wie ein Ring oder Laserschwert ...

Es ist ja auch so, dass wir meinen unser Leben und die Dinge um uns herum einigermaßen im Griff zu haben. Die Wirklichkeit der Dinge ist unfassbar anders. Und so fühlt sich der Protagonist. Er soll auf irgendwas reagieren und versteht nicht, wozu und was das ganze soll. Als er verstanden oder gesehen hat, zerbricht der Glasmantel seiner Nachahmung und der Anweisungen und Sichtweisen der anderen. Er durchbricht die Menschenrealität, bei der man sich oft zwischen links und rechts, gut und böse, tue ich's oder lass ich' s entscheiden soll. Das wollt ich verpacken.
Naja...ich kapier z.B "Anhalter durch die Galaxis" nicht.

Grüße,
Aligator

Hallo nananuk!

Das mit dem Harakiri hat was. Der Prophet sagt: Sterbt bevor ihr sterbt. Also wer den inneren Schweinehund domestiziert hat, was für diesen einer Schlachtbank gleichkommt, dessen Wollen wird Eins mit dem universalen Willen.
Aber das trau ich Torben jetzt nicht ganz zu. Da reicht mal der erste Schritt in Richtung Ver-rückt-Sein, oder so.
Und wenn er neben der aufwacht ... na dann haben wir ja wieder unseren Traum (und Träume sind Schäume).
Find ich cool, dass dich das so beschäftigt. Hat sich für mich schon gelohnt, das Ganze :)

Grüße,
Aligator
 

FrankK

Mitglied
Hallo, Aligator

Eine feine, sämtliche Sinne verwirrende Story mit dem Basisplot „Suche“ oder „Wanderung“ hast Du uns hier präsentiert. Eine Symphonie der verrücktesten Bilder, in bizarrer Abfolge, den Gemälden von Hieronymus Bosch nacheifernd.
Leider stehe auch ich etwas verloren davor, es fehlt das „wohin“, das Ziel, auf welches die Geschichte zuläuft. Das Ende ist noch etwas zu offen, die resümmierende Wandlung des Helden nach seiner Rückkehr in die Normalität.

Als SF würde ich das ganze durchaus einsortieren, es gibt genügend „wissenschaftlich basierte“ Erklärungsansätze (das StarTrek-Gelabere ;) ) von Kadelen.

Den gesamten Plot in wenigen Worten zusammenzufassen ist bei diesem Werk einfach nicht möglich. ;)

Erbsenzählerei:
Ich blicke mich um, keiner da, der mir weitehelfen könnte.
Korrektur: weiterhelfen

Ich runzle die Stirn, nehme [strike]ich[/strike] einen Schluck und sage aus einer Laune heraus:
Irgendein [strike]ein[/strike] Progressiv-Rock aus den Siebzigern,
„Was-willst-du?“, kommt von.
Kommt von ... ???

Auch dein Parasymphatikus, übrigens!
Korrektur: Parasympathikus

Da fängt sie an zu strahlen und sagt:
„Na prima!“
Kein Zeilenwechsel nötig.

Dann schließt sie kurz die Augen und fängt an:
„Nein, ich bin nicht von hier ...
Ebenfalls kein Zeilenwechsel nötig.

Ausgerechnet ich, der sich [blue]von[/blue] allen Entscheidungen drückt.
Wohl eher: vor

„Woher soll ich wissen… “
Leerzeichen vor den drei Punkten, keines dahinter. Evtl. noch ein Fragezeichen.

„Mhm und diese komische Stadt ...“
Vom Gefühl her würde ich ein Komma hinter dem „Mhm“ setzen, bin mir aber nicht sicher. Ebenfalls evtl. noch ein Fragezeichen.

Verabredung mit dem Belzebub
Korrektur: Beelzebub

… So schlecht hört sich' s auch wieder nicht an.
Die drei Punkte sind, meines Erachtens, überflüssig.

„Ist wohl nichts mehr mit großer Milchmann, oder was?“.
Da ganz am Ende hat sich ein Erbschen versteckt. Ich meine – ein Pünktchen. ;)

Vereinzelnden Kakteen und trockene Sträucher ziehen an uns vorbei.
Korrektur: Vereinzelte

Eine Konfrontation ist sowieso unausweichlich.“ Ach nee!
Hinter der wörtlichen Rede hätte jetzt ein Zeilenumbruch gepasst.

mit Würde und Gelehrsamkeit in der Stimme:
„Mein Lieber Milchmann,
Hier benötigt es wieder keinem Zeilenumbruch.

unbesiegbar und mit schier endlosen Intelligenz beseelt.
Korrektur: endloser

Ich verstehe nicht... „Aber Sie werden doch sterben.“
Die drei Punkte ergeben irgendwie keinen Sinn, wohl eher ein Doppelpunkt.

Dann werfe es mit aller Kraft gegen die Bläue des Himmels.
Fehlt da ein „ich“?

Gesamteindruck
Total Cool und herrlich Schräg kommt dieses Stück daher, allerdings fehlt auch mir die gewisse „Richtung“.
Die Story beginnt, indem er aus einem verrückten Traum erwacht (die Sache mit dem Kästchen).
Die Story könnte ebenfalls damit enden, dass heißt, nachdem als Krönung des Festes diese „Kästchengeschichte“ als Abschlußzeremonie wiederholt wird.

Und er erneut aufwacht. Allerdings verhält er sich anders, nicht mehr so negative Selbstbetrachtungen. Beim erneuten Blick in den Spiegel wäre auch die Chance, den Prot zu Charakterisieren.
Und erneut U-Bahn fährt, diesmal allerdings sein Ziel erreicht.
Und hier, in der U-Bahn-Station entdeckt er vielleicht ein Plakat, auf dem in einer Wanderausstellung historische, japanische Schwerter gezeigt werden. Das abgebildete Schwert soll das älteste sein, er erkennt es.

Nun könnte, nach belieben, vielleicht auch Kadelen wieder auftauchen, oder einfach nur ein Madel, dass wie sie aussieht. Das wäre aber dann doch vielleicht zu viel des guten. ;)


Anerkennende Grüße aus Westfalen
Frank
 

Aligator

Mitglied
Hallo Frank, vielen Dank für deine Textarbeit, auch für due tollen Anregungen! Ich freue mich schon auf meinen Urlaub, wenn ich endlich mal Zeit hab, mir die Geschichte vorzunehmen. supergut

Grüße,
Aligator
 

Aligator

Mitglied
Der Tag Iks

„Jetzt steck schon deine Hand rein“, sagt sie.
Ich starre auf das Kästchen, dann in ihr Gesicht, mit den Händen demonstrativ in den Hosentaschen. Mein Puls beschleunigt und ich beiße mir auf die Unterlippe.
„Und du bist dir sicher, dass da nicht irgend ein Scheiß drin ist?“, presse ich hervor.
Sie grinst dämonisch und ihre dunklen Augen funkeln.
„Tu – es!“
Ich blicke mich um, keiner da, der mir weiterhelfen könnte. Ich ziehe Luft durch die Nase und versuche runterzukommen. „Also gut.“
„Bitteschön!“, sagt sie und hält mir das Kästchen entgegen.
Mit zitternden Fingern bewege ich meine Hand zur Öffnung. Die kleinen, bunten Holzrauten am Kästchen schimmern in lila Farbnuancen. Ich bemerke, wie sich die Größenverhältnisse ändern. Das Kästchen wächst zur Truhe, die Umgebung schrumpft und schwindet. Alles scheint wie von einem Strudel dort ins Schwarze der riesigen Truhe eingesogen zu werden. Mein Arm wird länger und länger, schon kann ich meine Hand nicht mehr sehen. Ich versuche aufzublicken, aber alles besteht nur noch aus bunten Fäden. Etwas in mir sträubt sich noch, doch es hat keinen Sinn, ich lasse los und stürze mich hinein.

Am Morgen

Es gibt Tage, da wache ich ausgeschlafen und gutgelaunt auf.
Heute nicht. Der Wecker reißt mich aus meinen durchgeknallten Traum und ich erwache, als würde die Seele noch nicht am rechten Platz sitzen. Der Schädel drückt und mein Kreuz schmerzt. Solche Tage starten mit einem beherzten: „Fuck!“
Ich liege zerknüllt auf der Matratze und starre zur Decke. Jetzt kann mich nur noch eins retten: ein duftende, heißer, mit drei Löffeln Zucker verfeinerter Bohnenkaffee. Wie in Trance überwinde ich sämtliche Schmerzsignalisierungen meines Körpers und stapfe ins Bad. Ein Schwall kaltes Wasser ins Gesicht. Heute ist Donnerstag. Der unscheinbarste Tag der Woche. Keine Ahnung, warum' s ausgerechnet da donnern sollte. Ich blicke in die halboffenen Augäpfel mit den erweiterten Äderchen. Die dunkle Schmalzlocke klebt wie gewohnt nach links. Dort schimmert noch der Sabber im Bart.
„Du siehst so scheiße aus“, sage ich, als wäre ich mir soeben dieser Tatsache bewusst geworden und spucke ins Waschbecken.
Meine Küche, schon fünf Tage überfällig, verströmt einen faden Mief. Die Sonne tut ihr bestes, sich durch die milchige Fensterscheibe zu kämpfen. Ich kippe das Fenster und ziehe mit geschlossenen Augen die Kühle des Morgens ein. Wie ich das liebe! Die Vögel zwitschern, die Baustellen lärmen und durch die Häuserschluchten dringt das Tosen des Berufsverkehrs. Ich ziehe mir einen Senseo, mache ihm Platz auf dem Küchentisch und lasse mich stöhnend auf dem braunen Stuhl nieder.
Mein Blick wandert über das Chaos: Ungeöffnete Briefe, leere Dosen und ganz unten drunter die Zeitung von gestern. Ungeachtet der herunterfallenden Sachen ziehe ich sie hervor und erblicke eine unscheinbare, winzige Anzeige. Dort steht:
DU!
Ich runzle die Stirn, nehme einen Schluck und sage aus einer Laune heraus: „Wer, ich?“
WER SONST? steht da.
Also, was sich diese Fuzzies alles einfallen lassen, denk ich mir und schüttle den Kopf.
TREFFE MICH HINTER DER LITFASSSÄULE UM FÜNF!
„Warum sollte ich?“ Rippen die da Leute ab, einsame, einfältige Bürger, die sich dort eine schnelle Nummer versprechen? Ja, das ergibt Sinn!
ICH ERWATRTE DICH!
„Na dann, viel Spaß dabei!“
Aus purem Zeitvertreib lese ich mir manchmal solche Anzeigen durch. Es gibt schon kranke Gesellen, aber irgendwie amüsiert‘ s mich. Ich überfliege noch einige weniger originelle Texte, zerknülle schließlich die Zeitung zu einem Basketball und versuche mein Glück. Bumm! Voll ins Gelbe! Heute ist mein Glückstag, der Sack ist sogar umgefallen.
„Moment, steht heut nicht was an?“ Arbeitsamt um elf.
Da merke ich, dass ich noch achteinhalb Minuten habe, bis die U-Bahn fährt.

Im Tunnel

Wackelnde Leute sitzen mir gegenüber. Omas mit Taschen auf den Schößen und Schulkids, die wie blöd ihre Smartphones betatschen. Die sind mir für gewöhnlich wurscht, aber ich schaffe es nicht, diese kaugummikauende Schwarzhaarige gegenüber zu ignorieren. Immer wieder streift mein Blick ihren Pferdeschwanz. Er pendelt im Rhythmus zu meiner Musik, die aus den Kopfhörern strömt. Irgendein Progressiv-Rock aus den Siebzigern. Eine sphärische Klangschönheit umspult mich. Es ist einer dieser Momente, in dem sich das Universum zu verdichten scheint. Oh shit, sie guckt her!
Ich schaue schnell auf meinen Schoß, als hätt ich etwas Verbotenes getan. Dazu dieses abgefahrene Gitarrensolo. Ich schäme mich, aber warum eigentlich? Jetzt erst recht!
Vorsichtig hebe ich den Kopf. Oh, Mann, sie schaut immer noch zu mir herüber, mit so einem verschmitzten Lächeln. Irgendwo hab ich die doch schon mal gesehen …Was für einen merkwürdigen, silbrig glitzernden Trainingsanzug die anhat. Der Gitarrenguru hebt gleich ab, er ist schon am 18. Bund. Da sagt sie etwas, ganz langsam.
Ich versteh‘ s nicht. Und Lippenlesen zählt auch nicht zu meinen Stärken. Oder doch? Hat sie nicht „I love you“ gesagt?
Ich setze den Köpfhörer ab.
„Hä?“
„Was-willst-du?“, kommt von ihr.
„Nichts.“ Wie schlagfertig! Mich treffen die Schakalblicke der anderen Fahrgäste. Der ganze Zauber ist aus.
Mein Gesicht verkrampft sich kurz zu einem schiefen Grinsen, dann setzte ich mir den Kopfhörer auf und ziehe die Kapuze meines Pullis über den Kopf.
Da kommt jetzt der noch viel krassere Song. Ob ich das überlebe? Ich drehe voll auf und schließe die Augen.
Komisch, der hört sich heute anders an. Da ist die Orgel, da die Flöte, da der Bass, aber da ist noch etwas im Hintergrund, ganz leise. Hm, es ist so eine Art Jingle. Es hat einen Text, der sich ständig wiederholt. Die haben doch damals immer so Botschaften untergemischt, wie „Kauf die Platte“ und so. Jetzt verstehe ich' s:
„Was willst du – was willst du ...“. Immer wieder. Komisch, wieso singen die deutsch? Verträumt öffne ich die Augen und …
Ach du Scheiße! Die ganzen Leute um mich herum singen das ja! Die Omas und die Schulkids!
Sie sind alle aufgestanden und tanzen - so gut das in einer fahrenden U-Bahn halt geht - im Rhythmus wie auf Viva, singen immer lauter und zeigen bei dem „du“ mit den Zeigefingern auf mich.
„Was-willst-du!“
Noch dazu kommen sie immer näher. Ich springe auf die Bank und – aua! - haue mir ordentlich den Schädel am Gepäckfach an.
„Was-willst-du!“
„Ich will, dass das aufhört, ihr Idioten!“, schreie ich, aber ohne Wirkung. Im Gegenteil: Mein Geschrei hat es noch verstärkt, jetzt ziehen sie mit dem Tempo an.
„Torben!“, hör ich da jemanden.
„Ja, so heiß ich!“, rufe ich zurück.
„Hier rüber, Torben!“ Da merke ich, dass der schwarze Pferdeschwanz an der Tür zum nächsten Wagen herwinkt.
„Ich komme!“ Die durchgeknallten Tanzzombies lassen mich ungehindert rüber rennen und ich spring aus der Tür, in der auch Sekunden zuvor meine Retterin verschwunden ist.

Das Mädchen schließt die Tür hinter mir und es wird still. Nur mein Keuchen ist zu hören, ich hab ja ungelogen noch niemals so einen Schiss verspürt wie gerade eben. Ich stütze mich auf den Knien ab und atme. Allmählich stimmt die Sättigung in meinem Hirn. Mein Blick streift das Fenster. Was ist das? Wir fahren nicht mehr durch das Dunkel der U-Bahnschächte, sondern durch eine helle Sommerlandschaft. Kornfelder ziehen wie ein Meer an uns vorüber.
„W-was war das gerade?“, stottere ich noch immer am ganzen Leib zitternd.
„Du bist in eine Entscheidungssubraumtangente geraten“, antwortet Pferdeschwanz kühl.
Ich nicke mit dem Kopf. Nach einer Weile frage ich verdattert: „Was?“
„Dein Bewusstsein hat in Verbindung mit der Geschwindigkeit der U-Bahn und den Schwingungen der Musik einen neuronalen, hypertransorbitalen Cluster ausgelöst ...“
Sie ist so wunderschön … und klug!
„ … und dadurch konnte ein Riss im Zeit-Raum-Kontinuum entstehen, der wiederum ...“
Ich glaub ich hab mich verknallt. Ausgerechnet jetzt!
„ … deinen Kortex mit fluxkompensatorischer, temporärer Masse überflutet hat. Du wirst dich nun wahrscheinlich etwas verwirrt fühlen, aber das sollte sich bis in zehn Minuten wieder legen. Dann hat sich dein Gehirn an die veränderte Raum-Zeit eingepasst. Auch dein Parasympathikus, übrigens!“ Sie deutet auf die Ausbeulung meiner Hose.
Ich setze mich auf die Bank, schlage die Beine übereinander und frage:
„Wer bist du eigentlich? Und warum redest du so neunmalklug?“
Sie zieht ihren Pferdeschwanz fester, setzt sich mir gegenüber und lächelt.
„Ach, ich bin die Kadelen und ich lese halt gern.“
Mein Mund steht offen. Ein Speichelfädchen seilt sich ab. Ich merke wie mir alles zu viel wird und ich wie ein angepiekstes Sufflé zusammensacke.
„Bitte …“, stammle ich mit letzter Kraft, „ ... lass mich jetzt nicht allein!“ Dann wird alles schwarz.

„Torben!“, höre ich den Singsang aus der Ferne
„M-hm?“
„Wach auf, Torben!“
„Mussnonet…“
„TORBEN!“ Diesmal geschrien.
Ich reiße die Augen auf, drehe mich um und sehe Kadelen vor mir stehen, die Hände auf die Hüften gestützt. Sie sagt: „Komm jetzt zu dir, wir müssen los!“
Ich setzte mich wie nach einer durchzechten Nacht auf. Wir sind immer noch allein in dem Wagen, allerdings fährt er wieder im Dunklen.
„Ähm, danke nochmal, dass du mir vorhin geholfen hast.“ Ich schaue auf meine Uhr. Sie muss stehen geblieben sein, denn sie zeigt fünf vor vier an. „Ich muss dann nächste Haltestelle raus.“
„Ja und du wirst dich entscheiden müssen, welches Raum-Zeit-Portal du durchschreiten möchtest, ...“
Langsam aber sicher geht sie mir auf die Nerven mit ihrem Startrek-Gelabere.
„ … und pass auf, dass du dich nicht in einer Schicksalsschleife verhedderst. Dann würde ein und derselbe Moment immer wiederkehren und ...“
„Stopp!“ Ich kann' s nicht mehr hören!
In diesem Moment bremst der Zug ab. Gut so, besser ich gehe und lasse das Mädchen aus einer anderen Welt zurück.
Wir halten an und die Türen öffnen sich. Wie jetzt, auf der linken und rechten Seite? Ich gehe langsam zu der einen. Doch da ist keine Haltestelle. Draußen sehe ich eine Fußgängerzone! Lauter Leute mit Tüten. Ich drehe mich um und blicke aus der anderen. Oh Mann, es sieht so aus, als befindet sich eine Wüste da draußen. Dünen über Dünen. Heißer, staubiger Wind weht mir ins Gesicht. Etwas ratlos wandert mein Blick wieder zu Kadelen. Die steht da, grinst und meint: „Ich sagte dir ja, du musst dich entscheiden!“
Nach ein paar Sekunden zucke ich mit den Schultern, sage „tschüss“ und verlasse diesen merkwürdigen Zug, natürlich zur Stadt hinaus. Keine Ahnung, welche special effects die hier aufgefahren haben. Dieser Tag ist mir zu verwirrend, als dass ich mir jetzt darüber Gedanken machen kann. Ich sollte lieber mal Sendepause halten.

Der Retter naht

Verdammt, wo bin ich hier? Ich kenne keine Straße, kein Geschäft und überhaupt, irgendwas stimmt schon wieder nicht. Seit fünf Minuten gehe ich einfach geradeaus. Aus unbeirrbarem Glauben an mich selbst habe ich noch niemanden nach dem Weg gefragt. Ich kenne mich in dieser Drecksstadt doch aus. Zwangsläufig, denn ich habe es selten aus ihr heraus geschafft. Aber hier, wo bin ich gelandet? Diese Menschen, sie lächeln alle aufgesetzt und keiner sagt was. Man hört nur das Trap-Trap der Schuhe und das Klock-Klock der Highheels. Sie sehen ja ganz gut aus, wie Schauspieler oder Statisten. Da pass' ich gar nicht rein, mit meiner Halbmasthose und den zerfetzten Chucks. Hoffentlich merken die das nicht. Egal, ich frag den da jetzt:
„Tschuldigung, können Sie mir vielleicht sagen, welcher Stadtteil das hier ist?“
Der Typ im Anzug und der schmierigen Frisur schaut mich an, grinst mir sein blinkendes Pferdegebiss entgegen und denkt nicht daran, stehen zu bleiben.
„Vielen Dank auch, du Lackaffe!“, denk ich mir. Aber ich sage es lieber nicht laut. Langsam steigt die Angst empor. Was, wenn das hier wirklich eine andere Realität ist? Oder bin ich auf irgendwas hängengeblieben?
„Hi, Torben!“
Scheiße, bin ich erschrocken! Ich dreh mich um, weil mir jemand auf die Schulter geklopft hat und wer steht da? Kadelen, natürlich.
„Ach du bist' s!“, freue ich mich fast.
„So wird das aber nichts, mein Freund“, sagt sie.
Wow, sie hat 'Freund' gesagt. So hat mich nie ein Mädchen genannt. Nur die wenig charmante Verniedlichkeitsform davon. Vielleicht können wir ja doch heiraten und Kinder bekommen.
„Du musst schon irgendwie interagieren, wenn sich weitere Portale öffnen sollen.“
Geht das Generve wieder los!
„Nö“, antworte ich so zickig ich nur kann, „hab aber keine Lust zu interagieren!“
Sie senkt den Kopf. Dann sagt sie traurig:
„Das ist aber schade, denn es steht immerhin das Universum auf dem Spiel.“
„Ach!“ Mit schiefen Kopf und süffisantem Lächeln lass ich Hohn auf sie hageln.
„Ich habe dir doch von den transorbitalen Cluster, denn du ausgelöst hast, erzählt. Er wird in kurzer zu einem schwarzen Megaloch implodieren, das alles verschlingen wird.“
Also gut, Mädchen.
„Wie soll ich diesen scheiß Cluster denn ausgelöst haben, hä? Mit Rockmusik aus den siebzigern?“
Kadelen schaut mich irritiert an und sagt:
„Haben dich deine Eltern etwa nie vor Rockmusik gewarnt?“
„Willst du mich verarschen“, jetzt schreie ich, „ich hab die Mukke doch von meinem Alten!“
„Aber die Auswirkungen werden verheerend sein!“
„Na Prima, kann mir doch nur recht sein, wenn der Laden den Bach runter geht! … Entschuldigung.“ Bei 'Bach' hab ich gespuckt.
Sie wischt sich über die Stirn. „Und alle Menschen, deine Familie und deine Freunde, sind sie dir alle egal?“
Ich schlucke. Jetzt hat sie mich. Sicher könnt ich jetzt „ja“ sagen. Habe mit meinen Eltern seit drei Jahren nicht mehr gesprochen. Und Freunde? Da fällt mir nur Pflaume ein, die alte Flipsbirne, der ist meistens so drauf, dass er sich bereits in einer anderen Realität befindet. Und Detlef mein Sandkastenkumpel ist nach Schweden gezogen, der Verräter. Mir könnten die echt alle egal sein, aber wer ist schon gern alleine auf diesem Planeten? Wer kann schon von sich behaupten, er brauche niemand?
„Was ist denn los?“, fragt Kadelen und berührt zärtlich meine Schulter. Wow, die riecht nach Pfirsichen. Und da wird es mir schlagartig klar: ich muss es tun! Ich muss es für sie tun! Scheißegal was, aber ich werde mir selbst in den Arsch treten und es tun! Und wie ich es tun werde!
„Ich will' s mit dir tun!“, sage ich mit entschlossener Haltung.
Kadelen zieht die Hand zurück.
„Ich will das Universum retten!“
Da fängt sie an zu strahlen und sagt: „Na prima!“
„Aber“, lege ich mit erhobenen Zeigefinger fest, „dazu muss ich dich erst mal besser kennenlernen!“
„Torben, die Zeit drängt!“
„Bis du von hier?“
Sie seufzt und wir setzen uns auf ihren Wink hin auf eine Bank. Dann schließt sie kurz die Augen und fängt an: „Nein, ich bin nicht von hier, nicht mal aus dieser Dimension. Ich komme von einer Welt, die du dir nicht mal im Entferntesten vorstellen kannst. Der intergalaktische Rat hat mich auserwählt, dir auf deiner Mission beizustehen.“
„Aber Moment mal, du warst doch schon vorher in der U-Bahn gesessen, noch bevor die Sache mit den Omas und Schulkids passiert ist.“
„Ich wusste, dass es passiert. Es war dir schon immer bestimmt, den Iks auszulösen.“
Verstehe nicht.
„Heute ist er, der Tag Iks. Der Tag der Intergalaktischen Katastrophen Sekunde. Wir haben sogar unsren Kalender danach berechnet.“
Das stimmt mich nachdenklich. „Und ich hab ihn ausgelöst?“
Schade, dass Pflaume jetzt nicht da ist, der glaubt mir das niemals.
Kadelen schaut mich ernst an und fährt fort:
„Vergiss nicht, es kann nur ein gutes Ende nehmen, wenn du dich für die richtigen Portale entscheidest.“
Ausgerechnet ich, der sich vor allen Entscheidungen drückt.
„Woher soll ich wissen?“
„Das ist die eine Schwierigkeit, die andere ist, dass du die Portale erst aufspüren musst.“
„Mhm, und diese komische Stadt ...“
„Die Realität in der wir uns jetzt befinden, ergibt sich aus der Raum-Zeit-Abnormalität und deinem eigen, erweiterten Unterbewusstsein. Aus irgendeinem Grund beschäftigt dich anscheinend das Konsumverhalten deiner Artgenossen.“
„Soll das heißen wir befinden uns in so ner Art Gedankenwelt … in meinem Hirn?“, schließe ich.
„Sozusagen.“
„Oh-mein-Gott!“

Verabredung mit dem Beelzebub

Wir gehen jetzt schon eine halbe Stunde. Ich trotte voraus, Kadelen wachsam hinterher. Diese Zone muss hunderte Kilometer lang sein. Ich blicke mich immer wieder um, aber sie zuckt nur mit den Schultern.
Die Statisten ziehen grinsend vorüber. Alle mittleren Alters. Alle gestriegelt und braungebrannt. Meine Armbanduhr zeigt fünf vor fünf an. A-ja, wegen der veränderten Raum-Zeit! Mir sticht da eine Litfaßsäule ins Auge. Da war doch was … Ich gehe mal zu ihr hin. A-ha, Zigarettenwerbung.
„Nicht da lang!“, bricht Kadelen das Schweigen.
„Wieso?“
„Ich empfange negativ geladene Masseteilchen.“ Sie fuchtelt mit so einer Art Tricorder umher.
Ich schnuppere angestrengt. „Also ich empfange nichts.“ Da hinten blinkt doch was!
„Torben“, befiehlt sie, „bleib stehen!“
Fortgeschrittene Technik und weibliche Intuition trifft meinen Dickschädel.
„Wer ist denn hier der Retter des Universums, hä?“, rufe ich.
Es blinkt in der Gasse, ganz hinten, in der Dunkelheit. Da muss es sein!
„Torben, ich kann dir nicht dahin folgen, bitte komm zurück!“, fleht sie. Das gefällt mir natürlich.
„Komme gleich wieder, hab keine Angst!“
Ich frage mich, warum ich selbst keine verspüre. Muss Neugierde sein.
Mit jedem Schritt wird es dunkler. Es ist, als ob das Licht von dort hinten eingesogen werden würde.
„Da bist du ja endlich!“ Eine versoffene, männliche Stimme dringt an mein Ohr.
„Hallo?“ Ich kneife die Augen zusammen, kann aber nichts erkennen. Schließlich nehme ich die Umrisse einer Gestalt war, die sich zu mir bewegt. Ich glaube, sie schwebt sogar. Er hat mich mit einer Taschenlampe hergelockt, der Halunke!
„Gut, dass du meiner Einladung gefolgt bist!“, sagt er.
Einladung? Meint er etwa die abgefahrene Zeitungsannounce von heute früh?
„Wie konntest du mich durch die Zeitung kontaktieren?“, frage ich schließlich, „und warum eigentlich?
Die Stimme grollt: „Bist du nicht der große Retter, der Milchmann?“
„Milchmann?“ Ausgerechnet ich mit meiner Laktoseintoleranz.
„Ja, der Retter der Milchstraße!“
„Hm, … kannst du mich nicht einfach Retter des Universums nennen?“
„Viel zu lang und so steht es nun mal in den Prophezeiungen!“
So schlecht hört sich' s auch wieder nicht an.
„Okay, nenn mich wie du willst. Sag mal, du bist nicht zufällig an so Portalen vorbei gekommen? Jetzt komm doch mal ins Licht, ich seh dich ja gar nicht!“
„Mag sein, großer Milchmann!“
„So sag er mir: wo jetzt?“
Die Gestalt nähert sich. Er ist in einen schwarzen Umhang gehüllt. Von seinem Gesicht kann man nur die rotglühenden Augen sehen. Auf dem Kopf trägt er einen Zylinder. Verdammt, hätte ich Schiss, wenn ich nicht der Milchmann wäre!
„Hier!“ Er streckt mir zwei Spielkarten entgegen: ein Pik-Ass und eine Kreuz-Sieben. „Wähle, denn du bist der Entscheidende!“
Das sollen Portale sein, will der mich verarschen? Da pass ich doch gar nicht durch.
„Hast du nicht was Größeres für mich?“
„Also wenn sie dir nicht gut genug sind“, sagt Auge beleidigt, „dann wünsch ich noch viel Erfolg bei deiner Suche!“
„Moment, Moment, Moment!“ Ich kratzte mich am Hinterkopf. Besser ich nehm jetzt eine, anstatt noch Stunden in Komparsenstadt zu verbringen. „Kreuz sieben!“
Der Typ lacht wie ein Lungenkranker. Ein Schauer jagt mir über den Rücken.
„Oder doch vielleicht die andere?“, sage ich schnell.
Das Lachen verstummt. „Was jetzt?“, fragt er.
„Kann ich eigentlich auch beide haben?“
„Nein, entscheide dich für eine! Das kann doch nicht so schwer sein!“
„Okay, dann, dann … nehm ich die Pick-Sieben.“
...
„Ich hab aber keine Pick-Sieben!“
„Hast du gar kein Herz?“
„Aaaaach!“ Auge ist ganz schön genervt. Ist aber auch nicht leicht. Es geht schließlich um' s Universum.
„In Ordnung, dann nehm ich halt die erste.“
„Eine weise Wahl, Milchmann!“
Er schnippt sie mir rüber und sie landet direkt auf meiner Hand.
„Hey! Das war ganz schön cool, Alter!“, bemerke ich anerkennend. „Kannst du dass auch ein zweites Mal?“
„Sicher kann ich das“, behauptet Auge.
„Niemals!“, sage ich.
„Sieh und staune, Milchmann!“
Als die zweite Karte landet, gebe ich Gas. Ich renne um mein Leben und werfe Mülleimer dabei um. Auge ist gar nicht amüsiert und kommt hinterher geflitzt.
„Kadelen!“, rufe ich, „welche ist die Richtige?“
Sie steht immer noch an der Litvassäule. „Sind das die Portale?“
„Gleich hab ich dich, du Würstchen!“, höre ich den Teufel immer näher kommen.
„Ist wohl nichts mehr mit großer Milchmann, oder was?“
„Wähle eines aus!“, schreit Kadelen.
„Ja, aber…“
Ich spüre eine eisige, knochige Hand an meinem Nacken. „Nimm deine Wichsgriffel von mir!“, schreie ich.
„Wähle endlich!“, ruft Kadelen.
„Ich wähle Tor Kreuz-Sieben!“, brülle ich in den Himmel.
Plötzlich wächst die Karte zur Größe einer Plakatwand. Ich verliere den Boden unter den Füßen und stürze in einen Strudel aus Raum und Zeit und … Lakritze.

Im Albtraumland

Tante Renate – Stoff für reichlich Kindheitstraumata. Gut an ihr war, dass sie im Norden lebte. Weit weg von unschuldigen Kindern. Aber nicht weit weg genug, um mir das alljährliche Geburtstagsdrama zu ersparen. Sie steht also vor mir, ihre kalten, feuchten, pink schimmernden, mit Stoppeln gekrönten Lippen spitzen sich, ich erleide Schauer um Schauer, und dann … Ich erspare mir den restlichen Teil der Rückblende. Auf jeden Fall kannte ich den Grund für ihre Verkommenheit: Ihre unstillbare Leidenschaft für Bärendreck, diese eklige, schwarze Süßspeise, würg!
Ich stehe auf einem Hügel Lakritze, betrachte das Lakritzgebirge mit dem angrenzenden Süßholzwald und denke mir:
„Ja, das ist wirklich der Leibhaftige gewesen. Welch perverser Geist sonst könnte ausgerechnet mich ins Lakritzeland verbannen?“
Stunden später trotte ich noch immer den schwarz gepflasterten Weg entlang, keine Spur von Kadelen, meine Hoffnung schwindet und die des Universums mit ihr. Die Beine werden schwerer und schwerer. Doch es hilft nichts, ich muss weiter.
Wieder Später wate ich durch den L.-Sumpf. Ich will und kann dieses Wort nicht mehr vollständig denken. Meine geliebten und einzigen Schuhe bleiben in L. stecken. Selbst mein Pulli und meine Jeans wurden mir entrissen, doch es gelingt mir mit letzter Kraft, es heraus zu schaffen.
Irgendwann liege ich nackt und mit L. beschmiert auf der unendlichen Weite der L.-Steppe. Ich möcht nicht mehr. Die schwarze Sonne brennt. Ich starre in die L.-Wolken und denke mir: „So das war' s, der Milchmann gibt auf. Was ein beschissener Abgang!“
Wieder Stunden später. Meine rechte Gesichtshälfte klebt auf dem Boden. Die Hitze lässt die Luft über der schwarzen Ebene flimmern. Eine salzige Träne rinnt herab, tränkt die herbsüße Steppe wie ein leiser, letzter Protest. Ich schließe die Augen …
… und öffne sie noch ein letztes Mal. Da, eine Fata Morgana am Horizont. Ein Motorrad wirbelt Staub auf. Ich höre das Bollern des V2, spüre die Vibrationen. Echt geil gemacht, die Hallu. Respekt für meinen kranken Geist! Die Harley kommt näher, wird geparkt, der Fahrer steigt ab beugt sich zu mir herunter und sagt:
„Um Himmels Willen, Torben?“
„Bist du' s, Kadelen?“
Sie nimmt meinen Kopf auf ihren Schoss.
„Bist du aus – Lakritze?“, frage ich.
„Natürlich nicht, aber bei dir wär ich mir nicht so sicher.“

Eine halbe Stunde später bollern wir über den Highway. Die Landschaft hat sich allmählich und zu meiner Beruhigung verändert. Vereinzelnte Kakteen und trockene Sträucher ziehen an uns vorbei. Es sieht hier aus wie im Wilden Westen. Ich sitze hinten auf dem Sozibrötchen und klammere mich an Kadelen. Sie hat mir was zu trinken gegeben, mich notdürftig gesäubert und mir mit einen Lendenschurz ausgeholfen, den sie kurzerhand aus ihrem T-shirt gerissen hat. Der silberne Stoff flattert über meinem nackten Hintern. Aber es ist mir egal, denn hier ist keine Seele weit und breit, die mir was abgucken könnte. Und wenn schon.
„Wo hast du denn das Motorrad her?“, rufe ich ihr ins Ohr.
„Hab' s mir geborgt!“, schreit sie zurück.
„Und von wem?“
„Von Typhon. Na ja, eigentlich hab ich‘ s aus seiner Garage gestohlen. Da standen noch mehr. Er sammelt die anscheinend.“
„Ach so.“ Hauptsache der Tank ist voll. „Und, wo fahren wir jetzt hin?“
„Na, erst mal weg von Typhon, natürlich!“
„Klar!“ Ich blicke vorsichtshalber nach hinten. Nichts zu sehen.
„Ähm, Kadelen?“
„Ja?“
„Wer ist denn dieser Typhon nochmal?“
„Ach nur so ein riesiges Ungeheuer, hab ihn mal auf ner Party kennengelernt. Ist eher so ein Intellektueller, der sich gern reden hört.“
„Also nicht gefährlich oder so?“
„Na ja, er hat 100 Drachenköpfe, man weiß nie so recht, mit welchem man reden soll. Das kann in einer Disskussion schon gefährlich werden.“ Sie lacht, findet das wohl witzig. „Übrigens, er kommt auch in der griechischen Antike vor.“
„Interessant! - Kannst du nicht ein bisschen schneller fahren?“
„Keine Sorge, der holt uns schon nicht ein.“
In diesem Moment macht sich mit lautem Knall eine Fehlzündung bemerkbar. Der V2 stottert. Kein Sprit mehr. Wir rollen noch eine Weile im Leerlauf, dann kommen wir zum Stillstand.
„Ups“, meint Kadelen.
„Und jetzt?“, frag ich.
„Hm, weiß auch nicht so recht …“
Ich blicke mich noch mal um und erkenne eine Staubwolke am Horizont, die sich uns tosend und unaufhaltsam nähert.
„ …vielleicht rennen?“

Ich sitze im Schneidersitz auf dem Highway und warte. Angesichts des sich nähernden Unheils, scheint jede Flucht sinnlos. Die Harley steht ein Stück entfernt. Kadelen schreibt eine SMS mit dem Tricorder. Ihr schwarzer Zopf flattert im Wüstenwind. Sie scheint sich keine großen Sorgen zu machen. Vielleicht kann sie sich aus der Geschichte herausreden. Labern kann sie ja.
Irgendwie haben die vielen bedrohlichen Situationen mich verändert. Es ist nicht so, dass ich keine Angst verspüre, aber ich kann besser mit ihr umgehen. Der Kick bleibt aus. Ich atme ruhig und fokussiere das Riesenungeheuer, wie es rast und tobt und sich auf uns zu bewegt. Immer mehr Details kann ich ausmachen. Es läuft auf den Hinterbeinen. Flügel hat es keine. Dafür hat es wirklich verdammt viele Köpfe. Aber hundert? Niemals, - Halt doch mal ruhig! - das sind höchstens an die dreißig. Dass die Leute immer so übertreiben müssen!
„Also gut“, sagt Kadelen, „ich hab mal alles überschlagen. Wenn man die neuronale Struktur dieser Situation betrachtet, müssten die nächsten Portale im Zusammenhang mit dem Ungeheuer erscheinen. Eine Konfrontation ist sowieso unausweichlich.“
Ach nee!
„Aber das mit der Harley biegst du wieder hin“ fordere ich. „Dafür kann ich ja nichts.“
Kadelen macht ein Gesicht, als hätte sie in eine Zitrone gebissen. „Sorry, aber es wär wohl das Beste, wenn ich jetzt verschwinde.“
„Wie jetzt?“
„Ich werde mich weg teleportieren.“
„Und was ist mit mir?“
„Das ist unmöglich. Du kannst nur durch die Portale verschwinden.“
„Du willst dich also so mirnichtsdirnichts aus dem Staub machen?“
„Versteh mich nicht falsch, es ist kompliziert.“
„Find ich nicht. Ist doch ziemlich klar, alles.“
Sie schaut mich mitleidig an, dann sagt sie:
„Vertrau mir, du wirst es verstehen!“ Und mit einem Lächeln löst sie sich in Luft und Seifenblasen auf.
„Ja, ja, der Milchmann macht das schon.“

Die Konfrontation mit dem Kritiker

Das Ungeheuer ist nun fast da. Es bremst mit einer gewaltigen Staubwolke ab und stampft zur Harley, hebt sie vorsichtig zwischen Daumen und Zeigekralle hoch und einer der Drachenschädel schnuppert daran. Die anderen haben mich längst entdeckt. Einer ruft: „Ey Jungs, guckt mal, der da drüben, den machen wir platt!“ Andere brüllen einfach rum. Unter intellektuell stell ich mir was anderes vor.
Ich stehe auf, räuspere mich und rufe:
„Hallo Herr Typhon, ich hab das Motorrad nicht geklaut, ganz ehrlich!“
Der Titan stampft auf mich zu. Die Erde erzittert unter seiner Last. Ein Koloss von zwanzig Metern Höhe verfinstert die Sonne.
Ein Drachenkopf mit Brille und Ziegenbart, er scheint der Verhandlungsführer zu sein, beugt sich zu mir herunter.
„Winzling“, sagt er majestätisch, „du steckst tief im Schlamassel.“
Immer noch besser als Lakritze. Mal versuchen, ob ich es mit labern hin krieg.
„Ich bin nur zufällig hier vorbei gekommen und hab mir gedacht: 'Dieses herrenlose Motorrad, das da so rumsteht, würde doch ausgezeichnet in die Sammlung des unbezwingbaren Typhon passen'. Welch freudiger Zufall also, dass Sie jetzt persönlich gekommen sind. Dann kann ich ja gehen. Also …“
„Schweig still!“, brüllt der mit der Brille. Er hat Ähnlichkeit mit dem Direktor meiner alten Schule. Oh Mann, jetzt merk ich‘ s: da sitzt ja das ganze Lehrerzimmer auf den Hälsen. Sogar Hansen, der Sportlehrer! Der hat mich noch nie leiden können.
„Lasst uns ihn auffressen, er geht mir jetzt schon auf die Nerven!“, ruft dieser.
„Das kann ich gut nachvollziehen, aber …“, ich füge eine dramatische Pause ein und gehe dabei bedeutungsvoll auf und ab, „ … aber ich gebe Ihnen zuvor noch etwas zu bedenken: Es ist nämlich so, dass sich dort oben in der Atmosphäre ein Cluster gebildet hat, der sich irgendwie in ein schwarzes Loch oder ähnliches verwandeln wird, und das alles und jeden – und somit auch Sie! – verschlingen wird, wenn nicht…“, ich erhebe feierlich Stimme, „ …wenn nicht ich, der intergalaktische Milchmann, durch das richtige Portal schreite und dem Ganzen Einhalt gebiete … noch dazu bleibt übrigens die Zeit nicht hängen!“
Dreißig Augenpaare mustern mich. Dann sagt der Professor – hatte ich den nicht in Deutsch? – mit Würde und Gelehrsamkeit in der Stimme: „Mein Lieber Milchmann, oder wie du dich zu nennen scheinst, das ist nun wahrlich die unglaubwürdigste Geschichte, die mir je zu Ohren gekommen ist. Man könnte meinen, du hättest dir ohne Plan und Richtung etwas zusammengereimt, es mit pseudowissenschaftlichen Begriffen gespickt, um den Ganzen eine Sci-Fi-Note zu geben und würdest dich nun von einem Kapitel ins nächste hangeln, ohne einen Funken Ahnung, wohin das letzten Endes führen soll.“
„Was für Kapitel?“
„Und dann dieser Heldenmythos. Wie oft hat‘ s das schon gegeben? Ist dir da wirklich nichts Besseres eingefallen?“
„Aber es muss doch immer einen Helden geben und … ich bin‘ s doch, der Milchmann“, schmolle ich.
„Das ist ein so erbärmlich schlechter Plot und ich kann mir nicht vorstellen, dass du so jemanden bei der Stange halten kannst. Mich hast du nicht überzeugt!“ Das reicht jetzt aber!
„Ja, Mann, ich hab‘ s kapiert! Und ich möchte nur mal so eben klarstellen, dass Ihr Gelaber weder was ändert noch jemanden nützt!“
„Diese Füllwörter, hör auf, hör bitte auf! Kommt Kollegen, diesem ist nicht weiterzuhelfen. Reine Zeitverschwendung, lasst uns verschwinden.“
Der Gigant erhebt sich und will sich aus dem Staub zu machen. Aber das kann ich jetzt nicht so stehen lassen.
„Hey, ich soll nicht glaubwürdig sein oder was? Scheiße, was bist du dann, mit deinen annähernd dreißig Köpfen und dummen Sprüchen? Eine Nebenrolle, ein aufgepumpter Komplex meines intellektuellen Versagens bist du! Komm schon, fress mich auf, wenn du es schaffst! Aber du kannst mich nicht mal anknabbern!“ Ich merke wie ich aus mich heraus wachse. Man bin ich drauf! Sicher ein Flashback von der Lakritze.
Tatsächlich, er bleibt stehen. Der Professorenschädel dreht sich zu mir um, schüttelt sich und macht nur „Z-z-z, wie erbärmlich!“.
Der nimmt mich nicht ernst! Ich bin doch auch wer! Milchmann oder nicht, jetzt lass ich‘ s krachen.
Da schwebt ein kleines Päckchen am Fallschirm vom Himmel. Ich fange es auf, darin ist ein Griff eingepackt und ein Zettel. Darauf steht: Jetzt bist du soweit! Grüße, Kadelen.
Ich umschließe feierlich den Griff mit beiden Händen. Eine gleißende, metallisch schimmernde Klinge erwächst aus ihm. Geil, ein Samuraischwert aus einer anderen Dimension!
Ohne weitere Anweisung begreife ich, was zu tun ist. Ich renne schreiend auf das Ungetüm zu, hole aus und lasse die Klinge durch die Sehnen seines linken Beins gleiten. Typhon jault. Immer wieder ramme ich das Schwert ins Bein, springe hoch und schaffe es so an Höhe zu gewinnen. Jetzt ist der erste Schädel dran. Zuerst verarbeite ich seine Ohren zu Filet. Violettes Blut schäumt aus den Wunden. Das Monster versucht krampfhaft mich loszuwerden, aber es ist immer ein Hals oder Schädel im Weg. Wie ein Mördermoskito setzte ich ihm zu, hiebe wie von Sinnen in sein Fleisch. Typhon brüllt und rast. Mein Katana pfeift durch die Luft.
Irgendwann lande ich keuchend auf dem Boden. Das Schwert ramme ich daneben. Ich bin mit Typhons violetten Lebenssaft getränkt, unbesiegbar und mit schier endloser Intelligenz beseelt.
Der Titan taumelt, gurgelt Blut, mit den meisten Hälsen unbekopft fällt er rücklings in die staubige Ebene. Ein letztes Mal hebt sich der geschundene Brustkorb und mit einem gestöhntem „Milchmann!“ die Seele zu entlassen. Typhon ist tot.
Was hab ich getan? Wie konnte es nur soweit kommen? Und, wie soll ich ihn jetzt nach den Portalen fragen?
Da höre ich ein leises Stöhnen. Es kommt von hinter dem mächtigen Leib her. Ich ziehe das Schwert wieder aus der Erde, schreite kampfbereit um das Ungetüm herum. Da, etwas entfernt, liegt ein einsamer Kopf. Er scheint noch zu leben.
„Milchmann“, presst er hervor. „Komm zu mir, Milchmann!“
Ich lasse die Waffe sinken und trete näher. Dieser Schädel hat Ähnlichkeit mit meinem Kunstlehrer, Herrn Kalowsky. Die Zunge hängt aus seinem riesigen Maul, doch er scheint zu grinsen.
„Herr Kalowsky, sind Sie es?“, frage ich.
„Du hast mich gerettet.“
„Hab ich das?“
„Ja, du hast mich befreit.“
Ich verstehe nicht. „Aber Sie werden doch sterben.“
„Besser einen Tod mit freiem Geist, als hundert Leben in geistiger Versklavung.“ Er hustet einige Male.
„Aber es wird für Sie enden, Herr Kalowsky! Sie werden zu Grunde gehen!“
„Kennst du nicht den Phönix, wie er sich aus seiner Asche erhebt und in unerreichte Höhen emporsteigt? Du hast mir diese tödliche Wunde zugefügt, doch nicht, um mich von meinem Dasein zu trennen, sondern vielmehr vom unnützen Wissen anderer und derer heuchlerischen Nachahmung. Jetzt koste ich die Süße meiner letzten Stunde mit dem Bewusstsein, dass das kranke System mich nicht bezwingen konnte. Diese Wunde ist die Pforte für meine Neuentwicklung und höhere Daseinsform. Du hast mir die Freiheit geschenkt, Milchmann.“
„Gern geschehen“, sage ich traurig. Ich merke wie alles verschwimmt. Jetzt bloß nicht flennen! „Sagen Sie mir Herr Kalowsky, sie haben doch nun freie Sicht, warum soll ich Portale finden?“
Der Schädel zittert, die dunklen Augen drehen sich nach oben, dass man nur das Weiße sehen kann.
Dann blickt er mich wieder an, auf eine Weise, als könne er tief in mir lesen.
„Sie stehen für deine Entscheidungen. Und es sind immer zwei, weil du ständig zwischen zwei Möglichkeiten wählst.“
„Warum dieses Entscheiden?“
„Damit du dich selbst erkennst.“
„Hmm und wenn ich mich selbst erkannt habe, wird das dann wirklich Auswirkungen auf‘ s gesamte Universum haben?“
Der Schädel verzieht das Maul zu einem Lächeln. Dann spuckt er lila Blut und flüstert mit letzter Kraft:
„Puffz.“
„Was?“
Shit, er ist hinüber.

Abenddämmerung

Und so richtig schlau wurd ich aus der Rede von Herr Kalowsky nicht. Oder, doch? Er hat die Portale als Möglichkeiten bezeichnet. Ich muss also alle Möglichkeiten meiner momentanen Situation abwägen und auf zwei Extremen stoßen, die sich dann als Portale materialisieren, von denen wiederum eines in eine neue Bewusstseinsschleife führt. Alles im Submodus meiner Wahrnehmung. Ganz klar.
Ich schaue in die flimmernde Weite des Horizonts.
„Was soll nur diese ewig sinnlose Schwarz-Weiß-Malerei?“, frag ich mich da. Scheiß System! Es lebe die Revolution!
Dann hebe ich langsam das Schwert, hole aus und werfe es mit aller Kraft gegen die Bläue des Himmels. Die wirbelnde Klinge zerschneidet ihn wie eine Leinwand. Was ist das? Dort ist ein Riss entstanden, aus dem es merkwürdig grünlich schimmert. Ich trete langsam näher und blicke hindurch.
Verwundert gaffe ich in eine riesige Halle mit Marmorsäulen. Die Decke glitzert und funkelt wie Weihnachtskram. Hunderte graue Anzugfuzzies eilen zu mir. Sie unterscheiden sich nur in den Hautfarben. Von grün, blau über orange ist alles vertreten. Einer fängt an zu klatschen und immer mehr stimmen ein. Bis auf den einen auf dem Boden. Er hat mein Schwert gefangen. Anscheinend war das mit dem Schwertwurf, mal abgesehen von dem Fänger, gar nicht so unrichtig.
Ich schlupfe durch den Spalt in der Realität. Ein Fuzzi mit einem Monokel tritt mit ausgetreckter Hand auf mich zu. Er sieht aus wie das Monopolymännchen.
„Ich beglückwünsche Sie, Herr Milchmann, ehrenwerter Retter des Gesamtreiches intergalaktischer Planeten und dritter Anwärterwelten …“
„Ach, sagen Sie einfach Milchmann zu mir …, Kadelen!“
Ich sehe, wie sie sich mit einem hellgrünen Festtagstrainingsanzug durch die Menge drückt. Bei mir angekommen fällt sie mir um den Hals. Wow, jetzt knutscht sie mich!
„Du hast es geschafft. Jetzt wird alles gut, Torben.“
Geschafft? Wieder einmal versteh ich nur Bahnhof. Wieder einmal ist‘ s mir wurscht.
Mhm, sie schmeckt nach Pfirsichen.
„Weißt du Kadelen, ohne dich würd ich immer noch in der Wüste stehen. Was hat es mit dem Schwert auf sich gehabt, dass du mir geschickt hast?“
„Welches Schwert?“, frägt sie. „Ich war das gar nicht … es war eventuell … genau, es wurde von den Tiefen deines Unterbewusstseins ausgelöst, aus der Wunschzwirbeldrüse. Der einzige Ausweg aus der Schicksalsschleife war, sie zu unterbrechen. Und das funktioniert hat nur, wenn du gegen die selbst aufgestellten Regeln deiner Wahrnehmung rebellierst.“
„Ja, ich das hab ich schon immer … Break on through to the other side, he-he. Übrigens, kann ich jetzt nie wieder Rockmusik hören?”
“Doch, aber du solltest vorsichtig sein, besonders in der U-Bahn. Torben …“ Ihre Stimme hört sich auf einmal traurig an.
„Ja, Kadlenchen?“
„Wir müssen uns verabschieden.“
„Wie? Jetzt gerade, wo es am schönsten ist?“
„Du kannst nicht hier bleiben.“
Das war ja wieder klar. Einmal der große Held sein, ne passable Freundin an der Seite und dann…
„Du weißt doch, dass du aus einer anderen Dimension stammst. Wenn du hier bleiben würdest, gäb es Turbulenzen in der Raum-Zeit, was zu irreparablen Schäden in beiden Welten führen könnte. Das gilt auch für mich.“
Sie senkt ihren Kopf. Der Pferdeschwanz schwingt traurig hin und her.
„Aber du kommst mich doch mal besuchen?“, murmle ich.
Jetzt schauen mich ihre traurigen Mandelaugen an und ich merke, dass da wohl noch mehr gegangen wär.
„Wir können Ihnen nicht genug danken!“, meldet sich Monopolymann zu Wort. „Es kommt nicht das erste Mal vor, dass solch weitreichende Entscheidungen der Verantwortung eines, nun ja, spezielleren Helden überlassen werden.“ Er kichert.
„Ähm, ich sag mal gern geschehen.“, erwidere ich. „Aber wenn ich mich so umschaue, läuft hier wohl genauso viel schief wie in meiner Welt.“ Er kichert wieder, aber diesmal aufgesetzt.
„Gut, Captain Kadelen, es wird Zeit!“, sagt er schnell.
Sie holt ein Kästchen aus ihrem kleinen Rucksack hervor. Es ist mit lila-schimmernden Holzrauten verziert.
„Dies ist das Portal, das dich in die Normalzeit zurückteleportieren wird“, sagt sie und zieht die Nase hoch. „Du musst nur deine Hand …“
„ … ich weiß, Kadlenchen.“ Ich nehm sie noch mal in den Arm und drück sie an mich. Dann hält sie mir das Kästchen mit geöffneten Deckel entgegen.
„Auf Wiedersehen, Milchmann“, sagt sie leise.
Ich lächle und sage: „Es war mir eine Ehre!“ Ohne zu zögern stecke ich meine Hand hinein. Ich bemerke, wie sich die Größenverhältnisse ändern. Das Kästchen wächst zur Truhe, die Umgebung schrumpft und schwindet. Alles scheint wie von einem Strudel dort ins Schwarze der riesigen Truhe eingesogen zu werden. Mein Arm wird länger und länger, schon kann ich meine Hand nicht mehr sehen. Alles schwindet und mit langgezogenem „Jippeyyyyyyy!!!“ stürz ich mich hinein.

Ein neuer Morgen bricht an

Es gibt Tage, die beginnen mit einem beherzten „Fuck!“.
Und leider kann ich mich auch am heutigen nicht dieses Kraftausdruckes verwehren. Was ein abgefahrener, höchst verwirrender Traum das war! Ich fühl mich dermaßen scheiße, dass mich jetzt nur eines retten kann: Der Gedanke an ein reichhaltiges Frühstück mit einem Glas frisch gepressten Orangensaft. Hä?
Ich hüpfe mit einem Satz aus dem Bett und befinde mich in Kampfstellung. Misstrauisch blicke ich umher. Irgendwas stimmt hier nicht. Keine Kleider auf dem Boden, gebügelte Vorhänge, eine neue Wandfarbe in mokka-pastell ... Ich eile ins Badezimmer und starre in mein neues, altes Selbst.
Wann war ich den beim Frisör? Und was soll dieser gestriegelte Hippsterbart, in dem noch mein Sabber klebt.
„Du siehst so … anders aus!“, sage ich mir, weil mir das gerade bewusst geworden ist. Sollte der Traum etwa doch …?
Ich eile in die Küche und lasse einen Schrei fahren: Dort an der Wand hängt das Samuraischwert, mit dem ich gestern das Universum gerettet hab.
Ich nehme es herunter und fühle wieder diese unerklärliche Kraft in mir aufsteigen. Alles um mich herum scheint zu glitzern.
„Na supi!“, denke ich mir.
Ich hänge es voller Ehrfurcht zurück, presse mir Orangensaft und ziehe mir einen Senseo. Ich lasse mich auf den braunen Stuhl nieder und der Blick fällt auf die Zeitung von gestern.
Die Außenministerin aus Pandalusien war zu Gast bei der Merkel. Mhm, also irgendwo hab ich diesen Pferdeschwanz doch schon mal gesehen.
 

Aligator

Mitglied
Hi Frank und Lupianer!

Deine Idee mit dem neuen Morgen hab ich ungeniert aufgegriffen. So Gott will wird' s ein bisschen runder ;)

Alig.
 

Aligator

Mitglied
Der Tag Iks

„Jetzt steck schon deine Hand rein“, sagt sie.
Ich starre auf das Kästchen, dann in ihr Gesicht, mit den Händen demonstrativ in den Hosentaschen. Mein Puls beschleunigt und ich beiße mir auf die Unterlippe.
„Und du bist dir sicher, dass da nicht irgend ein Scheiß drin ist?“, presse ich hervor.
Sie grinst dämonisch und ihre dunklen Augen funkeln.
„Tu – es!“
Ich blicke mich um, keiner da, der mir weiterhelfen könnte. Ich ziehe Luft durch die Nase und versuche runterzukommen. „Also gut.“
„Bitteschön!“, sagt sie und hält mir das Kästchen entgegen.
Mit zitternden Fingern bewege ich meine Hand zur Öffnung. Die kleinen, bunten Holzrauten am Kästchen schimmern in lila Farbnuancen. Ich bemerke, wie sich die Größenverhältnisse ändern. Das Kästchen wächst zur Truhe, die Umgebung schrumpft und schwindet. Alles scheint wie von einem Strudel dort ins Schwarze der riesigen Truhe eingesogen zu werden. Mein Arm wird länger und länger, schon kann ich meine Hand nicht mehr sehen. Ich versuche aufzublicken, aber alles besteht nur noch aus bunten Fäden. Etwas in mir sträubt sich noch, doch es hat keinen Sinn, ich lasse los und stürze mich hinein.

Am Morgen

Es gibt Tage, da wache ich ausgeschlafen und gutgelaunt auf.
Heute nicht. Der Wecker reißt mich aus meinen durchgeknallten Traum und ich erwache, als würde die Seele noch nicht am rechten Platz sitzen. Der Schädel drückt und mein Kreuz schmerzt. Solche Tage starten mit einem beherzten: „Fuck!“
Ich liege zerknüllt auf der Matratze und starre zur Decke. Jetzt kann mich nur noch eins retten: ein duftende, heißer, mit drei Löffeln Zucker verfeinerter Bohnenkaffee. Wie in Trance überwinde ich sämtliche Schmerzsignalisierungen meines Körpers und stapfe ins Bad. Ein Schwall kaltes Wasser ins Gesicht. Heute ist Donnerstag. Der unscheinbarste Tag der Woche. Keine Ahnung, warum' s ausgerechnet da donnern sollte. Ich blicke in die halboffenen Augäpfel mit den erweiterten Äderchen. Die dunkle Schmalzlocke klebt wie gewohnt nach links. Dort schimmert noch der Sabber im Bart.
„Du siehst so scheiße aus“, sage ich, als wäre ich mir soeben dieser Tatsache bewusst geworden und spucke ins Waschbecken.
Meine Küche, schon fünf Tage überfällig, verströmt einen faden Mief. Die Sonne tut ihr bestes, sich durch die milchige Fensterscheibe zu kämpfen. Ich kippe das Fenster und ziehe mit geschlossenen Augen die Kühle des Morgens ein. Wie ich das liebe! Die Vögel zwitschern, die Baustellen lärmen und durch die Häuserschluchten dringt das Tosen des Berufsverkehrs. Ich ziehe mir einen Senseo, mache ihm Platz auf dem Küchentisch und lasse mich stöhnend auf dem braunen Stuhl nieder.
Mein Blick wandert über das Chaos: Ungeöffnete Briefe, leere Dosen und ganz unten drunter die Zeitung von gestern. Ungeachtet der herunterfallenden Sachen ziehe ich sie hervor und erblicke eine unscheinbare, winzige Anzeige. Dort steht:

DU!

Ich runzle die Stirn, nehme einen Schluck und sage aus einer Laune heraus: „Wer, ich?“

WER SONST? steht da.

Also, was sich diese Fuzzies alles einfallen lassen, denk ich mir und schüttle den Kopf.

TREFFE MICH HINTER DER LITFASSSÄULE UM FÜNF!

„Warum sollte ich?“ Rippen die da Leute ab, einsame, einfältige Bürger, die sich dort eine schnelle Nummer versprechen? Ja, das ergibt Sinn!

ICH ERWATRTE DICH!

„Na dann, viel Spaß dabei!“
Aus purem Zeitvertreib lese ich mir manchmal solche Anzeigen durch. Es gibt schon kranke Gesellen, aber irgendwie amüsiert‘ s mich. Ich überfliege noch einige weniger originelle Texte, zerknülle schließlich die Zeitung zu einem Basketball und versuche mein Glück. Bumm! Voll ins Gelbe! Heute ist mein Glückstag, der Sack ist sogar umgefallen.
„Moment, steht heut nicht was an?“ Arbeitsamt um elf.
Da merke ich, dass ich noch achteinhalb Minuten habe, bis die U-Bahn fährt.

Im Tunnel

Wackelnde Leute sitzen mir gegenüber. Omas mit Taschen auf den Schößen und Schulkids, die wie blöd ihre Smartphones betatschen. Die sind mir für gewöhnlich wurscht, aber ich schaffe es nicht, diese kaugummikauende Schwarzhaarige gegenüber zu ignorieren. Immer wieder streift mein Blick ihren Pferdeschwanz. Er pendelt im Rhythmus zu meiner Musik, die aus den Kopfhörern strömt. Irgendein Progressiv-Rock aus den Siebzigern. Eine sphärische Klangschönheit umspult mich. Es ist einer dieser Momente, in dem sich das Universum zu verdichten scheint. Oh shit, sie guckt her!
Ich schaue schnell auf meinen Schoß, als hätt ich etwas Verbotenes getan. Dazu dieses abgefahrene Gitarrensolo. Ich schäme mich, aber warum eigentlich? Jetzt erst recht!
Vorsichtig hebe ich den Kopf. Oh, Mann, sie schaut immer noch zu mir herüber, mit so einem verschmitzten Lächeln. Irgendwo hab ich die doch schon mal gesehen …Was für einen merkwürdigen, silbrig glitzernden Trainingsanzug die anhat. Der Gitarrenguru hebt gleich ab, er ist schon am 18. Bund. Da sagt sie etwas, ganz langsam.
Ich versteh‘ s nicht. Und Lippenlesen zählt auch nicht zu meinen Stärken. Oder doch? Hat sie nicht „I love you“ gesagt?
Ich setze den Köpfhörer ab.
„Hä?“
„Was-willst-du?“, kommt von ihr.
„Nichts.“ Wie schlagfertig! Mich treffen die Schakalblicke der anderen Fahrgäste. Der ganze Zauber ist aus.
Mein Gesicht verkrampft sich kurz zu einem schiefen Grinsen, dann setzte ich mir den Kopfhörer auf und ziehe die Kapuze meines Pullis über den Kopf.
Da kommt jetzt der noch viel krassere Song. Ob ich das überlebe? Ich drehe voll auf und schließe die Augen.
Komisch, der hört sich heute anders an. Da ist die Orgel, da die Flöte, da der Bass, aber da ist noch etwas im Hintergrund, ganz leise. Hm, es ist so eine Art Jingle. Es hat einen Text, der sich ständig wiederholt. Die haben doch damals immer so Botschaften untergemischt, wie „Kauf die Platte“ und so. Jetzt verstehe ich' s:
„Was willst du – was willst du ...“. Immer wieder. Komisch, wieso singen die deutsch? Verträumt öffne ich die Augen und …
Ach du Scheiße! Die ganzen Leute um mich herum singen das ja! Die Omas und die Schulkids!
Sie sind alle aufgestanden und tanzen - so gut das in einer fahrenden U-Bahn halt geht - im Rhythmus wie auf Viva, singen immer lauter und zeigen bei dem „du“ mit den Zeigefingern auf mich.
„Was-willst-du!“
Noch dazu kommen sie immer näher. Ich springe auf die Bank und – aua! - haue mir ordentlich den Schädel am Gepäckfach an.
„Was-willst-du!“
„Ich will, dass das aufhört, ihr Idioten!“, schreie ich, aber ohne Wirkung. Im Gegenteil: Mein Geschrei hat es noch verstärkt, jetzt ziehen sie mit dem Tempo an.
„Torben!“, hör ich da jemanden.
„Ja, so heiß ich!“, rufe ich zurück.
„Hier rüber, Torben!“ Da merke ich, dass der schwarze Pferdeschwanz an der Tür zum nächsten Wagen herwinkt.
„Ich komme!“ Die durchgeknallten Tanzzombies lassen mich ungehindert rüber rennen und ich spring aus der Tür, in der auch Sekunden zuvor meine Retterin verschwunden ist.

Das Mädchen schließt die Tür hinter mir und es wird still. Nur mein Keuchen ist zu hören, ich hab ja ungelogen noch niemals so einen Schiss verspürt wie gerade eben. Ich stütze mich auf den Knien ab und atme. Allmählich stimmt die Sättigung in meinem Hirn. Mein Blick streift das Fenster. Was ist das? Wir fahren nicht mehr durch das Dunkel der U-Bahnschächte, sondern durch eine helle Sommerlandschaft. Kornfelder ziehen wie ein Meer an uns vorüber.
„W-was war das gerade?“, stottere ich noch immer am ganzen Leib zitternd.
„Du bist in eine Entscheidungssubraumtangente geraten“, antwortet Pferdeschwanz kühl.
Ich nicke mit dem Kopf. Nach einer Weile frage ich verdattert: „Was?“
„Dein Bewusstsein hat in Verbindung mit der Geschwindigkeit der U-Bahn und den Schwingungen der Musik einen neuronalen, hypertransorbitalen Cluster ausgelöst ...“
Sie ist so wunderschön … und klug!
„ … und dadurch konnte ein Riss im Zeit-Raum-Kontinuum entstehen, der wiederum ...“
Ich glaub ich hab mich verknallt. Ausgerechnet jetzt!
„ … deinen Kortex mit fluxkompensatorischer, temporärer Masse überflutet hat. Du wirst dich nun wahrscheinlich etwas verwirrt fühlen, aber das sollte sich bis in zehn Minuten wieder legen. Dann hat sich dein Gehirn an die veränderte Raum-Zeit eingepasst. Auch dein Parasympathikus, übrigens!“ Sie deutet auf die Ausbeulung meiner Hose.
Ich setze mich auf die Bank, schlage die Beine übereinander und frage:
„Wer bist du eigentlich? Und warum redest du so neunmalklug?“
Sie zieht ihren Pferdeschwanz fester, setzt sich mir gegenüber und lächelt.
„Ach, ich bin die Kadelen und ich lese halt gern.“
Mein Mund steht offen. Ein Speichelfädchen seilt sich ab. Ich merke wie mir alles zu viel wird und ich wie ein angepiekstes Sufflé zusammensacke.
„Bitte …“, stammle ich mit letzter Kraft, „ ... lass mich jetzt nicht allein!“ Dann wird alles schwarz.

„Torben!“, höre ich den Singsang aus der Ferne
„M-hm?“
„Wach auf, Torben!“
„Mussnonet…“
„TORBEN!“ Diesmal geschrien.
Ich reiße die Augen auf, drehe mich um und sehe Kadelen vor mir stehen, die Hände auf die Hüften gestützt. Sie sagt: „Komm jetzt zu dir, wir müssen los!“
Ich setzte mich wie nach einer durchzechten Nacht auf. Wir sind immer noch allein in dem Wagen, allerdings fährt er wieder im Dunklen.
„Ähm, danke nochmal, dass du mir vorhin geholfen hast.“ Ich schaue auf meine Uhr. Sie muss stehen geblieben sein, denn sie zeigt fünf vor vier an. „Ich muss dann nächste Haltestelle raus.“
„Ja und du wirst dich entscheiden müssen, welches Raum-Zeit-Portal du durchschreiten möchtest, ...“
Langsam aber sicher geht sie mir auf die Nerven mit ihrem Startrek-Gelabere.
„ … und pass auf, dass du dich nicht in einer Schicksalsschleife verhedderst. Dann würde ein und derselbe Moment immer wiederkehren und ...“
„Stopp!“ Ich kann' s nicht mehr hören!
In diesem Moment bremst der Zug ab. Gut so, besser ich gehe und lasse das Mädchen aus einer anderen Welt zurück.
Wir halten an und die Türen öffnen sich. Wie jetzt, auf der linken und rechten Seite? Ich gehe langsam zu der einen. Doch da ist keine Haltestelle. Auf einer Anzeige steht: „Destiny City“. Nie gehört. Draußen sehe ich eine Fußgängerzone! Lauter Leute mit Tüten. Ich drehe mich um und blicke aus der anderen. Oh Mann, es sieht so aus, als befindet sich eine Wüste da draußen. Dünen über Dünen. Heißer, staubiger Wind weht mir ins Gesicht. Etwas ratlos wandert mein Blick wieder zu Kadelen. Die steht da, grinst und meint: „Ich sagte dir ja, du musst dich entscheiden!“
Nach ein paar Sekunden zucke ich mit den Schultern, sage „tschüss“ und verlasse diesen merkwürdigen Zug, natürlich zur Stadt hinaus. Keine Ahnung, welche special effects die hier aufgefahren haben. Dieser Tag ist mir zu verwirrend, als dass ich mir jetzt darüber Gedanken machen kann. Ich sollte lieber mal Sendepause halten.

Der Retter naht

Verdammt, wo bin ich hier? Ich kenne keine Straße, kein Geschäft und überhaupt, irgendwas stimmt schon wieder nicht. Seit fünf Minuten gehe ich einfach geradeaus. Aus unbeirrbarem Glauben an mich selbst habe ich noch niemanden nach dem Weg gefragt. Ich kenne mich in dieser Drecksstadt doch aus. Zwangsläufig, denn ich habe es selten aus ihr heraus geschafft. Aber hier, wo bin ich gelandet? Destiny City. Oder was? Diese Menschen, sie lächeln alle aufgesetzt und keiner sagt was. Man hört nur das Trap-Trap der Schuhe und das Klock-Klock der Highheels. Sie sehen ja ganz gut aus, wie Schauspieler oder Statisten. Da pass' ich gar nicht rein, mit meiner Halbmasthose und den zerfetzten Chucks. Hoffentlich merken die das nicht. Egal, ich frag den da jetzt:
„Tschuldigung, können Sie mir vielleicht sagen, welcher Stadtteil das hier ist?“
Der Typ im Anzug und der schmierigen Frisur schaut mich an, grinst mir sein blinkendes Pferdegebiss entgegen und denkt nicht daran, stehen zu bleiben.
„Vielen Dank auch, du Lackaffe!“, denk ich mir. Aber ich sage es lieber nicht laut. Langsam steigt die Angst empor. Was, wenn das hier wirklich eine andere Realität ist? Oder bin ich auf irgendwas hängengeblieben?
„Hi, Torben!“
Scheiße, bin ich erschrocken! Ich dreh mich um, weil mir jemand auf die Schulter geklopft hat und wer steht da? Kadelen, natürlich.
„Ach du bist' s!“, freue ich mich fast.
„So wird das aber nichts, mein Freund“, sagt sie.
Wow, sie hat 'Freund' gesagt. So hat mich nie ein Mädchen genannt. Nur die wenig charmante Verniedlichkeitsform davon. Vielleicht können wir ja doch heiraten und Kinder bekommen.
„Du musst schon irgendwie interagieren, wenn sich weitere Portale öffnen sollen.“
Geht das Generve wieder los!
„Nö“, antworte ich so zickig ich nur kann, „hab aber keine Lust zu interagieren!“
Sie senkt den Kopf. Dann sagt sie traurig:
„Das ist aber schade, denn es steht immerhin das Universum auf dem Spiel.“
„Ach!“ Mit schiefen Kopf und süffisantem Lächeln lass ich Hohn auf sie hageln.
„Ich habe dir doch von den transorbitalen Cluster, denn du ausgelöst hast, erzählt. Er wird in kurzer zu einem schwarzen Megaloch implodieren, das alles verschlingen wird.“
Also gut, Mädchen.
„Wie soll ich diesen scheiß Cluster denn ausgelöst haben, hä? Mit Rockmusik aus den siebzigern?“
Kadelen schaut mich irritiert an und sagt:
„Haben dich deine Eltern etwa nie vor Rockmusik gewarnt?“
„Willst du mich verarschen“, jetzt schreie ich, „ich hab die Mukke doch von meinem Alten!“
„Aber die Auswirkungen werden verheerend sein!“
„Na Prima, kann mir doch nur recht sein, wenn der Laden den Bach runter geht! … Entschuldigung.“ Bei 'Bach' hab ich gespuckt.
Sie wischt sich über die Stirn. „Und alle Menschen, deine Familie und deine Freunde, sind sie dir alle egal?“
Ich schlucke. Jetzt hat sie mich. Sicher könnt ich jetzt „ja“ sagen. Habe mit meinen Eltern seit drei Jahren nicht mehr gesprochen. Und Freunde? Da fällt mir nur Pflaume ein, die alte Flipsbirne, der ist meistens so drauf, dass er sich bereits in einer anderen Realität befindet. Und Detlef mein Sandkastenkumpel ist nach Schweden gezogen, der Verräter. Mir könnten die echt alle egal sein, aber wer ist schon gern alleine auf diesem Planeten? Wer kann schon von sich behaupten, er brauche niemand?
„Was ist denn los?“, fragt Kadelen und berührt zärtlich meine Schulter. Wow, die riecht nach Pfirsichen. Und da wird es mir schlagartig klar: ich muss es tun! Ich muss es für sie tun! Scheißegal was, aber ich werde mir selbst in den Arsch treten und es tun! Und wie ich es tun werde!
„Ich will' s mit dir tun!“, sage ich mit entschlossener Haltung.
Kadelen zieht die Hand zurück.
„Ich will das Universum retten!“
Da fängt sie an zu strahlen und sagt: „Na prima!“
„Aber“, lege ich mit erhobenen Zeigefinger fest, „dazu muss ich dich erst mal besser kennenlernen!“
„Torben, die Zeit drängt!“
„Bis du von hier?“
Sie seufzt und wir setzen uns auf ihren Wink hin auf eine Bank. Dann schließt sie kurz die Augen und fängt an: „Nein, ich bin nicht von hier, nicht mal aus dieser Dimension. Ich komme von einer Welt, die du dir nicht mal im Entferntesten vorstellen kannst. Der intergalaktische Rat hat mich auserwählt, dir auf deiner Mission beizustehen.“
„Aber Moment mal, du warst doch schon vorher in der U-Bahn gesessen, noch bevor die Sache mit den Omas und Schulkids passiert ist.“
„Ich wusste, dass es passiert. Es war dir schon immer bestimmt, den Iks auszulösen.“
Verstehe nicht.
„Heute ist er, der Tag Iks. Der Tag der Intergalaktischen Katastrophen Sekunde. Wir haben sogar unsren Kalender danach berechnet.“
Das stimmt mich nachdenklich. „Und ich hab ihn ausgelöst?“
Schade, dass Pflaume jetzt nicht da ist, der glaubt mir das niemals.
Kadelen schaut mich ernst an und fährt fort:
„Vergiss nicht, es kann nur ein gutes Ende nehmen, wenn du dich für die richtigen Portale entscheidest.“
Ausgerechnet ich, der sich vor allen Entscheidungen drückt.
„Woher soll ich wissen?“
„Das ist die eine Schwierigkeit, die andere ist, dass du die Portale erst aufspüren musst.“
„Mhm, und dieses Destiny City ...“
„Die Realität in der wir uns jetzt befinden, ergibt sich aus der Raum-Zeit-Abnormalität und deinem eigen, erweiterten Unterbewusstsein. Aus irgendeinem Grund beschäftigt dich anscheinend das Konsumverhalten deiner Artgenossen.“
„Soll das heißen wir befinden uns in so ner Art Gedankenwelt … in meinem Hirn?“, schließe ich.
„Sozusagen.“
„Oh-mein-Gott!“

Verabredung mit dem Beelzebub

Wir gehen jetzt schon eine halbe Stunde. Ich trotte voraus, Kadelen wachsam hinterher. Diese Zone muss hunderte Kilometer lang sein. Ich blicke mich immer wieder um, aber sie zuckt nur mit den Schultern.
Die Statisten ziehen grinsend vorüber. Alle mittleren Alters. Alle gestriegelt und braungebrannt. Meine Armbanduhr zeigt fünf vor fünf an. A-ja, wegen der veränderten Raum-Zeit! Mir sticht da eine Litfaßsäule ins Auge. Da war doch was … Ich gehe mal zu ihr hin. A-ha, Zigarettenwerbung.
„Nicht da lang!“, bricht Kadelen das Schweigen.
„Wieso?“
„Ich empfange negativ geladene Masseteilchen.“ Sie fuchtelt mit so einer Art Tricorder umher.
Ich schnuppere angestrengt. „Also ich empfange nichts.“ Da hinten blinkt doch was!
„Torben“, befiehlt sie, „bleib stehen!“
Fortgeschrittene Technik und weibliche Intuition trifft meinen Dickschädel.
„Wer ist denn hier der Retter des Universums, hä?“, rufe ich.
Es blinkt in der Gasse, ganz hinten, in der Dunkelheit. Da muss es sein!
„Torben, ich kann dir nicht dahin folgen, bitte komm zurück!“, fleht sie. Das gefällt mir natürlich.
„Komme gleich wieder, hab keine Angst!“
Ich frage mich, warum ich selbst keine verspüre. Muss Neugierde sein.
Mit jedem Schritt wird es dunkler. Es ist, als ob das Licht von dort hinten eingesogen werden würde.
„Da bist du ja endlich!“ Eine versoffene, männliche Stimme dringt an mein Ohr.
„Hallo?“ Ich kneife die Augen zusammen, kann aber nichts erkennen. Schließlich nehme ich die Umrisse einer Gestalt war, die sich zu mir bewegt. Ich glaube, sie schwebt sogar. Er hat mich mit einer Taschenlampe hergelockt, der Halunke!
„Gut, dass du meiner Einladung gefolgt bist!“, sagt er.
Einladung? Meint er etwa die abgefahrene Zeitungsannounce von heute früh?
„Wie konntest du mich durch die Zeitung kontaktieren?“, frage ich schließlich, „und warum eigentlich?
Die Stimme grollt: „Bist du nicht der große Retter, der Milchmann?“
„Milchmann?“ Ausgerechnet ich mit meiner Laktoseintoleranz.
„Ja, der Retter der Milchstraße!“
„Hm, … kannst du mich nicht einfach Retter des Universums nennen?“
„Viel zu lang und so steht es nun mal in den Prophezeiungen!“
So schlecht hört sich' s auch wieder nicht an.
„Okay, nenn mich wie du willst. Sag mal, du bist nicht zufällig an so Portalen vorbei gekommen? Jetzt komm doch mal ins Licht, ich seh dich ja gar nicht!“
„Mag sein, großer Milchmann!“
„So sag er mir: wo jetzt?“
Die Gestalt nähert sich. Er ist in einen schwarzen Umhang gehüllt. Von seinem Gesicht kann man nur die rotglühenden Augen sehen. Auf dem Kopf trägt er einen Zylinder. Verdammt, hätte ich Schiss, wenn ich nicht der Milchmann wäre!
„Hier!“ Er streckt mir zwei Spielkarten entgegen: ein Pik-Ass und eine Kreuz-Sieben. „Wähle, denn du bist der Entscheidende!“
Das sollen Portale sein, will der mich verarschen? Da pass ich doch gar nicht durch.
„Hast du nicht was Größeres für mich?“
„Also wenn sie dir nicht gut genug sind“, sagt Auge beleidigt, „dann wünsch ich noch viel Erfolg bei deiner Suche!“
„Moment, Moment, Moment!“ Ich kratzte mich am Hinterkopf. Besser ich nehm jetzt eine, anstatt noch Stunden in Komparsenstadt zu verbringen. „Kreuz sieben!“
Der Typ lacht wie ein Lungenkranker. Ein Schauer jagt mir über den Rücken.
„Oder doch vielleicht die andere?“, sage ich schnell.
Das Lachen verstummt. „Was jetzt?“, fragt er.
„Kann ich eigentlich auch beide haben?“
„Nein, entscheide dich für eine! Das kann doch nicht so schwer sein!“
„Okay, dann, dann … nehm ich die Pick-Sieben.“
...
„Ich hab aber keine Pick-Sieben!“
„Hast du gar kein Herz?“
„Aaaaach!“ Auge ist ganz schön genervt. Ist aber auch nicht leicht. Es geht schließlich um' s Universum.
„In Ordnung, dann nehm ich halt die erste.“
„Eine weise Wahl, Milchmann!“
Er schnippt sie mir rüber und sie landet direkt auf meiner Hand.
„Hey! Das war ganz schön cool, Alter!“, bemerke ich anerkennend. „Kannst du dass auch ein zweites Mal?“
„Sicher kann ich das“, behauptet Auge.
„Niemals!“, sage ich.
„Sieh und staune, Milchmann!“
Als die zweite Karte landet, gebe ich Gas. Ich renne um mein Leben und werfe Mülleimer dabei um. Auge ist gar nicht amüsiert und kommt hinterher geflitzt.
„Kadelen!“, rufe ich, „welche ist die Richtige?“
Sie steht immer noch an der Litvassäule. „Sind das die Portale?“
„Gleich hab ich dich, du Würstchen!“, höre ich den Teufel immer näher kommen.
„Ist wohl nichts mehr mit großer Milchmann, oder was?“
„Wähle eines aus!“, schreit Kadelen.
„Ja, aber…“
Ich spüre eine eisige, knochige Hand an meinem Nacken. „Nimm deine Wichsgriffel von mir!“, schreie ich.
„Wähle endlich!“, ruft Kadelen.
„Ich wähle Tor Kreuz-Sieben!“, brülle ich in den Himmel.
Plötzlich wächst die Karte zur Größe einer Plakatwand. Ich verliere den Boden unter den Füßen und stürze in einen Strudel aus Raum und Zeit und … Lakritze.

Im Albtraumland

Tante Renate – Stoff für reichlich Kindheitstraumata. Gut an ihr war, dass sie im Norden lebte. Weit weg von unschuldigen Kindern. Aber nicht weit weg genug, um mir das alljährliche Geburtstagsdrama zu ersparen. Sie steht also vor mir, ihre kalten, feuchten, pink schimmernden, mit Stoppeln gekrönten Lippen spitzen sich, ich erleide Schauer um Schauer, und dann … Ich erspare mir den restlichen Teil der Rückblende. Auf jeden Fall kannte ich den Grund für ihre Verkommenheit: Ihre unstillbare Leidenschaft für Bärendreck, diese eklige, schwarze Süßspeise, würg!
Ich stehe auf einem Hügel Lakritze, betrachte das Lakritzgebirge mit dem angrenzenden Süßholzwald und denke mir:
„Ja, das ist wirklich der Leibhaftige gewesen. Welch perverser Geist sonst könnte ausgerechnet mich ins Lakritzeland verbannen?“
Stunden später trotte ich noch immer den schwarz gepflasterten Weg entlang, keine Spur von Kadelen, meine Hoffnung schwindet und die des Universums mit ihr. Die Beine werden schwerer und schwerer. Doch es hilft nichts, ich muss weiter.
Wieder Später wate ich durch den L.-Sumpf. Ich will und kann dieses Wort nicht mehr vollständig denken. Meine geliebten und einzigen Schuhe bleiben in L. stecken. Selbst mein Pulli und meine Jeans wurden mir entrissen, doch es gelingt mir mit letzter Kraft, es heraus zu schaffen.
Irgendwann liege ich nackt und mit L. beschmiert auf der unendlichen Weite der L.-Steppe. Ich möcht nicht mehr. Die schwarze Sonne brennt. Ich starre in die L.-Wolken und denke mir: „So das war' s, der Milchmann gibt auf. Was ein beschissener Abgang!“
Wieder Stunden später. Meine rechte Gesichtshälfte klebt auf dem Boden. Die Hitze lässt die Luft über der schwarzen Ebene flimmern. Eine salzige Träne rinnt herab, tränkt die herbsüße Steppe wie ein leiser, letzter Protest. Ich schließe die Augen …
… und öffne sie noch ein letztes Mal. Da, eine Fata Morgana am Horizont. Ein Motorrad wirbelt Staub auf. Ich höre das Bollern des V2, spüre die Vibrationen. Echt geil gemacht, die Hallu. Respekt für meinen kranken Geist! Die Harley kommt näher, wird geparkt, der Fahrer steigt ab beugt sich zu mir herunter und sagt:
„Um Himmels Willen, Torben?“
„Bist du' s, Kadelen?“
Sie nimmt meinen Kopf auf ihren Schoss.
„Bist du aus – Lakritze?“, frage ich.
„Natürlich nicht, aber bei dir wär ich mir nicht so sicher.“

Eine halbe Stunde später bollern wir über den Highway. Die Landschaft hat sich allmählich und zu meiner Beruhigung verändert. Vereinzelnte Kakteen und trockene Sträucher ziehen an uns vorbei. Es sieht hier aus wie im Wilden Westen. Ich sitze hinten auf dem Sozibrötchen und klammere mich an Kadelen. Sie hat mir was zu trinken gegeben, mich notdürftig gesäubert und mir mit einen Lendenschurz ausgeholfen, den sie kurzerhand aus ihrem T-shirt gerissen hat. Der silberne Stoff flattert über meinem nackten Hintern. Aber es ist mir egal, denn hier ist keine Seele weit und breit, die mir was abgucken könnte. Und wenn schon.
„Wo hast du denn das Motorrad her?“, rufe ich ihr ins Ohr.
„Hab' s mir geborgt!“, schreit sie zurück.
„Und von wem?“
„Von Typhon. Na ja, eigentlich hab ich‘ s aus seiner Garage gestohlen. Da standen noch mehr. Er sammelt die anscheinend.“
„Ach so.“ Hauptsache der Tank ist voll. „Und, wo fahren wir jetzt hin?“
„Na, erst mal weg von Typhon, natürlich!“
„Klar!“ Ich blicke vorsichtshalber nach hinten. Nichts zu sehen.
„Ähm, Kadelen?“
„Ja?“
„Wer ist denn dieser Typhon nochmal?“
„Ach nur so ein riesiges Ungeheuer, hab ihn mal auf ner Party kennengelernt. Ist eher so ein Intellektueller, der sich gern reden hört.“
„Also nicht gefährlich oder so?“
„Na ja, er hat 100 Drachenköpfe, man weiß nie so recht, mit welchem man reden soll. Das kann in einer Disskussion schon gefährlich werden.“ Sie lacht, findet das wohl witzig. „Übrigens, er kommt auch in der griechischen Antike vor.“
„Interessant! - Kannst du nicht ein bisschen schneller fahren?“
„Keine Sorge, der holt uns schon nicht ein.“
In diesem Moment macht sich mit lautem Knall eine Fehlzündung bemerkbar. Der V2 stottert. Kein Sprit mehr. Wir rollen noch eine Weile im Leerlauf, dann kommen wir zum Stillstand.
„Ups“, meint Kadelen.
„Und jetzt?“, frag ich.
„Hm, weiß auch nicht so recht …“
Ich blicke mich noch mal um und erkenne eine Staubwolke am Horizont, die sich uns tosend und unaufhaltsam nähert.
„ …vielleicht rennen?“

Ich sitze im Schneidersitz auf dem Highway und warte. Angesichts des sich nähernden Unheils, scheint jede Flucht sinnlos. Die Harley steht ein Stück entfernt. Kadelen schreibt eine SMS mit dem Tricorder. Ihr schwarzer Zopf flattert im Wüstenwind. Sie scheint sich keine großen Sorgen zu machen. Vielleicht kann sie sich aus der Geschichte herausreden. Labern kann sie ja.
Irgendwie haben die vielen bedrohlichen Situationen mich verändert. Es ist nicht so, dass ich keine Angst verspüre, aber ich kann besser mit ihr umgehen. Der Kick bleibt aus. Ich atme ruhig und fokussiere das Riesenungeheuer, wie es rast und tobt und sich auf uns zu bewegt. Immer mehr Details kann ich ausmachen. Es läuft auf den Hinterbeinen. Flügel hat es keine. Dafür hat es wirklich verdammt viele Köpfe. Aber hundert? Niemals, - Halt doch mal ruhig! - das sind höchstens an die dreißig. Dass die Leute immer so übertreiben müssen!
„Also gut“, sagt Kadelen, „ich hab mal alles überschlagen. Wenn man die neuronale Struktur dieser Situation betrachtet, müssten die nächsten Portale im Zusammenhang mit dem Ungeheuer erscheinen. Eine Konfrontation ist sowieso unausweichlich.“
Ach nee!
„Aber das mit der Harley biegst du wieder hin“ fordere ich. „Dafür kann ich ja nichts.“
Kadelen macht ein Gesicht, als hätte sie in eine Zitrone gebissen. „Sorry, aber es wär wohl das Beste, wenn ich jetzt verschwinde.“
„Wie jetzt?“
„Ich werde mich weg teleportieren.“
„Und was ist mit mir?“
„Das ist unmöglich. Du kannst nur durch die Portale verschwinden.“
„Du willst dich also so mirnichtsdirnichts aus dem Staub machen?“
„Versteh mich nicht falsch, es ist kompliziert.“
„Find ich nicht. Ist doch ziemlich klar, alles.“
Sie schaut mich mitleidig an, dann sagt sie:
„Vertrau mir, du wirst es verstehen!“ Und mit einem Lächeln löst sie sich in Luft und Seifenblasen auf.
„Ja, ja, der Milchmann macht das schon.“

Die Konfrontation mit dem Kritiker

Das Ungeheuer ist nun fast da. Es bremst mit einer gewaltigen Staubwolke ab und stampft zur Harley, hebt sie vorsichtig zwischen Daumen und Zeigekralle hoch und einer der Drachenschädel schnuppert daran. Die anderen haben mich längst entdeckt. Einer ruft: „Ey Jungs, guckt mal, der da drüben, den machen wir platt!“ Andere brüllen einfach rum. Unter intellektuell stell ich mir was anderes vor.
Ich stehe auf, räuspere mich und rufe:
„Hallo Herr Typhon, ich hab das Motorrad nicht geklaut, ganz ehrlich!“
Der Titan stampft auf mich zu. Die Erde erzittert unter seiner Last. Ein Koloss von zwanzig Metern Höhe verfinstert die Sonne.
Ein Drachenkopf mit Brille und Ziegenbart, er scheint der Verhandlungsführer zu sein, beugt sich zu mir herunter.
„Winzling“, sagt er majestätisch, „du steckst tief im Schlamassel.“
Immer noch besser als Lakritze. Mal versuchen, ob ich es mit labern hin krieg.
„Ich bin nur zufällig hier vorbei gekommen und hab mir gedacht: 'Dieses herrenlose Motorrad, das da so rumsteht, würde doch ausgezeichnet in die Sammlung des unbezwingbaren Typhon passen'. Welch freudiger Zufall also, dass Sie jetzt persönlich gekommen sind. Dann kann ich ja gehen. Also …“
„Schweig still!“, brüllt der mit der Brille. Er hat Ähnlichkeit mit dem Direktor meiner alten Schule. Oh Mann, jetzt merk ich‘ s: da sitzt ja das ganze Lehrerzimmer auf den Hälsen. Sogar Hansen, der Sportlehrer! Der hat mich noch nie leiden können.
„Lasst uns ihn auffressen, er geht mir jetzt schon auf die Nerven!“, ruft dieser.
„Das kann ich gut nachvollziehen, aber …“, ich füge eine dramatische Pause ein und gehe dabei bedeutungsvoll auf und ab, „ … aber ich gebe Ihnen zuvor noch etwas zu bedenken: Es ist nämlich so, dass sich dort oben in der Atmosphäre ein Cluster gebildet hat, der sich irgendwie in ein schwarzes Loch oder ähnliches verwandeln wird, und das alles und jeden – und somit auch Sie! – verschlingen wird, wenn nicht…“, ich erhebe feierlich Stimme, „ …wenn nicht ich, der intergalaktische Milchmann, durch das richtige Portal schreite und dem Ganzen Einhalt gebiete … noch dazu bleibt übrigens die Zeit nicht hängen!“
Dreißig Augenpaare mustern mich. Dann sagt der Professor – hatte ich den nicht in Deutsch? – mit Würde und Gelehrsamkeit in der Stimme: „Mein Lieber Milchmann, oder wie du dich zu nennen scheinst, das ist nun wahrlich die unglaubwürdigste Geschichte, die mir je zu Ohren gekommen ist. Man könnte meinen, du hättest dir ohne Plan und Richtung etwas zusammengereimt, es mit pseudowissenschaftlichen Begriffen gespickt, um den Ganzen eine Sci-Fi-Note zu geben und würdest dich nun von einem Kapitel ins nächste hangeln, ohne einen Funken Ahnung, wohin das letzten Endes führen soll.“
„Was für Kapitel?“
„Und dann dieser Heldenmythos. Wie oft hat‘ s das schon gegeben? Ist dir da wirklich nichts Besseres eingefallen?“
„Aber es muss doch immer einen Helden geben und … ich bin‘ s doch, der Milchmann“, schmolle ich.
„Das ist ein so erbärmlich schlechter Plot und ich kann mir nicht vorstellen, dass du so jemanden bei der Stange halten kannst. Mich hast du nicht überzeugt!“ Das reicht jetzt aber!
„Ja, Mann, ich hab‘ s kapiert! Und ich möchte nur mal so eben klarstellen, dass Ihr Gelaber weder was ändert noch jemanden nützt!“
„Diese Füllwörter, hör auf, hör bitte auf! Kommt Kollegen, diesem ist nicht weiterzuhelfen. Reine Zeitverschwendung, lasst uns verschwinden.“
Der Gigant erhebt sich und will sich aus dem Staub zu machen. Aber das kann ich jetzt nicht so stehen lassen.
„Hey, ich soll nicht glaubwürdig sein oder was? Scheiße, was bist du dann, mit deinen annähernd dreißig Köpfen und dummen Sprüchen? Eine Nebenrolle, ein aufgepumpter Komplex meines intellektuellen Versagens bist du! Komm schon, fress mich auf, wenn du es schaffst! Aber du kannst mich nicht mal anknabbern!“ Ich merke wie ich aus mich heraus wachse. Man bin ich drauf! Sicher ein Flashback von der Lakritze.
Tatsächlich, er bleibt stehen. Der Professorenschädel dreht sich zu mir um, schüttelt sich und macht nur „Z-z-z, wie erbärmlich!“.
Der nimmt mich nicht ernst! Ich bin doch auch wer! Milchmann oder nicht, jetzt lass ich‘ s krachen.
Da schwebt ein kleines Päckchen am Fallschirm vom Himmel. Ich fange es auf, darin ist ein Griff eingepackt und ein Zettel. Darauf steht: Jetzt bist du soweit! Grüße, Kadelen.
Ich umschließe feierlich den Griff mit beiden Händen. Eine gleißende, metallisch schimmernde Klinge erwächst aus ihm. Geil, ein Samuraischwert aus einer anderen Dimension!
Ohne weitere Anweisung begreife ich, was zu tun ist. Ich renne schreiend auf das Ungetüm zu, hole aus und lasse die Klinge durch die Sehnen seines linken Beins gleiten. Typhon jault. Immer wieder ramme ich das Schwert ins Bein, springe hoch und schaffe es so an Höhe zu gewinnen. Jetzt ist der erste Schädel dran. Zuerst verarbeite ich seine Ohren zu Filet. Violettes Blut schäumt aus den Wunden. Das Monster versucht krampfhaft mich loszuwerden, aber es ist immer ein Hals oder Schädel im Weg. Wie ein Mördermoskito setzte ich ihm zu, hiebe wie von Sinnen in sein Fleisch. Typhon brüllt und rast. Mein Katana pfeift durch die Luft.
Irgendwann lande ich keuchend auf dem Boden. Das Schwert ramme ich daneben. Ich bin mit Typhons violetten Lebenssaft getränkt, unbesiegbar und mit schier endloser Intelligenz beseelt.
Der Titan taumelt, gurgelt Blut, mit den meisten Hälsen unbekopft fällt er rücklings in die staubige Ebene. Ein letztes Mal hebt sich der geschundene Brustkorb und mit einem gestöhntem „Milchmann!“ die Seele zu entlassen. Typhon ist tot.
Was hab ich getan? Wie konnte es nur soweit kommen? Und, wie soll ich ihn jetzt nach den Portalen fragen?
Da höre ich ein leises Stöhnen. Es kommt von hinter dem mächtigen Leib her. Ich ziehe das Schwert wieder aus der Erde, schreite kampfbereit um das Ungetüm herum. Da, etwas entfernt, liegt ein einsamer Kopf. Er scheint noch zu leben.
„Milchmann“, presst er hervor. „Komm zu mir, Milchmann!“
Ich lasse die Waffe sinken und trete näher. Dieser Schädel hat Ähnlichkeit mit meinem Kunstlehrer, Herrn Kalowsky. Die Zunge hängt aus seinem riesigen Maul, doch er scheint zu grinsen.
„Herr Kalowsky, sind Sie es?“, frage ich.
„Du hast mich gerettet.“
„Hab ich das?“
„Ja, du hast mich befreit.“
Ich verstehe nicht. „Aber Sie werden doch sterben.“
„Besser einen Tod mit freiem Geist, als hundert Leben in geistiger Versklavung.“ Er hustet einige Male.
„Aber es wird für Sie enden, Herr Kalowsky! Sie werden zu Grunde gehen!“
„Kennst du nicht den Phönix, wie er sich aus seiner Asche erhebt und in unerreichte Höhen emporsteigt? Du hast mir diese tödliche Wunde zugefügt, doch nicht, um mich von meinem Dasein zu trennen, sondern vielmehr vom unnützen Wissen anderer und derer heuchlerischen Nachahmung. Jetzt koste ich die Süße meiner letzten Stunde mit dem Bewusstsein, dass das kranke System mich nicht bezwingen konnte. Diese Wunde ist die Pforte für meine Neuentwicklung und höhere Daseinsform. Du hast mir die Freiheit geschenkt, Milchmann.“
„Gern geschehen“, sage ich traurig. Ich merke wie alles verschwimmt. Jetzt bloß nicht flennen! „Sagen Sie mir Herr Kalowsky, sie haben doch nun freie Sicht, warum soll ich Portale finden?“
Der Schädel zittert, die dunklen Augen drehen sich nach oben, dass man nur das Weiße sehen kann.
Dann blickt er mich wieder an, auf eine Weise, als könne er tief in mir lesen.
„Sie stehen für deine Entscheidungen. Und es sind immer zwei, weil du ständig zwischen zwei Möglichkeiten wählst.“
„Warum dieses Entscheiden?“
„Damit du dich selbst erkennst.“
„Hmm und wenn ich mich selbst erkannt habe, wird das dann wirklich Auswirkungen auf‘ s gesamte Universum haben?“
Der Schädel verzieht das Maul zu einem Lächeln. Dann spuckt er lila Blut und flüstert mit letzter Kraft:
„Puffz.“
„Was?“
Shit, er ist hinüber.

Abenddämmerung

Und so richtig schlau wurd ich aus der Rede von Herr Kalowsky nicht. Oder, doch? Er hat die Portale als Möglichkeiten bezeichnet. Ich muss also alle Möglichkeiten meiner momentanen Situation abwägen und auf zwei Extremen stoßen, die sich dann als Portale materialisieren, von denen wiederum eines in eine neue Bewusstseinsschleife führt. Alles im Submodus meiner Wahrnehmung. Ganz klar.
Ich schaue in die flimmernde Weite des Horizonts.
„Was soll nur diese ewig sinnlose Schwarz-Weiß-Malerei?“, frag ich mich da. Scheiß System! Es lebe die Revolution!
Dann hebe ich langsam das Schwert, hole aus und werfe es mit aller Kraft gegen die Bläue des Himmels. Die wirbelnde Klinge zerschneidet ihn wie eine Leinwand. Was ist das? Dort ist ein Riss entstanden, aus dem es merkwürdig grünlich schimmert. Ich trete langsam näher und blicke hindurch.
Verwundert gaffe ich in eine riesige Halle mit Marmorsäulen. Die Decke glitzert und funkelt wie Weihnachtskram. Hunderte graue Anzugfuzzies eilen zu mir. Sie unterscheiden sich nur in den Hautfarben. Von grün, blau über orange ist alles vertreten. Einer fängt an zu klatschen und immer mehr stimmen ein. Bis auf den einen auf dem Boden. Er hat mein Schwert gefangen. Anscheinend war das mit dem Schwertwurf, mal abgesehen von dem Fänger, gar nicht so unrichtig.
Ich schlupfe durch den Spalt in der Realität. Ein Fuzzi mit einem Monokel tritt mit ausgetreckter Hand auf mich zu. Er sieht aus wie das Monopolymännchen.
„Ich beglückwünsche Sie, Herr Milchmann, ehrenwerter Retter des Gesamtreiches intergalaktischer Planeten und dritter Anwärterwelten …“
„Ach, sagen Sie einfach Milchmann zu mir …, Kadelen!“
Ich sehe, wie sie sich mit einem hellgrünen Festtagstrainingsanzug durch die Menge drückt. Bei mir angekommen fällt sie mir um den Hals. Wow, jetzt knutscht sie mich!
„Du hast es geschafft. Jetzt wird alles gut, Torben.“
Geschafft? Wieder einmal versteh ich nur Bahnhof. Wieder einmal ist‘ s mir wurscht.
Mhm, sie schmeckt nach Pfirsichen.
„Weißt du Kadelen, ohne dich würd ich immer noch in der Wüste stehen. Was hat es mit dem Schwert auf sich gehabt, dass du mir geschickt hast?“
„Welches Schwert?“, frägt sie. „Ich war das gar nicht … es war eventuell … genau, es wurde von den Tiefen deines Unterbewusstseins ausgelöst, aus der Wunschzwirbeldrüse. Der einzige Ausweg aus der Schicksalsschleife war, sie zu unterbrechen. Und das funktioniert hat nur, wenn du gegen die selbst aufgestellten Regeln deiner Wahrnehmung rebellierst.“
„Ja, ich das hab ich schon immer … Break on through to the other side, he-he. Übrigens, kann ich jetzt nie wieder Rockmusik hören?”
“Doch, aber du solltest vorsichtig sein, besonders in der U-Bahn. Torben …“ Ihre Stimme hört sich auf einmal traurig an.
„Ja, Kadlenchen?“
„Wir müssen uns verabschieden.“
„Wie? Jetzt gerade, wo es am schönsten ist?“
„Du kannst nicht hier bleiben.“
Das war ja wieder klar. Einmal der große Held sein, ne passable Freundin an der Seite und dann…
„Du weißt doch, dass du aus einer anderen Dimension stammst. Wenn du hier bleiben würdest, gäb es Turbulenzen in der Raum-Zeit, was zu irreparablen Schäden in beiden Welten führen könnte. Das gilt auch für mich.“
Sie senkt ihren Kopf. Der Pferdeschwanz schwingt traurig hin und her.
„Aber du kommst mich doch mal besuchen?“, murmle ich.
Jetzt schaut sie mir mit ihren Mandelaugen tief in die Seele und ich merke, dass wohl noch mehr gegangen wär.
„Wir können Ihnen nicht genug danken!“, meldet sich Monopolymann zu Wort. „Es kommt nicht das erste Mal vor, dass solch weitreichende Entscheidungen und verantwortungsvolle Aufgaben eines, nun ja, spezielleren Helden überlassen werden.“ Er kichert.
„Ähm, ich sag mal gern geschehen.“, erwidere ich. „Aber wenn ich mich so umschaue, läuft hier wohl genauso viel schief wie in meiner Welt.“ Er kichert wieder, aber diesmal aufgesetzt.
„Gut, Captain Kadelen, es wird Zeit!“, sagt er schnell.
Sie holt ein Kästchen aus ihrem kleinen Rucksack hervor. Es ist mit lila-schimmernden Holzrauten verziert.
„Dies ist das Portal, das dich in die Normalzeit zurückteleportieren wird“, sagt sie und zieht die Nase hoch. „Du musst nur deine Hand …“
„ … ich weiß, Kadlenchen.“ Ich nehm sie noch mal in den Arm und drück sie an mich. Dann hält sie mir das Kästchen mit geöffneten Deckel entgegen.
„Auf Wiedersehen, Milchmann“, sagt sie leise.
Ich lächle und sage: „Es war mir eine Ehre!“ Ohne zu zögern stecke ich meine Hand hinein. Ich bemerke, wie sich die Größenverhältnisse ändern. Das Kästchen wächst zur Truhe, die Umgebung schrumpft und schwindet. Alles scheint wie von einem Strudel dort ins Schwarze der riesigen Truhe eingesogen zu werden. Mein Arm wird länger und länger, schon kann ich meine Hand nicht mehr sehen. Alles schwindet und mit langgezogenem „Jippeyyyyyyy!!!“ stürz ich mich hinein.

Ein neuer Morgen bricht an

Es gibt Tage, die beginnen mit einem beherzten „Fuck!“.
Und leider kann ich mich auch am heutigen nicht dieses Kraftausdruckes verwehren. Was ein abgefahrener, höchst verwirrender Traum das war! Ich fühl mich dermaßen scheiße, dass mich jetzt nur eines retten kann: Der Gedanke an ein reichhaltiges Frühstück mit einem Glas frisch gepressten Orangensaft. Hä?
Ich hüpfe mit einem Satz aus dem Bett und befinde mich in Kampfstellung. Misstrauisch blicke ich umher. Irgendwas stimmt hier nicht. Keine Kleider auf dem Boden, gebügelte Vorhänge, eine neue Wandfarbe in mokka-pastell ... Ich eile ins Badezimmer und starre in mein neues, altes Selbst.
Wann war ich den beim Frisör? Und was soll dieser gestriegelte Hippsterbart, in dem noch mein Sabber klebt.
„Du siehst so … anders aus!“, sage ich mir, weil mir das gerade bewusst geworden ist. Sollte der Traum etwa doch …?
Ich eile in die Küche und lasse einen Schrei fahren: Dort an der Wand hängt das Samuraischwert, mit dem ich gestern das Universum gerettet hab.
Ich nehme es herunter und fühle wieder diese unerklärliche Kraft in mir aufsteigen. Alles um mich herum scheint zu glitzern.
„Na supi!“, denke ich mir.
Ich hänge es voller Ehrfurcht zurück, presse mir Orangensaft und ziehe mir einen Senseo. Ich lasse mich auf den braunen Stuhl nieder.
„Und was nun?“, frag ich mich. Mein Blick fällt auf die Zeitung von gestern.
Die Außenministerin aus Pandalusien war zu Gast bei der Merkel. Mhm, also irgendwo hab ich diesen Pferdeschwanz doch schon mal gesehen. Ich blicke aus dem Fenster und lächle bei den Gedanken an Kadelen. Was sie jetzt wohl gerade macht, einem anderen Trottel beistehen, der intergalaktische Katastrophen auslöst?
Ich seufze. Dann fällt mein Blick auf den Anzeigen Teil.
Da steht:
DU!

A-ja. Das war doch die seltsame Nachricht von Auge. Hmm, den Rest kann ich gar nicht entziffern, ist irgendwie verschwommen.
„Wer, ich?“
WER SONST?

Ah, ich hab es gestern genauso aktiviert. Eine interaktive Zeitungsbotschaft, sozusagen.
„Was geht, Auge?“, schmunzle ich.

ALLES BESTENS UND NOCH VIELEN DANK!

„Gern geschehen!“ An die Rolle des großen Wohltäters hab ich mich noch nicht gewöhnt.
„Kann ich dir sonst noch irgendwie weiterhelfen?“

TRIFF MICH HINTER DER LITFASSSÄULE UM FÜNF!

Das hätt er wohl gern, ist bestimmt eine Falle. Er möchte mir meinen Titel streitig machen. Aber warum eigentlich nicht? Ich hab ja jetzt Superkräfte. Wer‘ s mit einem Typhon aufnehmen kann, braucht diesen Typen nicht zu fürchten.
Also nicke ich und sag: „Okay, bis dann, Beelzebub.“

WER?

„Na, Teufel, Satan, Verführer, George Bush oder wie du dich gerade nennst.“

MEIN NAME IST JAQUES.

Ich zucke mit den Schultern. „Bis denn, Jaques.“
Wir haben jetzt kurz vor neun. Heute ist Freitag. Mal überlegen. Hab außer dem Fight mit Jaques nichts vor. Da fällt mein Blick auf den gelben Sack. Er steht brav in der Ecke. Mhm, die netten Innenraumdesigner haben ihn wieder hingestellt, er ist ja gestern umgefallen als ich die Zeitung …
Moment, worin lese ich gerade? Das Datum der Ausgabe: Donnerstag, der X. X, XXXX!
Ich runzle die Stirn, wie kann das sein? Haben die den Reset-Button gedrückt und der Tag beginnt von vorn? Ja, das könnte schon sein … aber was zum … dieses Datum auf der Zeitung?
„Ach egal“, murmle ich, zerknülle die Zeitung und probiere mein Glück.
Shit – daneben!

Ein Wiedersehen

Pfeifend laufe ich das Treppenhaus hinab. Mein Katana hab ich lässig auf den Rücken geschnallt Es wurde sogar eine Scheide mitgeliefert, auf der „Milchmann forever“ eingraviert ist.
Bin gespannt was Auge von mir möchte. Ich öffne die Haustür und springe gut gelaunt auf die Straße. Schönes Wetter heute. Obwohl, am gestrigen Heute war‘ s ziemlich bewölkt. Nicht schlecht, das Wetter können die also auch kontrollieren.
Nach ein paar Metern bleib ich stehen. Sogar meine Straße sieht verändert aus! Und was sind das für seltsame Leute, gestriegelt, braungebrannt und mit Tüten? Ich setzte meinen Weg fort. Irgendwas stimmt hier nicht. Keine Autos, Kein Vogelgezwitscher, nur das Trap-Trap der Schuhe und das Klock-Klock der Highheels. Haben die mich Tatsächlich nach Komparsenstadt zurückgeschickt? Naja, zumindest nicken die Leute mir jetzt zu. Sie scheinen mich zu kennen. Mein Blick streift eine riesige Werbefläche. Sie zeigt mein lächelndes Gesicht mit blinkendem Gebiss.
„Milchmann putzt mit dem neuen Blendadent-Hydrooxigen-System“. Tss, ich fahr mir mit der Zunge über die Zähne. Hmm, fühlt sich echt sanft an!
Da vorn geht‘ s runter zur U-Bahn. Am besten fahr ich ein paar Stationen, bis Destiny City. Die Litfasssäule werde ich schon finden, da mach ich mir keine Sorgen.
Unten angekommen, stell ich mich an den Bahnsteig. Noch 2 Minuten. Auf der Gegenseite bin ich wieder abgebildet. Ich stehe nur mit Lendenschurz bekleidet, mein Schwert schwingend in der Steppe. A-ha, Unterhosenwerbung.
Der Zug rollt an, ich steige mit ein paar Komparsen ein und lasse mich auf einem freien Platz nieder. Den MP3-Player hab ich erst gar nicht mitgenommen, vorsichtshalber. Komisch, dass ich die U-Bahn nehme. Ich müsste doch dank der Werbeeinnahmen steinreich sein, da könnt ich mir ein fettes SUV-Flakschiff leisten. Automatisch greife ich in die Hosentasche zum Geldbeutel. Ganz schön fett fühlt sich er sich an. „What da fish!“, schreie ich, dass ein paar Komparsen zusammenzucken. Ein Bündel grüner Scheine lacht mir entgegen. Es scheint der Milchmann hat deftig Asche in der Tasche! Da wird er wohl heut noch ordentlich shoppen gehen. Auf der Anzeigetafel sind es noch drei Stationen bis Destiny City. Sollte ich Jaques versetzten und lieber gleich die Kohle auf den Kopf hauen? „Nee, als Milchmann hat man doch Verpflichtungen“, sage ich mir selbstgerecht.
Aus den Lautsprechern rieselt ein Song. Den kenn ich doch? Ist das nicht, o Mann, es ist der Rocksong von gestern. Ich sitze also wieder in der U-Bahn, höre diese Musik und starre auf den Pferdeschwanz von … „Kadelen!“
Sie ist es tatsächlich, sitzt mir gegenüber und guckt verblüfft. „Ähm, ja?“, sagt sie unsicher.
Erfreut setz ich mir zu ihr rüber. „Was machst du denn hier?“
Sie tut immer noch ganz erschrocken. „Woher kennst du meinen Namen?“
„Na, hallo? War das nicht was? Tag Iks, Universum retten uns so?“
„Ja aber, aber … “, stottert sie, „… um Gotteswillen!“
„Was ist denn“, frag ich gekränkt, keine Spur Wiedersehensfreude von ihr. Von wegen Frau für‘ s Leben.
„Da ist etwas ganz schief gelaufen“, sagt sie düster. „Die Schicksalsschleife …“
Plötzlich und zeitgleich erheben sich die anderen von ihren Plätzen und fangen an zu singen, wieder ist es eine Art Jingle.
„Was bist du – was bist du – was bist du …“
„Ich bin Torben Milchmann, Retter der Milchstraße!“, schrei ich genervt.
Aber es zeigt keine Wirkung. Im Gegenteil: Mein Geschrei hat es noch verstärkt, jetzt ziehen sie mit dem Tempo an.
„Hört doch auf ihr Idioten!“, rufe ich fassungslos. Dann greif ich Kadelens Hand und zieh sie hinter mir her, zwischen den singenden und tanzenden Zombies hindurch, bis ins nächste Zugsabteil.
 

Aligator

Mitglied
Der Tag Iks

„Jetzt steck schon deine Hand rein“, sagt sie.
Ich starre auf das Kästchen, dann in ihr Gesicht, mit den Händen demonstrativ in den Hosentaschen. Mein Puls beschleunigt und ich beiße mir auf die Unterlippe.
„Und du bist dir sicher, dass da nicht irgend ein Scheiß drin ist?“, presse ich hervor.
Sie grinst dämonisch und ihre dunklen Augen funkeln.
„Tu – es!“
Ich blicke mich um, keiner da, der mir weiterhelfen könnte. Ich ziehe Luft durch die Nase und versuche runterzukommen. „Also gut.“
„Bitteschön!“, sagt sie und hält mir das Kästchen entgegen.
Mit zitternden Fingern bewege ich meine Hand zur Öffnung. Die kleinen, bunten Holzrauten am Kästchen schimmern in lila Farbnuancen. Ich bemerke, wie sich die Größenverhältnisse ändern. Das Kästchen wächst zur Truhe, die Umgebung schrumpft und schwindet. Alles scheint wie von einem Strudel dort ins Schwarze der riesigen Truhe eingesogen zu werden. Mein Arm wird länger und länger, schon kann ich meine Hand nicht mehr sehen. Ich versuche aufzublicken, aber alles besteht nur noch aus bunten Fäden. Etwas in mir sträubt sich noch, doch es hat keinen Sinn, ich lasse los und stürze mich hinein.

Am Morgen

Es gibt Tage, da wache ich ausgeschlafen und gutgelaunt auf.
Heute nicht. Der Wecker reißt mich aus meinen durchgeknallten Traum und ich erwache, als würde die Seele noch nicht am rechten Platz sitzen. Der Schädel drückt und mein Kreuz schmerzt. Solche Tage starten mit einem beherzten: „Fuck!“
Ich liege zerknüllt auf der Matratze und starre zur Decke. Jetzt kann mich nur noch eins retten: ein duftende, heißer, mit drei Löffeln Zucker verfeinerter Bohnenkaffee. Wie in Trance überwinde ich sämtliche Schmerzsignalisierungen meines Körpers und stapfe ins Bad. Ein Schwall kaltes Wasser ins Gesicht. Heute ist Donnerstag. Der unscheinbarste Tag der Woche. Keine Ahnung, warum' s ausgerechnet da donnern sollte. Ich blicke in die halboffenen Augäpfel mit den erweiterten Äderchen. Die dunkle Schmalzlocke klebt wie gewohnt nach links. Dort schimmert noch der Sabber im Bart.
„Du siehst so scheiße aus“, sage ich, als wäre ich mir soeben dieser Tatsache bewusst geworden und spucke ins Waschbecken.
Meine Küche, schon fünf Tage überfällig, verströmt einen faden Mief. Die Sonne tut ihr bestes, sich durch die milchige Fensterscheibe zu kämpfen. Ich kippe das Fenster und ziehe mit geschlossenen Augen die Kühle des Morgens ein. Wie ich das liebe! Die Vögel zwitschern, die Baustellen lärmen und durch die Häuserschluchten dringt das Tosen des Berufsverkehrs. Ich ziehe mir einen Senseo, mache ihm Platz auf dem Küchentisch und lasse mich stöhnend auf dem braunen Stuhl nieder.
Mein Blick wandert über das Chaos: Ungeöffnete Briefe, leere Dosen und ganz unten drunter die Zeitung von gestern. Ungeachtet der herunterfallenden Sachen ziehe ich sie hervor und erblicke eine unscheinbare, winzige Anzeige. Dort steht:

DU!

Ich runzle die Stirn, nehme einen Schluck und sage aus einer Laune heraus: „Wer, ich?“

WER SONST? steht da.

Also, was sich diese Fuzzies alles einfallen lassen, denk ich mir und schüttle den Kopf.

TREFFE MICH HINTER DER LITFASSSÄULE UM FÜNF!

„Warum sollte ich?“ Rippen die da Leute ab, einsame, einfältige Bürger, die sich dort eine schnelle Nummer versprechen? Ja, das ergibt Sinn!

ICH ERWATRTE DICH!

„Na dann, viel Spaß dabei!“
Aus purem Zeitvertreib lese ich mir manchmal solche Anzeigen durch. Es gibt schon kranke Gesellen, aber irgendwie amüsiert‘ s mich. Ich überfliege noch einige weniger originelle Texte, zerknülle schließlich die Zeitung zu einem Basketball und versuche mein Glück. Bumm! Voll ins Gelbe! Heute ist mein Glückstag, der Sack ist sogar umgefallen.
„Moment, steht heut nicht was an?“ Arbeitsamt um elf.
Da merke ich, dass ich noch achteinhalb Minuten habe, bis die U-Bahn fährt.

Im Tunnel

Wackelnde Leute sitzen mir gegenüber. Omas mit Taschen auf den Schößen und Schulkids, die wie blöd ihre Smartphones betatschen. Die sind mir für gewöhnlich wurscht, aber ich schaffe es nicht, diese kaugummikauende Schwarzhaarige gegenüber zu ignorieren. Immer wieder streift mein Blick ihren Pferdeschwanz. Er pendelt im Rhythmus zu meiner Musik, die aus den Kopfhörern strömt. Irgendein Progressiv-Rock aus den Siebzigern. Eine sphärische Klangschönheit umspult mich. Es ist einer dieser Momente, in dem sich das Universum zu verdichten scheint. Oh shit, sie guckt her!
Ich schaue schnell auf meinen Schoß, als hätt ich etwas Verbotenes getan. Dazu dieses abgefahrene Gitarrensolo. Ich schäme mich, aber warum eigentlich? Jetzt erst recht!
Vorsichtig hebe ich den Kopf. Oh, Mann, sie schaut immer noch zu mir herüber, mit so einem verschmitzten Lächeln. Irgendwo hab ich die doch schon mal gesehen …Was für einen merkwürdigen, silbrig glitzernden Trainingsanzug die anhat. Der Gitarrenguru hebt gleich ab, er ist schon am 18. Bund. Da sagt sie etwas, ganz langsam.
Ich versteh‘ s nicht. Und Lippenlesen zählt auch nicht zu meinen Stärken. Oder doch? Hat sie nicht „I love you“ gesagt?
Ich setze den Köpfhörer ab.
„Hä?“
„Was-willst-du?“, kommt von ihr.
„Nichts.“ Wie schlagfertig! Mich treffen die Schakalblicke der anderen Fahrgäste. Der ganze Zauber ist aus.
Mein Gesicht verkrampft sich kurz zu einem schiefen Grinsen, dann setzte ich mir den Kopfhörer auf und ziehe die Kapuze meines Pullis über den Kopf.
Da kommt jetzt der noch viel krassere Song. Ob ich das überlebe? Ich drehe voll auf und schließe die Augen.
Komisch, der hört sich heute anders an. Da ist die Orgel, da die Flöte, da der Bass, aber da ist noch etwas im Hintergrund, ganz leise. Hm, es ist so eine Art Jingle. Es hat einen Text, der sich ständig wiederholt. Die haben doch damals immer so Botschaften untergemischt, wie „Kauf die Platte“ und so. Jetzt verstehe ich' s:
„Was willst du – was willst du ...“. Immer wieder. Komisch, wieso singen die deutsch? Verträumt öffne ich die Augen und …
Ach du Scheiße! Die ganzen Leute um mich herum singen das ja! Die Omas und die Schulkids!
Sie sind alle aufgestanden und tanzen - so gut das in einer fahrenden U-Bahn halt geht - im Rhythmus wie auf Viva, singen immer lauter und zeigen bei dem „du“ mit den Zeigefingern auf mich.
„Was-willst-du!“
Noch dazu kommen sie immer näher. Ich springe auf die Bank und – aua! - haue mir ordentlich den Schädel am Gepäckfach an.
„Was-willst-du!“
„Ich will, dass das aufhört, ihr Idioten!“, schreie ich, aber ohne Wirkung. Im Gegenteil: Mein Geschrei hat es noch verstärkt, jetzt ziehen sie mit dem Tempo an.
„Torben!“, hör ich da jemanden.
„Ja, so heiß ich!“, rufe ich zurück.
„Hier rüber, Torben!“ Da merke ich, dass der schwarze Pferdeschwanz an der Tür zum nächsten Wagen herwinkt.
„Ich komme!“ Die durchgeknallten Tanzzombies lassen mich ungehindert rüber rennen und ich spring aus der Tür, in der auch Sekunden zuvor meine Retterin verschwunden ist.

Das Mädchen schließt die Tür hinter mir und es wird still. Nur mein Keuchen ist zu hören, ich hab ja ungelogen noch niemals so einen Schiss verspürt wie gerade eben. Ich stütze mich auf den Knien ab und atme. Allmählich stimmt die Sättigung in meinem Hirn. Mein Blick streift das Fenster. Was ist das? Wir fahren nicht mehr durch das Dunkel der U-Bahnschächte, sondern durch eine helle Sommerlandschaft. Kornfelder ziehen wie ein Meer an uns vorüber.
„W-was war das gerade?“, stottere ich noch immer am ganzen Leib zitternd.
„Du bist in eine Entscheidungssubraumtangente geraten“, antwortet Pferdeschwanz kühl.
Ich nicke mit dem Kopf. Nach einer Weile frage ich verdattert: „Was?“
„Dein Bewusstsein hat in Verbindung mit der Geschwindigkeit der U-Bahn und den Schwingungen der Musik einen neuronalen, hypertransorbitalen Cluster ausgelöst ...“
Sie ist so wunderschön … und klug!
„ … und dadurch konnte ein Riss im Zeit-Raum-Kontinuum entstehen, der wiederum ...“
Ich glaub ich hab mich verknallt. Ausgerechnet jetzt!
„ … deinen Kortex mit fluxkompensatorischer, temporärer Masse überflutet hat. Du wirst dich nun wahrscheinlich etwas verwirrt fühlen, aber das sollte sich bis in zehn Minuten wieder legen. Dann hat sich dein Gehirn an die veränderte Raum-Zeit eingepasst. Auch dein Parasympathikus, übrigens!“ Sie deutet auf die Ausbeulung meiner Hose.
Ich setze mich auf die Bank, schlage die Beine übereinander und frage:
„Wer bist du eigentlich? Und warum redest du so neunmalklug?“
Sie zieht ihren Pferdeschwanz fester, setzt sich mir gegenüber und lächelt.
„Ach, ich bin die Kadelen und ich lese halt gern.“
Mein Mund steht offen. Ein Speichelfädchen seilt sich ab. Ich merke wie mir alles zu viel wird und ich wie ein angepiekstes Sufflé zusammensacke.
„Bitte …“, stammle ich mit letzter Kraft, „ ... lass mich jetzt nicht allein!“ Dann wird alles schwarz.

„Torben!“, höre ich den Singsang aus der Ferne
„M-hm?“
„Wach auf, Torben!“
„Mussnonet…“
„TORBEN!“ Diesmal geschrien.
Ich reiße die Augen auf, drehe mich um und sehe Kadelen vor mir stehen, die Hände auf die Hüften gestützt. Sie sagt: „Komm jetzt zu dir, wir müssen los!“
Ich setzte mich wie nach einer durchzechten Nacht auf. Wir sind immer noch allein in dem Wagen, allerdings fährt er wieder im Dunklen.
„Ähm, danke nochmal, dass du mir vorhin geholfen hast.“ Ich schaue auf meine Uhr. Sie muss stehen geblieben sein, denn sie zeigt fünf vor vier an. „Ich muss dann nächste Haltestelle raus.“
„Ja und du wirst dich entscheiden müssen, welches Raum-Zeit-Portal du durchschreiten möchtest, ...“
Langsam aber sicher geht sie mir auf die Nerven mit ihrem Startrek-Gelabere.
„ … und pass auf, dass du dich nicht in einer Schicksalsschleife verhedderst. Dann würde ein und derselbe Tag immer wiederkehren und ...“
„Stopp!“ Ich kann' s nicht mehr hören!
In diesem Moment bremst der Zug ab. Gut so, besser ich gehe und lasse das Mädchen aus einer anderen Welt zurück.
Wir halten an und die Türen öffnen sich. Wie jetzt, auf der linken und rechten Seite? Ich gehe langsam zu der einen. Doch da ist keine Haltestelle. Auf einer Anzeige steht: „Destiny City“. Nie gehört. Draußen sehe ich eine Fußgängerzone! Lauter Leute mit Tüten. Ich drehe mich um und blicke aus der anderen. Oh Mann, es sieht so aus, als befindet sich eine Wüste da draußen. Dünen über Dünen. Heißer, staubiger Wind weht mir ins Gesicht. Etwas ratlos wandert mein Blick wieder zu Kadelen. Die steht da, grinst und meint: „Ich sagte dir ja, du musst dich entscheiden!“
Nach ein paar Sekunden zucke ich mit den Schultern, sage „tschüss“ und verlasse diesen merkwürdigen Zug, natürlich zur Stadt hinaus. Keine Ahnung, welche special effects die hier aufgefahren haben. Dieser Tag ist mir zu verwirrend, als dass ich mir jetzt darüber Gedanken machen kann. Ich sollte lieber mal Sendepause halten.

Der Retter naht

Verdammt, wo bin ich hier? Ich kenne keine Straße, kein Geschäft und überhaupt, irgendwas stimmt schon wieder nicht. Seit fünf Minuten gehe ich einfach geradeaus. Aus unbeirrbarem Glauben an mich selbst habe ich noch niemanden nach dem Weg gefragt. Ich kenne mich in dieser Drecksstadt doch aus. Zwangsläufig, denn ich habe es selten aus ihr heraus geschafft. Aber hier, wo bin ich gelandet? Destiny City. Oder was? Diese Menschen, sie lächeln alle aufgesetzt und keiner sagt was. Man hört nur das Trap-Trap der Schuhe und das Klock-Klock der Highheels. Sie sehen ja ganz gut aus, wie Schauspieler oder Statisten. Da pass' ich gar nicht rein, mit meiner Halbmasthose und den zerfetzten Chucks. Hoffentlich merken die das nicht. Egal, ich frag den da jetzt:
„Tschuldigung, können Sie mir vielleicht sagen, wo' s hier zu den Portalen geht?“
Der Typ im Anzug und der schmierigen Frisur schaut mich an, grinst mir sein blinkendes Pferdegebiss entgegen und denkt nicht daran, stehen zu bleiben.
„Vielen Dank auch, du Lackaffe!“, denk ich mir. Aber ich sage es lieber nicht laut. Langsam steigt die Angst empor. Was, wenn das hier wirklich eine andere Realität ist? Oder bin ich auf irgendwas hängengeblieben?
„Hi, Torben!“
Scheiße, bin ich erschrocken! Ich dreh mich um, weil mir jemand auf die Schulter geklopft hat und wer steht da? Kadelen, natürlich.
„Ach du bist' s!“, freue ich mich fast.
„So wird das aber nichts, mein Freund“, sagt sie.
Wow, sie hat 'Freund' gesagt. So hat mich nie ein Mädchen genannt. Nur die wenig charmante Verniedlichkeitsform davon. Vielleicht können wir ja doch heiraten und Kinder bekommen.
„Du musst schon irgendwie interagieren, wenn sich weitere Portale öffnen sollen.“
Geht das Generve wieder los!
„Nö“, antworte ich so zickig ich nur kann, „hab aber keine Lust zu interagieren!“
Sie senkt den Kopf. Dann sagt sie traurig:
„Das ist aber schade, denn es steht immerhin das Universum auf dem Spiel.“
„Ach!“ Mit schiefen Kopf und süffisantem Lächeln lass ich Hohn auf sie hageln.
„Ich habe dir doch von den transorbitalen Cluster, denn du ausgelöst hast, erzählt. Er wird in kurzer zu einem schwarzen Megaloch implodieren, das alles verschlingen wird.“
Also gut, Mädchen.
„Wie soll ich diesen scheiß Cluster denn ausgelöst haben, hä? Mit Rockmusik aus den siebzigern?“
Kadelen schaut mich irritiert an und sagt:
„Haben dich deine Eltern etwa nie vor Rockmusik gewarnt?“
„Willst du mich verarschen“, jetzt schreie ich, „ich hab die Mukke doch von meinem Alten!“
„Aber die Auswirkungen werden verheerend sein!“
„Na Prima, kann mir doch nur recht sein, wenn der Laden den Bach runter geht! … Entschuldigung.“ Bei 'Bach' hab ich gespuckt.
Sie wischt sich über die Stirn. „Und alle Menschen, deine Familie und deine Freunde, sind sie dir alle egal?“
Ich schlucke. Jetzt hat sie mich. Sicher könnt ich jetzt „ja“ sagen. Habe mit meinen Eltern seit drei Jahren nicht mehr gesprochen. Und Freunde? Da fällt mir nur Pflaume ein, die alte Flipsbirne, der ist meistens so drauf, dass er sich bereits in einer anderen Realität befindet. Und Detlef mein Sandkastenkumpel ist nach Schweden gezogen, der Verräter. Mir könnten die echt alle egal sein, aber wer ist schon gern alleine auf diesem Planeten? Wer kann schon von sich behaupten, er brauche niemand?
„Was ist denn los?“, fragt Kadelen und berührt zärtlich meine Schulter. Wow, die riecht nach Pfirsichen. Und da wird es mir schlagartig klar: ich muss es tun! Ich muss es für sie tun! Scheißegal was, aber ich werde mir selbst in den Arsch treten und es tun! Und wie ich es tun werde!
„Ich will' s mit dir tun!“, sage ich mit entschlossener Haltung.
Kadelen zieht die Hand zurück.
„Ich will das Universum retten!“
Da fängt sie an zu strahlen und sagt: „Na prima!“
„Aber“, lege ich mit erhobenen Zeigefinger fest, „dazu muss ich dich erst mal besser kennenlernen!“
„Torben, die Zeit drängt!“
„Bis du von hier?“
Sie seufzt und wir setzen uns auf ihren Wink hin auf eine Bank. Dann schließt sie kurz die Augen und fängt an: „Nein, ich bin nicht von hier, nicht mal aus dieser Dimension. Ich komme von einer Welt, die du dir nicht mal im Entferntesten vorstellen kannst. Der intergalaktische Rat hat mich auserwählt, dir auf deiner Mission beizustehen.“
„Aber Moment mal, du warst doch schon vorher in der U-Bahn gesessen, noch bevor die Sache mit den Omas und Schulkids passiert ist.“
„Ich wusste, dass es passiert. Es war dir schon immer bestimmt, den Iks auszulösen.“
Verstehe nicht.
„Heute ist er, der Tag Iks. Der Tag der Intergalaktischen Katastrophen Sekunde. Wir haben sogar unsren Kalender danach berechnet.“
Das stimmt mich nachdenklich. „Und ich hab ihn ausgelöst?“
Schade, dass Pflaume jetzt nicht da ist, der glaubt mir das niemals.
Kadelen schaut mich ernst an und fährt fort:
„Vergiss nicht, es kann nur ein gutes Ende nehmen, wenn du dich für die richtigen Portale entscheidest.“
Ausgerechnet ich, der sich vor allen Entscheidungen drückt.
„Woher soll ich wissen?“
„Das ist die eine Schwierigkeit, die andere ist, dass du die Portale erst aufspüren musst.“
„Mhm, und dieses Destiny City ...“
„Die Realität in der wir uns jetzt befinden, ergibt sich aus der Raum-Zeit-Abnormalität und deinem eigen, erweiterten Unterbewusstsein. Aus irgendeinem Grund beschäftigt dich anscheinend das Konsumverhalten deiner Artgenossen.“
„Soll das heißen wir befinden uns in so ner Art Gedankenwelt … in meinem Hirn?“, schließe ich.
„Sozusagen.“
„Oh-mein-Gott!“

Verabredung mit dem Beelzebub

Wir gehen jetzt schon eine halbe Stunde. Ich trotte voraus, Kadelen wachsam hinterher. Diese Zone muss hunderte Kilometer lang sein. Ich blicke mich immer wieder um, aber sie zuckt nur mit den Schultern.
Die Statisten ziehen grinsend vorüber. Alle mittleren Alters. Alle gestriegelt und braungebrannt. Meine Armbanduhr zeigt fünf vor fünf an. A-ja, wegen der veränderten Raum-Zeit! Mir sticht da eine Litfaßsäule ins Auge. Da war doch was … Ich gehe mal zu ihr hin. A-ha, Zigarettenwerbung.
„Nicht da lang!“, bricht Kadelen das Schweigen.
„Wieso?“
„Ich empfange negativ geladene Masseteilchen.“ Sie fuchtelt mit so einer Art Tricorder umher.
Ich schnuppere angestrengt. „Also ich empfange nichts.“ Da hinten blinkt doch was!
„Torben“, befiehlt sie, „bleib stehen!“
Fortgeschrittene Technik und weibliche Intuition trifft meinen Dickschädel.
„Wer ist denn hier der Retter des Universums, hä?“, rufe ich.
Es blinkt in der Gasse, ganz hinten, in der Dunkelheit. Da muss es sein!
„Torben, ich kann dir nicht dahin folgen, bitte komm zurück!“, fleht sie. Das gefällt mir natürlich.
„Komme gleich wieder, hab keine Angst!“
Ich frage mich, warum ich selbst keine verspüre. Muss Neugierde sein.
Mit jedem Schritt wird es dunkler. Es ist, als ob das Licht von dort hinten eingesogen werden würde.
„Da bist du ja endlich!“ Eine versoffene, männliche Stimme dringt an mein Ohr.
„Hallo?“ Ich kneife die Augen zusammen, kann aber nichts erkennen. Schließlich nehme ich die Umrisse einer Gestalt war, die sich zu mir bewegt. Ich glaube, sie schwebt sogar. Er hat mich mit einer Taschenlampe hergelockt, der Halunke!
„Gut, dass du meiner Einladung gefolgt bist!“, sagt er.
Einladung? Meint er etwa die abgefahrene Zeitungsannounce von heute früh?
„Wie konntest du mich durch die Zeitung kontaktieren?“, frage ich schließlich, „und warum eigentlich?
Die Stimme grollt: „Bist du nicht der große Retter, der Milchmann?“
„Milchmann?“ Ausgerechnet ich mit meiner Laktoseintoleranz.
„Ja, der Retter der Milchstraße!“
„Hm, … kannst du mich nicht einfach Retter des Universums nennen?“
„Viel zu lang und so steht es nun mal in den Prophezeiungen!“
So schlecht hört sich' s auch wieder nicht an.
„Okay, nenn mich wie du willst. Sag mal, du bist nicht zufällig an so Portalen vorbei gekommen? Jetzt komm doch mal ins Licht, ich seh dich ja gar nicht!“
„Mag sein, großer Milchmann!“
„So sag er mir: wo jetzt?“
Die Gestalt nähert sich. Er ist in einen schwarzen Umhang gehüllt. Von seinem Gesicht kann man nur die rotglühenden Augen sehen. Auf dem Kopf trägt er einen Zylinder. Verdammt, hätte ich Schiss, wenn ich nicht der Milchmann wäre!
„Hier!“ Er streckt mir zwei Spielkarten entgegen: ein Pik-Ass und eine Kreuz-Sieben. „Wähle, denn du bist der Entscheidende!“
Das sollen Portale sein, will der mich verarschen? Da pass ich doch gar nicht durch.
„Hast du nicht was Größeres für mich?“
„Also wenn sie dir nicht gut genug sind“, sagt Auge beleidigt, „dann wünsch ich noch viel Erfolg bei deiner Suche!“
„Moment, Moment, Moment!“ Ich kratzte mich am Hinterkopf. Besser ich nehm jetzt eine, anstatt noch Stunden in Komparsenstadt zu verbringen. „Kreuz sieben!“
Der Typ lacht wie ein Lungenkranker. Ein Schauer jagt mir über den Rücken.
„Oder doch vielleicht die andere?“, sage ich schnell.
Das Lachen verstummt. „Was jetzt?“, fragt er.
„Kann ich eigentlich auch beide haben?“
„Nein, entscheide dich für eine! Das kann doch nicht so schwer sein!“
„Okay, dann, dann … nehm ich die Pick-Sieben.“
...
„Ich hab aber keine Pick-Sieben!“
„Hast du gar kein Herz?“
„Aaaaach!“ Auge ist ganz schön genervt. Ist aber auch nicht leicht. Es geht schließlich um' s Universum.
„In Ordnung, dann nehm ich halt die erste.“
„Eine weise Wahl, Milchmann!“
Er schnippt sie mir rüber und sie landet direkt auf meiner Hand.
„Hey! Das war ganz schön cool, Alter!“, bemerke ich anerkennend. „Kannst du dass auch ein zweites Mal?“
„Sicher kann ich das“, behauptet Auge.
„Niemals!“, sage ich.
„Sieh und staune, Milchmann!“
Als die zweite Karte landet, gebe ich Gas. Ich renne um mein Leben und werfe Mülleimer dabei um. Auge ist gar nicht amüsiert und kommt hinterher geflitzt.
„Kadelen!“, rufe ich, „welche ist die Richtige?“
Sie steht immer noch an der Litvassäule. „Sind das die Portale?“
„Gleich hab ich dich, du Würstchen!“, höre ich den Teufel immer näher kommen.
„Ist wohl nichts mehr mit großer Milchmann, oder was?“
„Wähle eines aus!“, schreit Kadelen.
„Ja, aber…“
Ich spüre eine eisige, knochige Hand an meinem Nacken. „Nimm deine Wichsgriffel von mir!“, schreie ich.
„Wähle endlich!“, ruft Kadelen.
„Ich wähle Tor Kreuz-Sieben!“, brülle ich in den Himmel.
Plötzlich wächst die Karte zur Größe einer Plakatwand. Ich verliere den Boden unter den Füßen und stürze in einen Strudel aus Raum und Zeit und … Lakritze.

Im Albtraumland

Tante Renate – Stoff für reichlich Kindheitstraumata. Gut an ihr war, dass sie im Norden lebte. Weit weg von unschuldigen Kindern. Aber nicht weit weg genug, um mir das alljährliche Geburtstagsdrama zu ersparen. Sie steht also vor mir, ihre kalten, feuchten, pink schimmernden, mit Stoppeln gekrönten Lippen spitzen sich, ich erleide Schauer um Schauer, und dann … Ich erspare mir den restlichen Teil der Rückblende. Auf jeden Fall kannte ich den Grund für ihre Verkommenheit: Ihre unstillbare Leidenschaft für Bärendreck, diese eklige, schwarze Süßspeise, würg!
Ich stehe auf einem Hügel Lakritze, betrachte das Lakritzgebirge mit dem angrenzenden Süßholzwald und denke mir:
„Ja, das ist wirklich der Leibhaftige gewesen. Welch perverser Geist sonst könnte ausgerechnet mich ins Lakritzeland verbannen?“
Stunden später trotte ich noch immer den schwarz gepflasterten Weg entlang, keine Spur von Kadelen, meine Hoffnung schwindet und die des Universums mit ihr. Die Beine werden schwerer und schwerer. Doch es hilft nichts, ich muss weiter.
Wieder Später wate ich durch den L.-Sumpf. Ich will und kann dieses Wort nicht mehr vollständig denken. Meine geliebten und einzigen Schuhe bleiben in L. stecken. Selbst mein Pulli und meine Jeans wurden mir entrissen, doch es gelingt mir mit letzter Kraft, es heraus zu schaffen.
Irgendwann liege ich nackt und mit L. beschmiert auf der unendlichen Weite der L.-Steppe. Ich möcht nicht mehr. Die schwarze Sonne brennt. Ich starre in die L.-Wolken und denke mir: „So das war' s, der Milchmann gibt auf. Was ein beschissener Abgang!“
Wieder Stunden später. Meine rechte Gesichtshälfte klebt auf dem Boden. Die Hitze lässt die Luft über der schwarzen Ebene flimmern. Eine salzige Träne rinnt herab, tränkt die herbsüße Steppe wie ein leiser, letzter Protest. Ich schließe die Augen …
… und öffne sie noch ein letztes Mal. Da, eine Fata Morgana am Horizont. Ein Motorrad wirbelt Staub auf. Ich höre das Bollern des V2, spüre die Vibrationen. Echt geil gemacht, die Hallu. Respekt für meinen kranken Geist! Die Harley kommt näher, wird geparkt, der Fahrer steigt ab beugt sich zu mir herunter und sagt:
„Um Himmels Willen, Torben?“
„Bist du' s, Kadelen?“
Sie nimmt meinen Kopf auf ihren Schoss.
„Bist du aus – Lakritze?“, frage ich.
„Natürlich nicht, aber bei dir wär ich mir nicht so sicher.“

Eine halbe Stunde später bollern wir über den Highway. Die Landschaft hat sich allmählich und zu meiner Beruhigung verändert. Vereinzelnte Kakteen und trockene Sträucher ziehen an uns vorbei. Es sieht hier aus wie im Wilden Westen. Ich sitze hinten auf dem Sozibrötchen und klammere mich an Kadelen. Sie hat mir was zu trinken gegeben, mich notdürftig gesäubert und mir mit einen Lendenschurz ausgeholfen, den sie kurzerhand aus ihrem T-shirt gerissen hat. Der silberne Stoff flattert über meinem nackten Hintern. Aber es ist mir egal, denn hier ist keine Seele weit und breit, die mir was abgucken könnte. Und wenn schon.
„Wo hast du denn das Motorrad her?“, rufe ich ihr ins Ohr.
„Hab' s mir geborgt!“, schreit sie zurück.
„Und von wem?“
„Von Typhon. Na ja, eigentlich hab ich‘ s aus seiner Garage gestohlen. Da standen noch mehr. Er sammelt die anscheinend.“
„Ach so.“ Hauptsache der Tank ist voll. „Und, wo fahren wir jetzt hin?“
„Na, erst mal weg von Typhon, natürlich!“
„Klar!“ Ich blicke vorsichtshalber nach hinten. Nichts zu sehen.
„Ähm, Kadelen?“
„Ja?“
„Wer ist denn dieser Typhon nochmal?“
„Ach nur so ein riesiges Ungeheuer, hab ihn mal auf ner Party kennengelernt. Ist eher so ein Intellektueller, der sich gern reden hört.“
„Also nicht gefährlich oder so?“
„Na ja, er hat 100 Drachenköpfe, man weiß nie so recht, mit welchem man reden soll. Das kann in einer Disskussion schon gefährlich werden.“ Sie lacht, findet das wohl witzig. „Übrigens, er kommt auch in der griechischen Antike vor.“
„Interessant! - Kannst du nicht ein bisschen schneller fahren?“
„Keine Sorge, der holt uns schon nicht ein.“
In diesem Moment macht sich mit lautem Knall eine Fehlzündung bemerkbar. Der V2 stottert. Kein Sprit mehr. Wir rollen noch eine Weile im Leerlauf, dann kommen wir zum Stillstand.
„Ups“, meint Kadelen.
„Und jetzt?“, frag ich.
„Hm, weiß auch nicht so recht …“
Ich blicke mich noch mal um und erkenne eine Staubwolke am Horizont, die sich uns tosend und unaufhaltsam nähert.
„ …vielleicht rennen?“

Ich sitze im Schneidersitz auf dem Highway und warte. Angesichts des sich nähernden Unheils, scheint jede Flucht sinnlos. Die Harley steht ein Stück entfernt. Kadelen schreibt eine SMS mit dem Tricorder. Ihr schwarzer Zopf flattert im Wüstenwind. Sie scheint sich keine großen Sorgen zu machen. Vielleicht kann sie sich aus der Geschichte herausreden. Labern kann sie ja.
Irgendwie haben die vielen bedrohlichen Situationen mich verändert. Es ist nicht so, dass ich keine Angst verspüre, aber ich kann besser mit ihr umgehen. Der Kick bleibt aus. Ich atme ruhig und fokussiere das Riesenungeheuer, wie es rast und tobt und sich auf uns zu bewegt. Immer mehr Details kann ich ausmachen. Es läuft auf den Hinterbeinen. Flügel hat es keine. Dafür hat es wirklich verdammt viele Köpfe. Aber hundert? Niemals, - Halt doch mal ruhig! - das sind höchstens an die dreißig. Dass die Leute immer so übertreiben müssen!
„Also gut“, sagt Kadelen, „ich hab mal alles überschlagen. Wenn man die neuronale Struktur dieser Situation betrachtet, müssten die nächsten Portale im Zusammenhang mit dem Ungeheuer erscheinen. Eine Konfrontation ist sowieso unausweichlich.“
Ach nee!
„Aber das mit der Harley biegst du wieder hin“ fordere ich. „Dafür kann ich ja nichts.“
Kadelen macht ein Gesicht, als hätte sie in eine Zitrone gebissen. „Sorry, aber es wär wohl das Beste, wenn ich jetzt verschwinde.“
„Wie jetzt?“
„Ich werde mich weg teleportieren.“
„Und was ist mit mir?“
„Das ist unmöglich. Du kannst nur durch die Portale verschwinden.“
„Du willst dich also so mirnichtsdirnichts aus dem Staub machen?“
„Versteh mich nicht falsch, es ist kompliziert.“
„Find ich nicht. Ist doch ziemlich klar, alles.“
Sie schaut mich mitleidig an, dann sagt sie:
„Vertrau mir, du wirst es verstehen!“ Und mit einem Lächeln löst sie sich in Luft und Seifenblasen auf.
„Ja, ja, der Milchmann macht das schon.“

Die Konfrontation mit dem Kritiker

Das Ungeheuer ist nun fast da. Es bremst mit einer gewaltigen Staubwolke ab und stampft zur Harley, hebt sie vorsichtig zwischen Daumen und Zeigekralle hoch und einer der Drachenschädel schnuppert daran. Die anderen haben mich längst entdeckt. Einer ruft: „Ey Jungs, guckt mal, der da drüben, den machen wir platt!“ Andere brüllen einfach rum. Unter intellektuell stell ich mir was anderes vor.
Ich stehe auf, räuspere mich und rufe:
„Hallo Herr Typhon, ich hab das Motorrad nicht geklaut, ganz ehrlich!“
Der Titan stampft auf mich zu. Die Erde erzittert unter seiner Last. Ein Koloss von zwanzig Metern Höhe verfinstert die Sonne.
Ein Drachenkopf mit Brille und Ziegenbart, er scheint der Verhandlungsführer zu sein, beugt sich zu mir herunter.
„Winzling“, sagt er majestätisch, „du steckst tief im Schlamassel.“
Immer noch besser als Lakritze. Mal versuchen, ob ich es mit labern hin krieg.
„Ich bin nur zufällig hier vorbei gekommen und hab mir gedacht: 'Dieses herrenlose Motorrad, das da so rumsteht, würde doch ausgezeichnet in die Sammlung des unbezwingbaren Typhon passen'. Welch freudiger Zufall also, dass Sie jetzt persönlich gekommen sind. Dann kann ich ja gehen. Also …“
„Schweig still!“, brüllt der mit der Brille. Er hat Ähnlichkeit mit dem Direktor meiner alten Schule. Oh Mann, jetzt merk ich‘ s: da sitzt ja das ganze Lehrerzimmer auf den Hälsen. Sogar Hansen, der Sportlehrer! Der hat mich noch nie leiden können.
„Lasst uns ihn auffressen, er geht mir jetzt schon auf die Nerven!“, ruft dieser.
„Das kann ich gut nachvollziehen, aber …“, ich füge eine dramatische Pause ein und gehe dabei bedeutungsvoll auf und ab, „ … aber ich gebe Ihnen zuvor noch etwas zu bedenken: Es ist nämlich so, dass sich dort oben in der Atmosphäre ein Cluster gebildet hat, der sich irgendwie in ein schwarzes Loch oder ähnliches verwandeln wird, und das alles und jeden – und somit auch Sie! – verschlingen wird, wenn nicht…“, ich erhebe feierlich Stimme, „ …wenn nicht ich, der intergalaktische Milchmann, durch das richtige Portal schreite und dem Ganzen Einhalt gebiete … noch dazu bleibt übrigens die Zeit nicht hängen!“
Dreißig Augenpaare mustern mich. Dann sagt der Professor – hatte ich den nicht in Deutsch? – mit Würde und Gelehrsamkeit in der Stimme: „Mein Lieber Milchmann, oder wie du dich zu nennen scheinst, das ist nun wahrlich die unglaubwürdigste Geschichte, die mir je zu Ohren gekommen ist. Man könnte meinen, du hättest dir ohne Plan und Richtung etwas zusammengereimt, es mit pseudowissenschaftlichen Begriffen gespickt, um den Ganzen eine Sci-Fi-Note zu geben und würdest dich nun von einem Kapitel ins nächste hangeln, ohne einen Funken Ahnung, wohin das letzten Endes führen soll.“
„Was für Kapitel?“
„Und dann dieser Heldenmythos. Wie oft hat‘ s das schon gegeben? Ist dir da wirklich nichts Besseres eingefallen?“
„Aber es muss doch immer einen Helden geben und … ich bin‘ s doch, der Milchmann“, schmolle ich.
„Das ist ein so erbärmlich schlechter Plot und ich kann mir nicht vorstellen, dass du so jemanden bei der Stange halten kannst. Mich hast du nicht überzeugt!“ Das reicht jetzt aber!
„Ja, Mann, ich hab‘ s kapiert! Und ich möchte nur mal so eben klarstellen, dass Ihr Gelaber weder was ändert noch jemanden nützt!“
„Diese Füllwörter, hör auf, hör bitte auf! Kommt Kollegen, diesem ist nicht weiterzuhelfen. Reine Zeitverschwendung, lasst uns verschwinden.“
Der Gigant erhebt sich und will sich aus dem Staub zu machen. Aber das kann ich jetzt nicht so stehen lassen.
„Hey, ich soll nicht glaubwürdig sein oder was? Scheiße, was bist du dann, mit deinen annähernd dreißig Köpfen und dummen Sprüchen? Eine Nebenrolle, ein aufgepumpter Komplex meines intellektuellen Versagens bist du! Komm schon, fress mich auf, wenn du es schaffst! Aber du kannst mich nicht mal anknabbern!“ Ich merke wie ich aus mich heraus wachse. Man bin ich drauf! Sicher ein Flashback von der Lakritze.
Tatsächlich, er bleibt stehen. Der Professorenschädel dreht sich zu mir um, schüttelt sich und macht nur „Z-z-z, wie erbärmlich!“.
Der nimmt mich nicht ernst! Ich bin doch auch wer! Milchmann oder nicht, jetzt lass ich‘ s krachen.
Da schwebt ein kleines Päckchen am Fallschirm vom Himmel. Ich fange es auf, darin ist ein Griff eingepackt und ein Zettel. Darauf steht: Jetzt bist du soweit! Grüße, Kadelen.
Ich umschließe feierlich den Griff mit beiden Händen. Eine gleißende, metallisch schimmernde Klinge erwächst aus ihm. Geil, ein Samuraischwert aus einer anderen Dimension!
Ohne weitere Anweisung begreife ich, was zu tun ist. Ich renne schreiend auf das Ungetüm zu, hole aus und lasse die Klinge durch die Sehnen seines linken Beins gleiten. Typhon jault. Immer wieder ramme ich das Schwert ins Bein, springe hoch und schaffe es so an Höhe zu gewinnen. Jetzt ist der erste Schädel dran. Zuerst verarbeite ich seine Ohren zu Filet. Violettes Blut schäumt aus den Wunden. Das Monster versucht krampfhaft mich loszuwerden, aber es ist immer ein Hals oder Schädel im Weg. Wie ein Mördermoskito setzte ich ihm zu, hiebe wie von Sinnen in sein Fleisch. Typhon brüllt und rast. Mein Katana pfeift durch die Luft.
Irgendwann lande ich keuchend auf dem Boden. Das Schwert ramme ich daneben. Ich bin mit Typhons violetten Lebenssaft getränkt, unbesiegbar und mit schier endloser Intelligenz beseelt.
Der Titan taumelt, gurgelt Blut, mit den meisten Hälsen unbekopft fällt er rücklings in die staubige Ebene. Ein letztes Mal hebt sich der geschundene Brustkorb und mit einem gestöhntem „Milchmann!“ die Seele zu entlassen. Typhon ist tot.
Was hab ich getan? Wie konnte es nur soweit kommen? Und, wie soll ich ihn jetzt nach den Portalen fragen?
Da höre ich ein leises Stöhnen. Es kommt von hinter dem mächtigen Leib her. Ich ziehe das Schwert wieder aus der Erde, schreite kampfbereit um das Ungetüm herum. Da, etwas entfernt, liegt ein einsamer Kopf. Er scheint noch zu leben.
„Milchmann“, presst er hervor. „Komm zu mir, Milchmann!“
Ich lasse die Waffe sinken und trete näher. Dieser Schädel hat Ähnlichkeit mit meinem Kunstlehrer, Herrn Kalowsky. Die Zunge hängt aus seinem riesigen Maul, doch er scheint zu grinsen.
„Herr Kalowsky, sind Sie es?“, frage ich.
„Du hast mich gerettet.“
„Hab ich das?“
„Ja, du hast mich befreit.“
Ich verstehe nicht. „Aber Sie werden doch sterben.“
„Besser einen Tod mit freiem Geist, als hundert Leben in geistiger Versklavung.“ Er hustet einige Male.
„Aber es wird für Sie enden, Herr Kalowsky! Sie werden zu Grunde gehen!“
„Kennst du nicht den Phönix, wie er sich aus seiner Asche erhebt und in unerreichte Höhen emporsteigt? Du hast mir diese tödliche Wunde zugefügt, doch nicht, um mich von meinem Dasein zu trennen, sondern vielmehr vom unnützen Wissen anderer und derer heuchlerischen Nachahmung. Jetzt koste ich die Süße meiner letzten Stunde mit dem Bewusstsein, dass das kranke System mich nicht bezwingen konnte. Diese Wunde ist die Pforte für meine Neuentwicklung und höhere Daseinsform. Du hast mir die Freiheit geschenkt, Milchmann.“
„Gern geschehen“, sage ich traurig. Ich merke wie alles verschwimmt. Jetzt bloß nicht flennen! „Sagen Sie mir Herr Kalowsky, sie haben doch nun freie Sicht, warum soll ich Portale finden?“
Der Schädel zittert, die dunklen Augen drehen sich nach oben, dass man nur das Weiße sehen kann.
Dann blickt er mich wieder an, auf eine Weise, als könne er tief in mir lesen.
„Sie stehen für deine Entscheidungen. Und es sind immer zwei, weil du ständig zwischen zwei Möglichkeiten wählst.“
„Warum dieses Entscheiden?“
„Damit du dich selbst erkennst.“
„Hmm und wenn ich mich selbst erkannt habe, wird das dann wirklich Auswirkungen auf‘ s gesamte Universum haben?“
Der Schädel verzieht das Maul zu einem Lächeln. Dann spuckt er lila Blut und flüstert mit letzter Kraft:
„Puffz.“
„Was?“
Shit, er ist hinüber.

Abenddämmerung

Und so richtig schlau wurd ich aus der Rede von Herr Kalowsky nicht. Oder, doch? Er hat die Portale als Möglichkeiten bezeichnet. Ich muss also alle Möglichkeiten meiner momentanen Situation abwägen und auf zwei Extremen stoßen, die sich dann als Portale materialisieren, von denen wiederum eines in eine neue Bewusstseinsschleife führt. Alles im Submodus meiner Wahrnehmung. Ganz klar.
Ich schaue in die flimmernde Weite des Horizonts.
„Was soll nur diese ewig sinnlose Schwarz-Weiß-Malerei?“, frag ich mich da. Scheiß System! Es lebe die Revolution!
Dann hebe ich langsam das Schwert, hole aus und werfe es mit aller Kraft gegen die Bläue des Himmels. Die wirbelnde Klinge zerschneidet ihn wie eine Leinwand. Was ist das? Dort ist ein Riss entstanden, aus dem es merkwürdig grünlich schimmert. Ich trete langsam näher und blicke hindurch.
Verwundert gaffe ich in eine riesige Halle mit Marmorsäulen. Die Decke glitzert und funkelt wie Weihnachtskram. Hunderte graue Anzugfuzzies eilen zu mir. Sie unterscheiden sich nur in den Hautfarben. Von grün, blau über orange ist alles vertreten. Einer fängt an zu klatschen und immer mehr stimmen ein. Bis auf den einen auf dem Boden. Er hat mein Schwert gefangen. Anscheinend war das mit dem Schwertwurf, mal abgesehen von dem Fänger, gar nicht so unrichtig.
Ich schlupfe durch den Spalt in der Realität. Ein Fuzzi mit einem Monokel tritt mit ausgetreckter Hand auf mich zu. Er sieht aus wie das Monopolymännchen.
„Ich beglückwünsche Sie, Herr Milchmann, ehrenwerter Retter des Gesamtreiches intergalaktischer Planeten und dritter Anwärterwelten …“
„Ach, sagen Sie einfach Milchmann zu mir …, Kadelen!“
Ich sehe, wie sie sich mit einem hellgrünen Festtagstrainingsanzug durch die Menge drückt. Bei mir angekommen fällt sie mir um den Hals. Wow, jetzt knutscht sie mich!
„Du hast es geschafft. Jetzt wird alles gut, Torben.“
Geschafft? Wieder einmal versteh ich nur Bahnhof. Wieder einmal ist‘ s mir wurscht.
Mhm, sie schmeckt nach Pfirsichen.
„Weißt du Kadelen, ohne dich würd ich immer noch in der Wüste stehen. Was hat es mit dem Schwert auf sich gehabt, dass du mir geschickt hast?“
„Welches Schwert?“, frägt sie. „Ich war das gar nicht … es war eventuell … genau, es wurde von den Tiefen deines Unterbewusstseins ausgelöst, aus der Wunschzwirbeldrüse. Der einzige Ausweg aus der Schicksalsschleife war, sie zu unterbrechen. Und das funktioniert hat nur, wenn du gegen die selbst aufgestellten Regeln deiner Wahrnehmung rebellierst.“
„Ja, ich das hab ich schon immer … Break on through to the other side, he-he. Übrigens, kann ich jetzt nie wieder Rockmusik hören?”
“Doch, aber du solltest vorsichtig sein, besonders in der U-Bahn. Torben …“ Ihre Stimme hört sich auf einmal traurig an.
„Ja, Kadlenchen?“
„Wir müssen uns verabschieden.“
„Wie? Jetzt gerade, wo es am schönsten ist?“
„Du kannst nicht hier bleiben.“
Das war ja wieder klar. Einmal der große Held sein, ne passable Freundin an der Seite und dann…
„Du weißt doch, dass du aus einer anderen Dimension stammst. Wenn du hier bleiben würdest, gäb es Turbulenzen in der Raum-Zeit, was zu irreparablen Schäden in beiden Welten führen könnte. Das gilt auch für mich.“
Sie senkt ihren Kopf. Der Pferdeschwanz schwingt traurig hin und her.
„Aber du kommst mich doch mal besuchen?“, murmle ich.
Jetzt schaut sie mir mit ihren Mandelaugen tief in die Seele und ich merke, dass wohl noch mehr gegangen wär.
„Wir können Ihnen nicht genug danken!“, meldet sich Monopolymann zu Wort. „Es kommt nicht das erste Mal vor, dass solch weitreichende Entscheidungen und verantwortungsvolle Aufgaben eines, nun ja, spezielleren Helden überlassen werden.“ Er kichert.
„Ähm, ich sag mal gern geschehen.“, erwidere ich. „Aber wenn ich mich so umschaue, läuft hier wohl genauso viel schief wie in meiner Welt.“ Er kichert wieder, aber diesmal aufgesetzt.
„Gut, Captain Kadelen, es wird Zeit!“, sagt er schnell.
Sie holt ein Kästchen aus ihrem kleinen Rucksack hervor. Es ist mit lila-schimmernden Holzrauten verziert.
„Dies ist das Portal, das dich in die Normalzeit zurückteleportieren wird“, sagt sie und zieht die Nase hoch. „Du musst nur deine Hand …“
„ … ich weiß, Kadlenchen.“ Ich nehm sie noch mal in den Arm und drück sie an mich. Dann hält sie mir das Kästchen mit geöffneten Deckel entgegen.
„Auf Wiedersehen, Milchmann“, sagt sie leise.
Ich lächle und sage: „Es war mir eine Ehre!“ Ohne zu zögern stecke ich meine Hand hinein. Ich bemerke, wie sich die Größenverhältnisse ändern. Das Kästchen wächst zur Truhe, die Umgebung schrumpft und schwindet. Alles scheint wie von einem Strudel dort ins Schwarze der riesigen Truhe eingesogen zu werden. Mein Arm wird länger und länger, schon kann ich meine Hand nicht mehr sehen. Alles schwindet und mit langgezogenem „Jippeyyyyyyy!!!“ stürz ich mich hinein.

Ein neuer Morgen bricht an

Es gibt Tage, die beginnen mit einem beherzten „Fuck!“.
Und leider kann ich mich auch am heutigen nicht dieses Kraftausdruckes verwehren. Was ein abgefahrener, höchst verwirrender Traum das war! Ich fühl mich dermaßen scheiße, dass mich jetzt nur eines retten kann: Der Gedanke an ein reichhaltiges Frühstück mit einem Glas frisch gepressten Orangensaft. Hä?
Ich hüpfe mit einem Satz aus dem Bett und befinde mich in Kampfstellung. Misstrauisch blicke ich umher. Irgendwas stimmt hier nicht. Keine Kleider auf dem Boden, gebügelte Vorhänge, eine neue Wandfarbe in mokka-pastell ... Ich eile ins Badezimmer und starre in mein neues, altes Selbst.
Wann war ich den beim Frisör? Und was soll dieser gestriegelte Hippsterbart, in dem noch mein Sabber klebt.
„Du siehst so … anders aus!“, sage ich mir, weil mir das gerade bewusst geworden ist. Sollte der Traum etwa doch …?
Ich eile in die Küche und lasse einen Schrei fahren: Dort an der Wand hängt das Samuraischwert, mit dem ich gestern das Universum gerettet hab.
Ich nehme es herunter und fühle wieder diese unerklärliche Kraft in mir aufsteigen. Alles um mich herum scheint zu glitzern.
„Na supi!“, denke ich mir.
Ich hänge es voller Ehrfurcht zurück, presse mir Orangensaft und ziehe mir einen Senseo. Ich lasse mich auf den braunen Stuhl nieder.
„Und was nun?“, frag ich mich. Mein Blick fällt auf die Zeitung von gestern.
Die Außenministerin aus Pandalusien war zu Gast bei der Merkel. Mhm, also irgendwo hab ich diesen Pferdeschwanz doch schon mal gesehen. Ich blicke aus dem Fenster und lächle bei den Gedanken an Kadelen. Was sie jetzt wohl gerade macht, einem anderen Trottel beistehen, der intergalaktische Katastrophen auslöst?
Ich seufze. Dann fällt mein Blick auf den Anzeigen Teil.
Da steht:

DU!

A-ja. Das war doch die seltsame Nachricht von Auge. Hmm, den Rest kann ich gar nicht entziffern, ist irgendwie verschwommen.
„Wer, ich?“

WER SONST?

Ah, ich hab es gestern genauso aktiviert. Eine interaktive Zeitungsbotschaft, sozusagen.
„Was geht, Auge?“, schmunzle ich.

ALLES BESTENS UND NOCH VIELEN DANK!

„Gern geschehen!“ An die Rolle des großen Wohltäters hab ich mich noch nicht gewöhnt.
„Kann ich dir sonst noch irgendwie weiterhelfen?“

TRIFF MICH HINTER DER LITFASSSÄULE UM FÜNF!

Das hätt er wohl gern, ist bestimmt eine Falle. Er möchte mir meinen Titel streitig machen. Aber warum eigentlich nicht? Ich hab ja jetzt Superkräfte. Wer‘ s mit einem Typhon aufnehmen kann, braucht diesen Typen nicht zu fürchten.
Also nicke ich und sag: „Okay, bis dann, Beelzebub.“

WER?

„Na, Teufel, Satan, Verführer, George Bush oder wie du dich gerade nennst.“

MEIN NAME IST JAQUES.

Ich zucke mit den Schultern. „Bis denn, Jaques.“
Wir haben jetzt kurz vor neun. Heute ist Freitag. Mal überlegen. Hab außer dem Fight mit Jaques nichts vor. Da fällt mein Blick auf den gelben Sack. Er steht brav in der Ecke. Mhm, die netten Innenraumdesigner haben ihn wieder hingestellt, er ist ja gestern umgefallen als ich die Zeitung …
Moment, worin lese ich gerade? Das Datum der Ausgabe: Donnerstag, der X. X, XXXX!
Ich runzle die Stirn, wie kann das sein? Haben die den Reset-Button gedrückt und der Tag beginnt von vorn? Ja, das könnte schon sein … aber was zum … dieses Datum auf der Zeitung?
„Ach egal“, murmle ich, zerknülle die Zeitung und probiere mein Glück.
Shit – daneben!

Ein Wiedersehen

Pfeifend laufe ich das Treppenhaus hinab. Mein Katana hab ich lässig auf den Rücken geschnallt Es wurde sogar eine Scheide mitgeliefert, auf der „Milchmann forever“ eingraviert ist.
Bin gespannt was Auge von mir möchte. Ich öffne die Haustür und springe gut gelaunt auf die Straße. Schönes Wetter heute. Obwohl, am gestrigen Heute war‘ s ziemlich bewölkt. Nicht schlecht, das Wetter können die also auch kontrollieren.
Nach ein paar Metern bleib ich stehen. Sogar meine Straße sieht verändert aus! Und was sind das für seltsame Leute, gestriegelt, braungebrannt und mit Tüten? Ich setzte meinen Weg fort. Irgendwas stimmt hier nicht. Keine Autos, Kein Vogelgezwitscher, nur das Trap-Trap der Schuhe und das Klock-Klock der Highheels. Haben die mich Tatsächlich nach Komparsenstadt zurückgeschickt? Naja, zumindest nicken die Leute mir jetzt zu. Sie scheinen mich zu kennen. Mein Blick streift eine riesige Werbefläche. Sie zeigt mein lächelndes Gesicht mit blinkendem Gebiss.
„Milchmann putzt mit dem neuen Blendadent-Hydrooxigen-System“. Tss, ich fahr mir mit der Zunge über die Zähne. Hmm, fühlt sich echt sanft an!
Da vorn geht‘ s runter zur U-Bahn. Am besten fahr ich ein paar Stationen, bis Destiny City. Die Litfasssäule werde ich schon finden, da mach ich mir keine Sorgen.
Unten angekommen, stell ich mich an den Bahnsteig. Noch 2 Minuten. Auf der Gegenseite bin ich wieder abgebildet. Ich stehe nur mit Lendenschurz bekleidet mein Schwert schwingend in der Steppe. A-ha, Unterhosenwerbung.
Der Zug rollt an, ich steige mit ein paar Komparsen ein und lasse mich auf einem freien Platz nieder. Den MP3-Player hab ich erst gar nicht mitgenommen, vorsichtshalber. Komisch, dass ich die U-Bahn nehme. Ich müsste doch dank der Werbeeinnahmen steinreich sein, da könnt ich mir ein fettes SUV-Flakschiff leisten. Automatisch greife ich in die Hosentasche zum Geldbeutel. Ganz schön fett fühlt sich er sich an. „What da fish!“, schreie ich, dass ein paar Komparsen zusammenzucken. Ein Bündel grüner Scheine lacht mir entgegen. Es scheint der Milchmann hat deftig Asche in der Tasche! Da wird er wohl heut noch ordentlich shoppen gehen. Auf der Anzeigetafel sind es noch drei Stationen bis Destiny City. Sollte ich Jaques versetzten und lieber gleich die Kohle auf den Kopf hauen? „Nee, als Milchmann hat man doch Verpflichtungen“, sage ich mir selbstgerecht.
Aus den Lautsprechern rieselt ein Song. Den kenn ich doch? Ist das nicht, o Mann, es ist der Rocksong von gestern. Ich sitze also wieder in der U-Bahn, höre diese Musik und starre auf den Pferdeschwanz von … „Kadelen!“
Sie ist es tatsächlich, sitzt mir gegenüber und guckt verblüfft. „Ähm, ja?“, sagt sie unsicher.
Erfreut setz ich mir zu ihr rüber. „Was machst du denn hier?“
Sie tut immer noch ganz erschrocken. „Woher kennst du meinen Namen?“
„Na, hallo? War das nicht was? Tag Iks, Universum retten uns so?“
„Ja aber, aber … “, stottert sie, „… um Gotteswillen!“
„Was ist denn“, frag ich gekränkt, keine Spur Wiedersehensfreude von ihr. Von wegen Frau für‘ s Leben.
„Da ist etwas ganz schief gelaufen“, sagt sie düster. „Die Schicksalsschleife …“
Plötzlich und zeitgleich erheben sich die anderen von ihren Plätzen und fangen an zu singen, wieder ist es eine Art Jingle.
„Was bist du – was bist du – was bist du …“
„Ich bin Torben Milchmann, Retter der Milchstraße!“, schrei ich genervt.
Aber es zeigt keine Wirkung. Im Gegenteil: Mein Geschrei hat es noch verstärkt, jetzt ziehen sie mit dem Tempo an.
„Hört doch auf ihr Idioten!“, rufe ich fassungslos. Dann greif ich Kadelens Hand und zieh sie hinter mir her, zwischen den singenden und tanzenden Zombies hindurch, bis ins nächste Zugsabteil.
 

Aligator

Mitglied
Der Tag Iks

„Jetzt steck schon deine Hand rein“, sagt sie.
Ich starre auf das Kästchen, dann in ihr Gesicht, mit den Händen demonstrativ in den Hosentaschen. Mein Puls beschleunigt und ich beiße mir auf die Unterlippe.
„Und du bist dir sicher, dass da nicht irgend ein Scheiß drin ist?“, presse ich hervor.
Sie grinst dämonisch und ihre dunklen Augen funkeln.
„Tu – es!“
Ich blicke mich um, keiner da, der mir weiterhelfen könnte. Ich ziehe Luft durch die Nase und versuche runterzukommen. „Also gut.“
„Bitteschön!“, sagt sie und hält mir das Kästchen entgegen.
Mit zitternden Fingern bewege ich meine Hand zur Öffnung. Die kleinen, bunten Holzrauten am Kästchen schimmern in lila Farbnuancen. Ich bemerke, wie sich die Größenverhältnisse ändern. Das Kästchen wächst zur Truhe, die Umgebung schrumpft und schwindet. Alles scheint wie von einem Strudel dort ins Schwarze der riesigen Truhe eingesogen zu werden. Mein Arm wird länger und länger, schon kann ich meine Hand nicht mehr sehen. Ich versuche aufzublicken, aber alles besteht nur noch aus bunten Fäden. Etwas in mir sträubt sich noch, doch es hat keinen Sinn, ich lasse los und stürze mich hinein.

Am Morgen

Es gibt Tage, da wache ich ausgeschlafen und gutgelaunt auf.
Heute nicht. Der Wecker reißt mich aus meinen durchgeknallten Traum und ich erwache, als würde die Seele noch nicht am rechten Platz sitzen. Der Schädel drückt und mein Kreuz schmerzt. Solche Tage starten mit einem beherzten: „Fuck!“
Ich liege zerknüllt auf der Matratze und starre zur Decke. Jetzt kann mich nur noch eins retten: ein mit drei Löffeln Zucker verfeinerter Bohnenkaffee. Wie in Trance überwinde ich sämtliche Schmerzsignalisierungen meines Körpers und stapfe ins Bad. Ein Schwall kaltes Wasser ins Gesicht. Heute ist Donnerstag. Der unscheinbarste Tag der Woche. Keine Ahnung, warum' s ausgerechnet da donnern sollte. Ich blicke in die halboffenen Augäpfel mit den erweiterten Äderchen. Die dunkle Schmalzlocke klebt wie gewohnt nach links. Dort schimmert noch der Sabber im Bart.
„Du siehst so scheiße aus“, sage ich, als wäre ich mir soeben dieser Tatsache bewusst geworden und spucke ins Waschbecken.
Meine Küche, schon fünf Tage überfällig, verströmt einen faden Mief. Die Sonne tut ihr bestes, sich durch die milchige Fensterscheibe zu kämpfen. Ich kippe das Fenster und ziehe mit geschlossenen Augen die Kühle des Morgens ein. Wie ich das liebe! Die Vögel zwitschern, die Baustellen lärmen und durch die Häuserschluchten dringt das Tosen des Berufsverkehrs. Ich ziehe mir einen Senseo, mache ihm Platz auf dem Küchentisch und lasse mich stöhnend auf dem braunen Stuhl nieder.
Mein Blick wandert über das Chaos: Ungeöffnete Briefe, leere Dosen und ganz unten drunter die Zeitung von gestern. Ungeachtet der herunterfallenden Sachen ziehe ich sie hervor und erblicke eine unscheinbare, winzige Anzeige. Dort steht:

DU!

Ich runzle die Stirn, nehme einen Schluck und sage aus einer Laune heraus: „Wer, ich?“

WER SONST? steht da.

Also, was sich diese Fuzzies alles einfallen lassen, denk ich mir und schüttle den Kopf.

TREFFE MICH HINTER DER LITFASSSÄULE UM FÜNF!

„Warum sollte ich?“ Rippen die da Leute ab, einsame, einfältige Bürger, die sich dort eine schnelle Nummer versprechen? Ja, das ergibt Sinn!

ICH ERWATRTE DICH!

„Na dann, viel Spaß dabei!“
Aus purem Zeitvertreib lese ich mir manchmal solche Anzeigen durch. Es gibt schon kranke Gesellen, aber irgendwie amüsiert‘ s mich. Ich überfliege noch einige weniger originelle Texte, zerknülle schließlich die Zeitung zu einem Basketball und versuche mein Glück. Bumm! Voll ins Gelbe! Heute ist mein Glückstag, der Sack ist sogar umgefallen.
„Moment, steht heut nicht was an?“ Arbeitsamt um elf.
Da merke ich, dass ich noch achteinhalb Minuten habe, bis die U-Bahn fährt.

Im Tunnel

Wackelnde Leute sitzen mir gegenüber. Omas mit Taschen auf den Schößen und Schulkids, die wie blöd ihre Smartphones betatschen. Die sind mir für gewöhnlich wurscht, aber ich schaffe es nicht, diese kaugummikauende Schwarzhaarige gegenüber zu ignorieren. Immer wieder streift mein Blick ihren Pferdeschwanz. Er pendelt im Rhythmus zu meiner Musik, die aus den Kopfhörern strömt. Irgendein Progressiv-Rock aus den Siebzigern. Eine sphärische Klangschönheit umspult mich. Es ist einer dieser Momente, in dem sich das Universum zu verdichten scheint. Oh shit, sie guckt her!
Ich schaue schnell auf meinen Schoß, als hätt ich etwas Verbotenes getan. Dazu dieses abgefahrene Gitarrensolo. Ich schäme mich, aber warum eigentlich? Jetzt erst recht!
Vorsichtig hebe ich den Kopf. Oh, Mann, sie schaut immer noch zu mir herüber, mit so einem verschmitzten Lächeln. Irgendwo hab ich die doch schon mal gesehen …Was für einen merkwürdigen, silbrig glitzernden Trainingsanzug die anhat. Der Gitarrenguru hebt gleich ab, er ist schon am 18. Bund. Da sagt sie etwas, ganz langsam.
Ich versteh‘ s nicht. Und Lippenlesen zählt auch nicht zu meinen Stärken. Oder doch? Hat sie nicht „I love you“ gesagt?
Ich setze den Köpfhörer ab.
„Hä?“
„Was-willst-du?“, kommt von ihr.
„Nichts.“ Wie schlagfertig! Mich treffen die Schakalblicke der anderen Fahrgäste. Der ganze Zauber ist aus.
Mein Gesicht verkrampft sich kurz zu einem schiefen Grinsen, dann setzte ich mir den Kopfhörer auf und ziehe die Kapuze meines Pullis über den Kopf.
Da kommt jetzt der noch viel krassere Song. Ob ich das überlebe? Ich drehe voll auf und schließe die Augen.
Komisch, der hört sich heute anders an. Da ist die Orgel, da die Flöte, da der Bass, aber da ist noch etwas im Hintergrund, ganz leise. Hm, es ist so eine Art Jingle. Es hat einen Text, der sich ständig wiederholt. Die haben doch damals immer so Botschaften untergemischt, wie „Kauf die Platte“ und so. Jetzt verstehe ich' s:
„Was willst du – was willst du ...“. Immer wieder. Komisch, wieso singen die deutsch? Verträumt öffne ich die Augen und …
Ach du Scheiße! Die ganzen Leute um mich herum singen das ja! Die Omas und die Schulkids!
Sie sind alle aufgestanden und tanzen - so gut das in einer fahrenden U-Bahn halt geht - im Rhythmus wie auf Viva, singen immer lauter und zeigen bei dem „du“ mit den Zeigefingern auf mich.
„Was-willst-du!“
Noch dazu kommen sie immer näher. Ich springe auf die Bank und – aua! - haue mir ordentlich den Schädel am Gepäckfach an.
„Was-willst-du!“
„Ich will, dass das aufhört, ihr Idioten!“, schreie ich, aber ohne Wirkung. Im Gegenteil: Mein Geschrei hat es noch verstärkt, jetzt ziehen sie mit dem Tempo an.
„Torben!“, hör ich da jemanden.
„Ja, so heiß ich!“, rufe ich zurück.
„Hier rüber, Torben!“ Da merke ich, dass der schwarze Pferdeschwanz an der Tür zum nächsten Wagen herwinkt.
„Ich komme!“ Die durchgeknallten Tanzzombies lassen mich ungehindert rüber rennen und ich spring aus der Tür, in der auch Sekunden zuvor meine Retterin verschwunden ist.

Das Mädchen schließt die Tür hinter mir und es wird still. Nur mein Keuchen ist zu hören, ich hab ja ungelogen noch niemals so einen Schiss verspürt wie gerade eben. Ich stütze mich auf den Knien ab und atme. Allmählich stimmt die Sättigung in meinem Hirn. Mein Blick streift das Fenster. Was ist das? Wir fahren nicht mehr durch das Dunkel der U-Bahnschächte, sondern durch eine helle Sommerlandschaft. Kornfelder ziehen wie ein Meer an uns vorüber.
„W-was war das gerade?“, stottere ich noch immer am ganzen Leib zitternd.
„Du bist in eine Entscheidungssubraumtangente geraten“, antwortet Pferdeschwanz kühl.
Ich nicke mit dem Kopf. Nach einer Weile frage ich verdattert: „Was?“
„Dein Bewusstsein hat in Verbindung mit der Geschwindigkeit der U-Bahn und den Schwingungen der Musik einen neuronalen, hypertransorbitalen Cluster ausgelöst ...“
Sie ist so wunderschön … und klug!
„ … und dadurch konnte ein Riss im Zeit-Raum-Kontinuum entstehen, der wiederum ...“
Ich glaub ich hab mich verknallt. Ausgerechnet jetzt!
„ … deinen Kortex mit fluxkompensatorischer, temporärer Masse überflutet hat. Du wirst dich nun wahrscheinlich etwas verwirrt fühlen, aber das sollte sich bis in zehn Minuten wieder legen. Dann hat sich dein Gehirn an die veränderte Raum-Zeit eingepasst. Auch dein Parasympathikus, übrigens!“ Sie deutet auf die Ausbeulung meiner Hose.
Ich setze mich auf die Bank, schlage die Beine übereinander und frage:
„Wer bist du eigentlich? Und warum redest du so neunmalklug?“
Sie zieht ihren Pferdeschwanz fester, setzt sich mir gegenüber und lächelt.
„Ach, ich bin die Kadelen und ich lese halt gern.“
Mein Mund steht offen. Ein Speichelfädchen seilt sich ab. Ich merke wie mir alles zu viel wird und ich wie ein angepiekstes Sufflé zusammensacke.
„Bitte …“, stammle ich mit letzter Kraft, „ ... lass mich jetzt nicht allein!“ Dann wird alles schwarz.

„Torben!“, höre ich den Singsang aus der Ferne
„M-hm?“
„Wach auf, Torben!“
„Mussnonet…“
„TORBEN!“ Diesmal geschrien.
Ich reiße die Augen auf, drehe mich um und sehe Kadelen vor mir stehen, die Hände auf die Hüften gestützt. Sie sagt: „Komm jetzt zu dir, wir müssen los!“
Ich setzte mich wie nach einer durchzechten Nacht auf. Wir sind immer noch allein in dem Wagen, allerdings fährt er wieder im Dunklen.
„Ähm, danke nochmal, dass du mir vorhin geholfen hast.“ Ich schaue auf meine Uhr. Sie muss stehen geblieben sein, denn sie zeigt fünf vor vier an. „Ich muss dann nächste Haltestelle raus.“
„Ja und du wirst dich entscheiden müssen, welches Raum-Zeit-Portal du durchschreiten möchtest, ...“
Langsam aber sicher geht sie mir auf die Nerven mit ihrem Startrek-Gelabere.
„ … und pass auf, dass du dich nicht in einer Schicksalsschleife verhedderst. Dann würde ein und derselbe Tag immer wiederkehren und ...“
„Stopp!“ Ich kann' s nicht mehr hören!
In diesem Moment bremst der Zug ab. Gut so, besser ich gehe und lasse das Mädchen aus einer anderen Welt zurück.
Wir halten an und die Türen öffnen sich. Wie jetzt, auf der linken und rechten Seite? Ich gehe langsam zu der einen. Doch da ist keine Haltestelle. Auf einer Anzeige steht: „Destiny City“. Nie gehört. Draußen sehe ich eine Fußgängerzone! Lauter Leute mit Tüten. Ich drehe mich um und blicke aus der anderen. Oh Mann, es sieht so aus, als befindet sich eine Wüste da draußen. Dünen über Dünen. Heißer, staubiger Wind weht mir ins Gesicht. Etwas ratlos wandert mein Blick wieder zu Kadelen. Die steht da, grinst und meint: „Ich sagte dir ja, du musst dich entscheiden!“
Nach ein paar Sekunden zucke ich mit den Schultern, sage „tschüss“ und verlasse diesen merkwürdigen Zug, natürlich zur Stadt hinaus. Keine Ahnung, welche special effects die hier aufgefahren haben. Dieser Tag ist mir zu verwirrend, als dass ich mir jetzt darüber Gedanken machen kann. Ich sollte lieber mal Sendepause halten.

Der Retter naht

Verdammt, wo bin ich hier? Ich kenne keine Straße, kein Geschäft und überhaupt, irgendwas stimmt schon wieder nicht. Seit fünf Minuten gehe ich einfach geradeaus. Aus unbeirrbarem Glauben an mich selbst habe ich noch niemanden nach dem Weg gefragt. Ich kenne mich in dieser Drecksstadt doch aus. Zwangsläufig, denn ich habe es selten aus ihr heraus geschafft. Aber hier, wo bin ich gelandet? Destiny City. Oder was? Diese Menschen, sie lächeln alle aufgesetzt und keiner sagt was. Man hört nur das Trap-Trap der Schuhe und das Klock-Klock der Highheels. Sie sehen ja ganz gut aus, wie Schauspieler oder Statisten. Da pass' ich gar nicht rein, mit meiner Halbmasthose und den zerfetzten Chucks. Hoffentlich merken die das nicht. Egal, ich frag den da jetzt:
„Tschuldigung, können Sie mir vielleicht sagen, wo' s hier zum Arbeitsamt geht?“
Der Typ im Anzug und der schmierigen Frisur schaut mich an, grinst mir sein blinkendes Pferdegebiss entgegen und denkt nicht daran, stehen zu bleiben.
„Vielen Dank auch, du Lackaffe!“, denk ich mir. Aber ich sage es lieber nicht laut. Langsam steigt die Angst empor. Was, wenn das hier wirklich eine andere Realität ist? Oder bin ich auf irgendwas hängengeblieben?
„Hi, Torben!“
Scheiße, bin ich erschrocken! Ich dreh mich um, weil mir jemand auf die Schulter geklopft hat und wer steht da? Kadelen, natürlich.
„Ach du bist' s!“, freue ich mich fast.
„So wird das aber nichts, mein Freund“, sagt sie.
Wow, sie hat 'Freund' gesagt. So hat mich nie ein Mädchen genannt. Nur die wenig charmante Verniedlichkeitsform davon. Vielleicht können wir ja doch heiraten und Kinder bekommen.
„Du musst schon irgendwie interagieren, wenn sich weitere Portale öffnen sollen.“
Geht das Generve wieder los!
„Nö“, antworte ich so zickig ich nur kann, „hab aber keine Lust zu interagieren!“
Sie senkt den Kopf. Dann sagt sie traurig:
„Das ist aber schade, denn es steht immerhin das Universum auf dem Spiel.“
„Ach!“ Mit schiefen Kopf und süffisantem Lächeln lass ich Hohn auf sie hageln.
„Ich habe dir doch von den transorbitalen Cluster, denn du ausgelöst hast, erzählt. Er wird in kurzer zu einem schwarzen Megaloch implodieren, das alles verschlingen wird.“
Also gut, Mädchen.
„Wie soll ich diesen scheiß Cluster denn ausgelöst haben, hä? Mit Rockmusik aus den siebzigern?“
Kadelen schaut mich irritiert an und sagt:
„Haben dich deine Eltern etwa nie vor Rockmusik gewarnt?“
„Willst du mich verarschen“, jetzt schreie ich, „ich hab die Mukke doch von meinem Alten!“
„Aber die Auswirkungen werden verheerend sein!“
„Na Prima, kann mir doch nur recht sein, wenn der Laden den Bach runter geht! … Entschuldigung.“ Bei 'Bach' hab ich gespuckt.
Sie wischt sich über die Stirn. „Und alle Menschen, deine Familie und deine Freunde, sind sie dir alle egal?“
Ich schlucke. Jetzt hat sie mich. Sicher könnt ich jetzt „ja“ sagen. Habe mit meinen Eltern seit drei Jahren nicht mehr gesprochen. Und Freunde? Da fällt mir nur Pflaume ein, die alte Flipsbirne, der ist meistens so drauf, dass er sich bereits in einer anderen Realität befindet. Und Detlef mein Sandkastenkumpel ist nach Schweden gezogen, der Verräter. Mir könnten die echt alle egal sein, aber wer ist schon gern alleine auf diesem Planeten? Wer kann schon von sich behaupten, er brauche niemand?
„Was ist denn los?“, fragt Kadelen und berührt zärtlich meine Schulter. Wow, die riecht nach Pfirsichen. Und da wird es mir schlagartig klar: ich muss es tun! Ich muss es für sie tun! Scheißegal was, aber ich werde mir selbst in den Arsch treten und es tun! Und wie ich es tun werde!
„Ich will' s mit dir tun!“, sage ich mit entschlossener Haltung.
Kadelen zieht die Hand zurück.
„Ich will das Universum retten!“
Da fängt sie an zu strahlen und sagt: „Na prima!“
„Aber“, lege ich mit erhobenen Zeigefinger fest, „dazu muss ich dich erst mal besser kennenlernen!“
„Torben, die Zeit drängt!“
„Bis du von hier?“
Sie seufzt und wir setzen uns auf ihren Wink hin auf eine Bank. Dann schließt sie kurz die Augen und fängt an: „Nein, ich bin nicht von hier, nicht mal aus dieser Dimension. Ich komme von einer Welt, die du dir nicht mal im Entferntesten vorstellen kannst. Der intergalaktische Rat hat mich auserwählt, dir auf deiner Mission beizustehen.“
„Aber Moment mal, du warst doch schon vorher in der U-Bahn gesessen, noch bevor die Sache mit den Omas und Schulkids passiert ist.“
„Ich wusste, dass es passiert. Es war dir schon immer bestimmt, den Iks auszulösen.“
Verstehe nicht.
„Heute ist er, der Tag Iks. Der Tag der Intergalaktischen Katastrophen Sekunde. Wir haben sogar unsren Kalender danach berechnet.“
Das stimmt mich nachdenklich. „Und ich hab ihn ausgelöst?“
Schade, dass Pflaume jetzt nicht da ist, der glaubt mir das niemals.
Kadelen schaut mich ernst an und fährt fort:
„Vergiss nicht, es kann nur ein gutes Ende nehmen, wenn du dich für die richtigen Portale entscheidest.“
Ausgerechnet ich, der sich vor allen Entscheidungen drückt.
„Woher soll ich wissen?“
„Das ist die eine Schwierigkeit, die andere ist, dass du die Portale erst aufspüren musst.“
„Mhm, und dieses Destiny City ...“
„Die Realität in der wir uns jetzt befinden, ergibt sich aus der Raum-Zeit-Abnormalität und deinem eigen, erweiterten Unterbewusstsein. Aus irgendeinem Grund beschäftigt dich anscheinend das Konsumverhalten deiner Artgenossen.“
„Soll das heißen wir befinden uns in so ner Art Gedankenwelt … in meinem Hirn?“, schließe ich.
„Sozusagen.“
„Oh-mein-Gott!“

Verabredung mit dem Beelzebub

Wir gehen jetzt schon eine halbe Stunde. Ich trotte voraus, Kadelen wachsam hinterher. Diese Zone muss hunderte Kilometer lang sein. Ich blicke mich immer wieder um, aber sie zuckt nur mit den Schultern.
Die Statisten ziehen grinsend vorüber. Alle mittleren Alters. Alle gestriegelt und braungebrannt. Meine Armbanduhr zeigt fünf vor fünf an. A-ja, wegen der veränderten Raum-Zeit! Mir sticht da eine Litfaßsäule ins Auge. Da war doch was … Ich gehe mal zu ihr hin. A-ha, Zigarettenwerbung.
„Nicht da lang!“, bricht Kadelen das Schweigen.
„Wieso?“
„Ich empfange negativ geladene Masseteilchen.“ Sie fuchtelt mit so einer Art Tricorder umher.
Ich schnuppere angestrengt. „Also ich empfange nichts.“ Da hinten blinkt doch was!
„Torben“, befiehlt sie, „bleib stehen!“
Fortgeschrittene Technik und weibliche Intuition trifft meinen Dickschädel.
„Wer ist denn hier der Retter des Universums, hä?“, rufe ich.
Es blinkt in der Gasse, ganz hinten, in der Dunkelheit. Da muss es sein!
„Torben, ich kann dir nicht dahin folgen, bitte komm zurück!“, fleht sie. Das gefällt mir natürlich.
„Komme gleich wieder, hab keine Angst!“
Ich frage mich, warum ich selbst keine verspüre. Muss Neugierde sein.
Mit jedem Schritt wird es dunkler. Es ist, als ob das Licht von dort hinten eingesogen werden würde.
„Da bist du ja endlich!“ Eine versoffene, männliche Stimme dringt an mein Ohr.
„Hallo?“ Ich kneife die Augen zusammen, kann aber nichts erkennen. Schließlich nehme ich die Umrisse einer Gestalt war, die sich zu mir bewegt. Ich glaube, sie schwebt sogar. Er hat mich mit einer Taschenlampe hergelockt, der Halunke!
„Gut, dass du meiner Einladung gefolgt bist!“, sagt er.
Einladung? Meint er etwa die abgefahrene Zeitungsannounce von heute früh?
„Wie konntest du mich durch die Zeitung kontaktieren?“, frage ich schließlich, „und warum eigentlich?
Die Stimme grollt: „Bist du nicht der große Retter, der Milchmann?“
„Milchmann?“ Ausgerechnet ich mit meiner Laktoseintoleranz.
„Ja, der Retter der Milchstraße!“
„Hm, … kannst du mich nicht einfach Retter des Universums nennen?“
„Viel zu lang und so steht es nun mal in den Prophezeiungen!“
So schlecht hört sich' s auch wieder nicht an.
„Okay, nenn mich wie du willst. Sag mal, du bist nicht zufällig an so Portalen vorbei gekommen? Jetzt komm doch mal ins Licht, ich seh dich ja gar nicht!“
„Mag sein, großer Milchmann!“
„So sag er mir: wo jetzt?“
Die Gestalt nähert sich. Er ist in einen schwarzen Umhang gehüllt. Von seinem Gesicht kann man nur die rotglühenden Augen sehen. Auf dem Kopf trägt er einen Zylinder. Verdammt, hätte ich Schiss, wenn ich nicht der Milchmann wäre!
„Hier!“ Er streckt mir zwei Spielkarten entgegen: ein Pik-Ass und eine Kreuz-Sieben. „Wähle, denn du bist der Entscheidende!“
Das sollen Portale sein, will der mich verarschen? Da pass ich doch gar nicht durch.
„Hast du nicht was Größeres für mich?“
„Also wenn sie dir nicht gut genug sind“, sagt Auge beleidigt, „dann wünsch ich noch viel Erfolg bei deiner Suche!“
„Moment, Moment, Moment!“ Ich kratzte mich am Hinterkopf. Besser ich nehm jetzt eine, anstatt noch Stunden in Komparsenstadt zu verbringen. „Kreuz sieben!“
Der Typ lacht wie ein Lungenkranker. Ein Schauer jagt mir über den Rücken.
„Oder doch vielleicht die andere?“, sage ich schnell.
Das Lachen verstummt. „Was jetzt?“, fragt er.
„Kann ich eigentlich auch beide haben?“
„Nein, entscheide dich für eine! Das kann doch nicht so schwer sein!“
„Okay, dann, dann … nehm ich die Pick-Sieben.“
...
„Ich hab aber keine Pick-Sieben!“
„Hast du gar kein Herz?“
„Aaaaach!“ Auge ist ganz schön genervt. Ist aber auch nicht leicht. Es geht schließlich um' s Universum.
„In Ordnung, dann nehm ich halt die erste.“
„Eine weise Wahl, Milchmann!“
Er schnippt sie mir rüber und sie landet direkt auf meiner Hand.
„Hey! Das war ganz schön cool, Alter!“, bemerke ich anerkennend. „Kannst du dass auch ein zweites Mal?“
„Sicher kann ich das“, behauptet Auge.
„Niemals!“, sage ich.
„Sieh und staune, Milchmann!“
Als die zweite Karte landet, gebe ich Gas. Ich renne um mein Leben und werfe Mülleimer dabei um. Auge ist gar nicht amüsiert und kommt hinterher geflitzt.
„Kadelen!“, rufe ich, „welche ist die Richtige?“
Sie steht immer noch an der Litvassäule. „Sind das die Portale?“
„Gleich hab ich dich, du Würstchen!“, höre ich den Teufel immer näher kommen.
„Ist wohl nichts mehr mit großer Milchmann, oder was?“
„Wähle eines aus!“, schreit Kadelen.
„Ja, aber…“
Ich spüre eine eisige, knochige Hand an meinem Nacken. „Nimm deine Wichsgriffel von mir!“, schreie ich.
„Wähle endlich!“, ruft Kadelen.
„Ich wähle Tor Kreuz-Sieben!“, brülle ich in den Himmel.
Plötzlich wächst die Karte zur Größe einer Plakatwand. Ich verliere den Boden unter den Füßen und stürze in einen Strudel aus Raum und Zeit und … Lakritze.

Im Albtraumland

Tante Renate – Stoff für reichlich Kindheitstraumata. Gut an ihr war, dass sie im Norden lebte. Weit weg von unschuldigen Kindern. Aber nicht weit weg genug, um mir das alljährliche Geburtstagsdrama zu ersparen. Sie steht also vor mir, ihre kalten, feuchten, pink schimmernden, mit Stoppeln gekrönten Lippen spitzen sich, ich erleide Schauer um Schauer, und dann … Ich erspare mir den restlichen Teil der Rückblende. Auf jeden Fall kannte ich den Grund für ihre Verkommenheit: Ihre unstillbare Leidenschaft für Bärendreck, diese eklige, schwarze Süßspeise, würg!
Ich stehe auf einem Hügel Lakritze, betrachte das Lakritzgebirge mit dem angrenzenden Süßholzwald und denke mir:
„Ja, das ist wirklich der Leibhaftige gewesen. Welch perverser Geist sonst könnte ausgerechnet mich ins Lakritzeland verbannen?“
Stunden später trotte ich noch immer den schwarz gepflasterten Weg entlang, keine Spur von Kadelen, meine Hoffnung schwindet und die des Universums mit ihr. Die Beine werden schwerer und schwerer. Doch es hilft nichts, ich muss weiter.
Wieder Später wate ich durch den L.-Sumpf. Ich will und kann dieses Wort nicht mehr vollständig denken. Meine geliebten und einzigen Schuhe bleiben in L. stecken. Selbst mein Pulli und meine Jeans wurden mir entrissen, doch es gelingt mir mit letzter Kraft, es heraus zu schaffen.
Irgendwann liege ich nackt und mit L. beschmiert auf der unendlichen Weite der L.-Steppe. Ich möcht nicht mehr. Die schwarze Sonne brennt. Ich starre in die L.-Wolken und denke mir: „So das war' s, der Milchmann gibt auf. Was ein beschissener Abgang!“
Wieder Stunden später. Meine rechte Gesichtshälfte klebt auf dem Boden. Die Hitze lässt die Luft über der schwarzen Ebene flimmern. Eine salzige Träne rinnt herab, tränkt die herbsüße Steppe wie ein leiser, letzter Protest. Ich schließe die Augen …
… und öffne sie noch ein letztes Mal. Da, eine Fata Morgana am Horizont. Ein Motorrad wirbelt Staub auf. Ich höre das Bollern des V2, spüre die Vibrationen. Echt geil gemacht, die Hallu. Respekt für meinen kranken Geist! Die Harley kommt näher, wird geparkt, der Fahrer steigt ab beugt sich zu mir herunter und sagt:
„Um Himmels Willen, Torben?“
„Bist du' s, Kadelen?“
Sie nimmt meinen Kopf auf ihren Schoss.
„Bist du aus – Lakritze?“, frage ich.
„Natürlich nicht, aber bei dir wär ich mir nicht so sicher.“

Eine halbe Stunde später bollern wir über den Highway. Die Landschaft hat sich allmählich und zu meiner Beruhigung verändert. Vereinzelnte Kakteen und trockene Sträucher ziehen an uns vorbei. Es sieht hier aus wie im Wilden Westen. Ich sitze hinten auf dem Sozibrötchen und klammere mich an Kadelen. Sie hat mir was zu trinken gegeben, mich notdürftig gesäubert und mir mit einen Lendenschurz ausgeholfen, den sie kurzerhand aus ihrem T-shirt gerissen hat. Der silberne Stoff flattert über meinem nackten Hintern. Aber es ist mir egal, denn hier ist keine Seele weit und breit, die mir was abgucken könnte. Und wenn schon.
„Wo hast du denn das Motorrad her?“, rufe ich ihr ins Ohr.
„Hab' s mir geborgt!“, schreit sie zurück.
„Und von wem?“
„Von Typhon. Na ja, eigentlich hab ich‘ s aus seiner Garage gestohlen. Da standen noch mehr. Er sammelt die anscheinend.“
„Ach so.“ Hauptsache der Tank ist voll. „Und, wo fahren wir jetzt hin?“
„Na, erst mal weg von Typhon, natürlich!“
„Klar!“ Ich blicke vorsichtshalber nach hinten. Nichts zu sehen.
„Ähm, Kadelen?“
„Ja?“
„Wer ist denn dieser Typhon nochmal?“
„Ach nur so ein riesiges Ungeheuer, hab ihn mal auf ner Party kennengelernt. Ist eher so ein Intellektueller, der sich gern reden hört.“
„Also nicht gefährlich oder so?“
„Na ja, er hat 100 Drachenköpfe, man weiß nie so recht, mit welchem man reden soll. Das kann in einer Disskussion schon gefährlich werden.“ Sie lacht, findet das wohl witzig. „Übrigens, er kommt auch in der griechischen Antike vor.“
„Interessant! - Kannst du nicht ein bisschen schneller fahren?“
„Keine Sorge, der holt uns schon nicht ein.“
In diesem Moment macht sich mit lautem Knall eine Fehlzündung bemerkbar. Der V2 stottert. Kein Sprit mehr. Wir rollen noch eine Weile im Leerlauf, dann kommen wir zum Stillstand.
„Ups“, meint Kadelen.
„Und jetzt?“, frag ich.
„Hm, weiß auch nicht so recht …“
Ich blicke mich noch mal um und erkenne eine Staubwolke am Horizont, die sich uns tosend und unaufhaltsam nähert.
„ …vielleicht rennen?“

Ich sitze im Schneidersitz auf dem Highway und warte. Angesichts des sich nähernden Unheils, scheint jede Flucht sinnlos. Die Harley steht ein Stück entfernt. Kadelen schreibt eine SMS mit dem Tricorder. Ihr schwarzer Zopf flattert im Wüstenwind. Sie scheint sich keine großen Sorgen zu machen. Vielleicht kann sie sich aus der Geschichte herausreden. Labern kann sie ja.
Irgendwie haben die vielen bedrohlichen Situationen mich verändert. Es ist nicht so, dass ich keine Angst verspüre, aber ich kann besser mit ihr umgehen. Der Kick bleibt aus. Ich atme ruhig und fokussiere das Riesenungeheuer, wie es rast und tobt und sich auf uns zu bewegt. Immer mehr Details kann ich ausmachen. Es läuft auf den Hinterbeinen. Flügel hat es keine. Dafür hat es wirklich verdammt viele Köpfe. Aber hundert? Niemals, - Halt doch mal ruhig! - das sind höchstens an die dreißig. Dass die Leute immer so übertreiben müssen!
„Also gut“, sagt Kadelen, „ich hab mal alles überschlagen. Wenn man die neuronale Struktur dieser Situation betrachtet, müssten die nächsten Portale im Zusammenhang mit dem Ungeheuer erscheinen. Eine Konfrontation ist sowieso unausweichlich.“
Ach nee!
„Aber das mit der Harley biegst du wieder hin“ fordere ich. „Dafür kann ich ja nichts.“
Kadelen macht ein Gesicht, als hätte sie in eine Zitrone gebissen. „Sorry, aber es wär wohl das Beste, wenn ich jetzt verschwinde.“
„Wie jetzt?“
„Ich werde mich weg teleportieren.“
„Und was ist mit mir?“
„Das ist unmöglich. Du kannst nur durch die Portale verschwinden.“
„Du willst dich also so mirnichtsdirnichts aus dem Staub machen?“
„Versteh mich nicht falsch, es ist kompliziert.“
„Find ich nicht. Ist doch ziemlich klar, alles.“
Sie schaut mich mitleidig an, dann sagt sie:
„Vertrau mir, du wirst es verstehen!“ Und mit einem Lächeln löst sie sich in Luft und Seifenblasen auf.
„Ja, ja, der Milchmann macht das schon.“

Die Konfrontation mit dem Kritiker

Das Ungeheuer ist nun fast da. Es bremst mit einer gewaltigen Staubwolke ab und stampft zur Harley, hebt sie vorsichtig zwischen Daumen und Zeigekralle hoch und einer der Drachenschädel schnuppert daran. Die anderen haben mich längst entdeckt. Einer ruft: „Ey Jungs, guckt mal, der da drüben, den machen wir platt!“ Andere brüllen einfach rum. Unter intellektuell stell ich mir was anderes vor.
Ich stehe auf, räuspere mich und rufe:
„Hallo Herr Typhon, ich hab das Motorrad nicht geklaut, ganz ehrlich!“
Der Titan stampft auf mich zu. Die Erde erzittert unter seiner Last. Ein Koloss von zwanzig Metern Höhe verfinstert die Sonne.
Ein Drachenkopf mit Brille und Ziegenbart, er scheint der Verhandlungsführer zu sein, beugt sich zu mir herunter.
„Winzling“, sagt er majestätisch, „du steckst tief im Schlamassel.“
Immer noch besser als Lakritze. Mal versuchen, ob ich es mit labern hin krieg.
„Ich bin nur zufällig hier vorbei gekommen und hab mir gedacht: 'Dieses herrenlose Motorrad, das da so rumsteht, würde doch ausgezeichnet in die Sammlung des unbezwingbaren Typhon passen'. Welch freudiger Zufall also, dass Sie jetzt persönlich gekommen sind. Dann kann ich ja gehen. Also …“
„Schweig still!“, brüllt der mit der Brille. Er hat Ähnlichkeit mit dem Direktor meiner alten Schule. Oh Mann, jetzt merk ich‘ s: da sitzt ja das ganze Lehrerzimmer auf den Hälsen. Sogar Hansen, der Sportlehrer! Der hat mich noch nie leiden können.
„Lasst uns ihn auffressen, er geht mir jetzt schon auf die Nerven!“, ruft dieser.
„Das kann ich gut nachvollziehen, aber …“, ich füge eine dramatische Pause ein und gehe dabei bedeutungsvoll auf und ab, „ … aber ich gebe Ihnen zuvor noch etwas zu bedenken: Es ist nämlich so, dass sich dort oben in der Atmosphäre ein Cluster gebildet hat, der sich irgendwie in ein schwarzes Loch oder ähnliches verwandeln wird, und das alles und jeden – und somit auch Sie! – verschlingen wird, wenn nicht…“, ich erhebe feierlich Stimme, „ …wenn nicht ich, der intergalaktische Milchmann, durch das richtige Portal schreite und dem Ganzen Einhalt gebiete … noch dazu bleibt übrigens die Zeit nicht hängen!“
Dreißig Augenpaare mustern mich. Dann sagt der Professor – hatte ich den nicht in Deutsch? – mit Würde und Gelehrsamkeit in der Stimme: „Mein Lieber Milchmann, oder wie du dich zu nennen scheinst, das ist nun wahrlich die unglaubwürdigste Geschichte, die mir je zu Ohren gekommen ist. Man könnte meinen, du hättest dir ohne Plan und Richtung etwas zusammengereimt, es mit pseudowissenschaftlichen Begriffen gespickt, um den Ganzen eine Sci-Fi-Note zu geben und würdest dich nun von einem Kapitel ins nächste hangeln, ohne einen Funken Ahnung, wohin das letzten Endes führen soll.“
„Was für Kapitel?“
„Und dann dieser Heldenmythos. Wie oft hat‘ s das schon gegeben? Ist dir da wirklich nichts Besseres eingefallen?“
„Aber es muss doch immer einen Helden geben und … ich bin‘ s doch, der Milchmann“, schmolle ich.
„Das ist ein so erbärmlich schlechter Plot und ich kann mir nicht vorstellen, dass du so jemanden bei der Stange halten kannst. Mich hast du nicht überzeugt!“ Das reicht jetzt aber!
„Ja, Mann, ich hab‘ s kapiert! Und ich möchte nur mal so eben klarstellen, dass Ihr Gelaber weder was ändert noch jemanden nützt!“
„Diese Füllwörter, hör auf, hör bitte auf! Kommt Kollegen, diesem ist nicht weiterzuhelfen. Reine Zeitverschwendung, lasst uns verschwinden.“
Der Gigant erhebt sich und will sich aus dem Staub zu machen. Aber das kann ich jetzt nicht so stehen lassen.
„Hey, ich soll nicht glaubwürdig sein oder was? Scheiße, was bist du dann, mit deinen annähernd dreißig Köpfen und dummen Sprüchen? Eine Nebenrolle, ein aufgepumpter Komplex meines intellektuellen Versagens bist du! Komm schon, fress mich auf, wenn du es schaffst! Aber du kannst mich nicht mal anknabbern!“ Ich merke wie ich aus mich heraus wachse. Man bin ich drauf! Sicher ein Flashback von der Lakritze.
Tatsächlich, er bleibt stehen. Der Professorenschädel dreht sich zu mir um, schüttelt sich und macht nur „Z-z-z, wie erbärmlich!“.
Der nimmt mich nicht ernst! Ich bin doch auch wer! Milchmann oder nicht, jetzt lass ich‘ s krachen.
Da schwebt ein kleines Päckchen am Fallschirm vom Himmel. Ich fange es auf, darin ist ein Griff eingepackt und ein Zettel. Darauf steht: Jetzt bist du soweit! Grüße, Kadelen.
Ich umschließe feierlich den Griff mit beiden Händen. Eine gleißende, metallisch schimmernde Klinge erwächst aus ihm. Geil, ein Samuraischwert aus einer anderen Dimension!
Ohne weitere Anweisung begreife ich, was zu tun ist. Ich renne schreiend auf das Ungetüm zu, hole aus und lasse die Klinge durch die Sehnen seines linken Beins gleiten. Typhon jault. Immer wieder ramme ich das Schwert ins Bein, springe hoch und schaffe es so an Höhe zu gewinnen. Jetzt ist der erste Schädel dran. Zuerst verarbeite ich seine Ohren zu Filet. Violettes Blut schäumt aus den Wunden. Das Monster versucht krampfhaft mich loszuwerden, aber es ist immer ein Hals oder Schädel im Weg. Wie ein Mördermoskito setzte ich ihm zu, hiebe wie von Sinnen in sein Fleisch. Typhon brüllt und rast. Mein Katana pfeift durch die Luft.
Irgendwann lande ich keuchend auf dem Boden. Das Schwert ramme ich daneben. Ich bin mit Typhons violetten Lebenssaft getränkt, unbesiegbar und mit schier endloser Intelligenz beseelt.
Der Titan taumelt, gurgelt Blut, mit den meisten Hälsen unbekopft fällt er rücklings in die staubige Ebene. Ein letztes Mal hebt sich der geschundene Brustkorb und mit einem gestöhntem „Milchmann!“ die Seele zu entlassen. Typhon ist tot.
Was hab ich getan? Wie konnte es nur soweit kommen? Und, wie soll ich ihn jetzt nach den Portalen fragen?
Da höre ich ein leises Stöhnen. Es kommt von hinter dem mächtigen Leib her. Ich ziehe das Schwert wieder aus der Erde, schreite kampfbereit um das Ungetüm herum. Da, etwas entfernt, liegt ein einsamer Kopf. Er scheint noch zu leben.
„Milchmann“, presst er hervor. „Komm zu mir, Milchmann!“
Ich lasse die Waffe sinken und trete näher. Dieser Schädel hat Ähnlichkeit mit meinem Kunstlehrer, Herrn Kalowsky. Die Zunge hängt aus seinem riesigen Maul, doch er scheint zu grinsen.
„Herr Kalowsky, sind Sie es?“, frage ich.
„Du hast mich gerettet.“
„Hab ich das?“
„Ja, du hast mich befreit.“
Ich verstehe nicht. „Aber Sie werden doch sterben.“
„Besser einen Tod mit freiem Geist, als hundert Leben in geistiger Versklavung.“ Er hustet einige Male.
„Aber es wird für Sie enden, Herr Kalowsky! Sie werden zu Grunde gehen!“
„Kennst du nicht den Phönix, wie er sich aus seiner Asche erhebt und in unerreichte Höhen emporsteigt? Du hast mir diese tödliche Wunde zugefügt, doch nicht, um mich von meinem Dasein zu trennen, sondern vielmehr vom unnützen Wissen anderer und derer heuchlerischen Nachahmung. Jetzt koste ich die Süße meiner letzten Stunde mit dem Bewusstsein, dass das kranke System mich nicht bezwingen konnte. Diese Wunde ist die Pforte für meine Neuentwicklung und höhere Daseinsform. Du hast mir die Freiheit geschenkt, Milchmann.“
„Gern geschehen“, sage ich traurig. Ich merke wie alles verschwimmt. Jetzt bloß nicht flennen! „Sagen Sie mir Herr Kalowsky, sie haben doch nun freie Sicht, warum soll ich Portale finden?“
Der Schädel zittert, die dunklen Augen drehen sich nach oben, dass man nur das Weiße sehen kann.
Dann blickt er mich wieder an, auf eine Weise, als könne er tief in mir lesen.
„Sie stehen für deine Entscheidungen. Und es sind immer zwei, weil du ständig zwischen zwei Möglichkeiten wählst.“
„Warum dieses Entscheiden?“
„Damit du dich selbst erkennst.“
„Hmm und wenn ich mich selbst erkannt habe, wird das dann wirklich Auswirkungen auf‘ s gesamte Universum haben?“
Der Schädel verzieht das Maul zu einem Lächeln. Dann spuckt er lila Blut und flüstert mit letzter Kraft:
„Puffz.“
„Was?“
Shit, er ist hinüber.

Abenddämmerung

Und so richtig schlau wurd ich aus der Rede von Herr Kalowsky nicht. Oder, doch? Er hat die Portale als Möglichkeiten bezeichnet. Ich muss also alle Möglichkeiten meiner momentanen Situation abwägen und auf zwei Extremen stoßen, die sich dann als Portale materialisieren, von denen wiederum eines in eine neue Bewusstseinsschleife führt. Alles im Submodus meiner Wahrnehmung. Ganz klar.
Ich schaue in die flimmernde Weite des Horizonts.
„Was soll nur diese ewig sinnlose Schwarz-Weiß-Malerei?“, frag ich mich da. Scheiß System! Es lebe die Revolution!
Dann hebe ich langsam das Schwert, hole aus und werfe es mit aller Kraft gegen die Bläue des Himmels. Die wirbelnde Klinge zerschneidet ihn wie eine Leinwand. Was ist das? Dort ist ein Riss entstanden, aus dem es merkwürdig grünlich schimmert. Ich trete langsam näher und blicke hindurch.
Verwundert gaffe ich in eine riesige Halle mit Marmorsäulen. Die Decke glitzert und funkelt wie Weihnachtskram. Hunderte graue Anzugfuzzies eilen zu mir. Sie unterscheiden sich nur in den Hautfarben. Von grün, blau über orange ist alles vertreten. Einer fängt an zu klatschen und immer mehr stimmen ein. Bis auf den einen auf dem Boden. Er hat mein Schwert gefangen. Anscheinend war das mit dem Schwertwurf, mal abgesehen von dem Fänger, gar nicht so unrichtig.
Ich schlupfe durch den Spalt in der Realität. Ein Fuzzi mit einem Monokel tritt mit ausgetreckter Hand auf mich zu. Er sieht aus wie das Monopolymännchen.
„Ich beglückwünsche Sie, Herr Milchmann, ehrenwerter Retter des Gesamtreiches intergalaktischer Planeten und dritter Anwärterwelten …“
„Ach, sagen Sie einfach Milchmann zu mir …, Kadelen!“
Ich sehe, wie sie sich mit einem hellgrünen Festtagstrainingsanzug durch die Menge drückt. Bei mir angekommen fällt sie mir um den Hals. Wow, jetzt knutscht sie mich!
„Du hast es geschafft. Jetzt wird alles gut, Torben.“
Geschafft? Wieder einmal versteh ich nur Bahnhof. Wieder einmal ist‘ s mir wurscht.
Mhm, sie schmeckt nach Pfirsichen.
„Weißt du Kadelen, ohne dich würd ich immer noch in der Wüste stehen. Was hat es mit dem Schwert auf sich gehabt, dass du mir geschickt hast?“
„Welches Schwert?“, frägt sie. „Ich war das gar nicht … es war eventuell … genau, es wurde von den Tiefen deines Unterbewusstseins ausgelöst, aus der Wunschzwirbeldrüse. Der einzige Ausweg aus der Schicksalsschleife war, sie zu unterbrechen. Und das funktioniert hat nur, wenn du gegen die selbst aufgestellten Regeln deiner Wahrnehmung rebellierst.“
„Ja, ich das hab ich schon immer … Break on through to the other side, he-he. Übrigens, kann ich jetzt nie wieder Rockmusik hören?”
“Doch, aber du solltest vorsichtig sein, besonders in der U-Bahn. Torben …“ Ihre Stimme hört sich auf einmal traurig an.
„Ja, Kadlenchen?“
„Wir müssen uns verabschieden.“
„Wie? Jetzt gerade, wo es am schönsten ist?“
„Du kannst nicht hier bleiben.“
Das war ja wieder klar. Einmal der große Held sein, ne passable Freundin an der Seite und dann…
„Du weißt doch, dass du aus einer anderen Dimension stammst. Wenn du hier bleiben würdest, gäb es Turbulenzen in der Raum-Zeit, was zu irreparablen Schäden in beiden Welten führen könnte. Das gilt auch für mich.“
Sie senkt ihren Kopf. Der Pferdeschwanz schwingt traurig hin und her.
„Aber du kommst mich doch mal besuchen?“, murmle ich.
Jetzt schaut sie mir mit ihren Mandelaugen tief in die Seele und ich merke, dass wohl noch mehr gegangen wär.
„Wir können Ihnen nicht genug danken!“, meldet sich Monopolymann zu Wort. „Es kommt nicht das erste Mal vor, dass solch weitreichende Entscheidungen und verantwortungsvolle Aufgaben eines, nun ja, spezielleren Helden überlassen werden.“ Er kichert.
„Ähm, ich sag mal gern geschehen.“, erwidere ich. „Aber wenn ich mich so umschaue, läuft hier wohl genauso viel schief wie in meiner Welt.“ Er kichert wieder, aber diesmal aufgesetzt.
„Gut, Captain Kadelen, es wird Zeit!“, sagt er schnell.
Sie holt ein Kästchen aus ihrem kleinen Rucksack hervor. Es ist mit lila-schimmernden Holzrauten verziert.
„Dies ist das Portal, das dich in die Normalzeit zurückteleportieren wird“, sagt sie und zieht die Nase hoch. „Du musst nur deine Hand …“
„ … ich weiß, Kadlenchen.“ Ich nehm sie noch mal in den Arm und drück sie an mich. Dann hält sie mir das Kästchen mit geöffneten Deckel entgegen.
„Auf Wiedersehen, Milchmann“, sagt sie leise.
Ich lächle und sage: „Es war mir eine Ehre!“ Ohne zu zögern stecke ich meine Hand hinein. Ich bemerke, wie sich die Größenverhältnisse ändern. Das Kästchen wächst zur Truhe, die Umgebung schrumpft und schwindet. Alles scheint wie von einem Strudel dort ins Schwarze der riesigen Truhe eingesogen zu werden. Mein Arm wird länger und länger, schon kann ich meine Hand nicht mehr sehen. Alles schwindet und mit langgezogenem „Jippeyyyyyyy!!!“ stürz ich mich hinein.

Ein neuer Morgen bricht an

Es gibt Tage, die beginnen mit einem beherzten „Fuck!“.
Und leider kann ich mich auch am heutigen nicht dieses Kraftausdruckes verwehren. Was ein abgefahrener, höchst verwirrender Traum das war! Ich fühl mich dermaßen scheiße, dass mich jetzt nur eines retten kann: Der Gedanke an ein reichhaltiges Frühstück mit einem Glas frisch gepressten Orangensaft. Hä?
Ich hüpfe mit einem Satz aus dem Bett und befinde mich in Kampfstellung. Misstrauisch blicke ich umher. Irgendwas stimmt hier nicht. Keine Kleider auf dem Boden, gebügelte Vorhänge, eine neue Wandfarbe in mokka-pastell ... Ich eile ins Badezimmer und starre in mein neues, altes Selbst.
Wann war ich den beim Frisör? Und was soll dieser gestriegelte Hippsterbart, in dem noch mein Sabber klebt.
„Du siehst so … anders aus!“, sage ich mir, weil mir das gerade bewusst geworden ist. Sollte der Traum etwa doch …?
Ich eile in die Küche und lasse einen Schrei fahren: Dort an der Wand hängt das Samuraischwert, mit dem ich gestern das Universum gerettet hab.
Ich nehme es herunter und fühle wieder diese unerklärliche Kraft in mir aufsteigen. Alles um mich herum scheint zu glitzern.
„Na supi!“, denke ich mir.
Ich hänge es voller Ehrfurcht zurück, presse mir Orangensaft und ziehe mir einen Senseo. Ich lasse mich auf den braunen Stuhl nieder.
„Und was nun?“, frag ich mich. Mein Blick fällt auf die Zeitung von gestern.
Die Außenministerin aus Pandalusien war zu Gast bei der Merkel. Mhm, also irgendwo hab ich diesen Pferdeschwanz doch schon mal gesehen. Ich blicke aus dem Fenster und lächle bei den Gedanken an Kadelen. Was sie jetzt wohl gerade macht, einem anderen Trottel beistehen, der intergalaktische Katastrophen auslöst?
Ich seufze. Dann fällt mein Blick auf den Anzeigen Teil.
Da steht:

DU!

A-ja. Das war doch die seltsame Nachricht von Auge. Hmm, den Rest kann ich gar nicht entziffern, ist irgendwie verschwommen.
„Wer, ich?“

WER SONST?

Ah, ich hab es gestern genauso aktiviert. Eine interaktive Zeitungsbotschaft, sozusagen.
„Was geht, Auge?“, schmunzle ich.

ALLES BESTENS UND NOCH VIELEN DANK!

„Gern geschehen!“ An die Rolle des großen Wohltäters hab ich mich noch nicht gewöhnt.
„Kann ich dir sonst noch irgendwie weiterhelfen?“

TRIFF MICH HINTER DER LITFASSSÄULE UM FÜNF!

Das hätt er wohl gern, ist bestimmt eine Falle. Er möchte mir meinen Titel streitig machen. Aber warum eigentlich nicht? Ich hab ja jetzt Superkräfte. Wer‘ s mit einem Typhon aufnehmen kann, braucht diesen Typen nicht zu fürchten.
Also nicke ich und sag: „Okay, bis dann, Beelzebub.“

WER?

„Na, Teufel, Satan, Verführer, George Bush oder wie du dich gerade nennst.“

MEIN NAME IST JAQUES.

Ich zucke mit den Schultern. „Bis denn, Jaques.“
Wir haben jetzt kurz vor neun. Heute ist Freitag. Mal überlegen. Hab außer dem Fight mit Jaques nichts vor. Da fällt mein Blick auf den gelben Sack. Er steht brav in der Ecke. Mhm, die netten Innenraumdesigner haben ihn wieder hingestellt, er ist ja gestern umgefallen als ich die Zeitung …
Moment, worin lese ich gerade? Das Datum der Ausgabe: Donnerstag, der X. X, XXXX!
Ich runzle die Stirn, wie kann das sein? Haben die den Reset-Button gedrückt und der Tag beginnt von vorn? Ja, das könnte schon sein … aber was zum … dieses Datum auf der Zeitung?
„Ach egal“, murmle ich, zerknülle die Zeitung und probiere mein Glück.
Shit – daneben!

Ein Wiedersehen

Pfeifend laufe ich das Treppenhaus hinab. Mein Katana hab ich lässig auf den Rücken geschnallt Es wurde sogar eine Scheide mitgeliefert, auf der „Milchmann forever“ eingraviert ist.
Bin gespannt was Auge von mir möchte. Ich öffne die Haustür und springe gut gelaunt auf die Straße. Schönes Wetter heute. Obwohl, am gestrigen Heute war‘ s ziemlich bewölkt. Nicht schlecht, das Wetter können die also auch kontrollieren.
Nach ein paar Metern bleib ich stehen. Sogar meine Straße sieht verändert aus! Und was sind das für seltsame Leute, gestriegelt, braungebrannt und mit Tüten? Ich setzte meinen Weg fort. Irgendwas stimmt hier nicht. Keine Autos, Kein Vogelgezwitscher, nur das Trap-Trap der Schuhe und das Klock-Klock der Highheels. Haben die mich Tatsächlich nach Komparsenstadt zurückgeschickt? Naja, zumindest nicken die Leute mir jetzt zu. Sie scheinen mich zu kennen. Mein Blick streift eine riesige Werbefläche. Sie zeigt mein lächelndes Gesicht mit blinkendem Gebiss.
„Milchmann putzt mit dem neuen Blendadent-Hydrooxigen-System“. Tss, ich fahr mir mit der Zunge über die Zähne. Hmm, fühlt sich echt sanft an!
Da vorn geht‘ s runter zur U-Bahn. Am besten fahr ich ein paar Stationen, bis Destiny City. Die Litfasssäule werde ich schon finden, da mach ich mir keine Sorgen.
Unten angekommen, stell ich mich an den Bahnsteig. Noch 2 Minuten. Auf der Gegenseite bin ich wieder abgebildet. Ich stehe nur mit Lendenschurz bekleidet mein Schwert schwingend in der Steppe. A-ha, Unterhosenwerbung.
Der Zug rollt an, ich steige mit ein paar Komparsen ein und lasse mich auf einem freien Platz nieder. Den MP3-Player hab ich erst gar nicht mitgenommen, vorsichtshalber. Komisch, dass ich die U-Bahn nehme. Ich müsste doch dank der Werbeeinnahmen steinreich sein, da könnt ich mir ein fettes SUV-Flakschiff leisten. Automatisch greife ich in die Hosentasche zum Geldbeutel. Ganz schön fett fühlt sich er sich an. „What da fish!“, schreie ich, dass ein paar Komparsen zusammenzucken. Ein Bündel grüner Scheine lacht mir entgegen. Es scheint der Milchmann hat deftig Asche in der Tasche! Da wird er wohl heut noch ordentlich shoppen gehen. Auf der Anzeigetafel sind es noch drei Stationen bis Destiny City. Sollte ich Jaques versetzten und lieber gleich die Kohle auf den Kopf hauen? „Nee, als Milchmann hat man doch Verpflichtungen“, sage ich mir selbstgerecht.
Aus den Lautsprechern rieselt ein Song. Den kenn ich doch? Ist das nicht, o Mann, es ist der Rocksong von gestern. Ich sitze also wieder in der U-Bahn, höre diese Musik und starre auf den Pferdeschwanz von … „Kadelen!“
Sie ist es tatsächlich, sitzt mir gegenüber und guckt verblüfft. „Ähm, ja?“, sagt sie unsicher.
Erfreut setz ich mir zu ihr rüber. „Was machst du denn hier?“
Sie tut immer noch ganz erschrocken. „Woher kennst du meinen Namen?“
„Na, hallo? War das nicht was? Tag Iks, Universum retten uns so?“
„Ja aber, aber … “, stottert sie, „… um Gotteswillen!“
„Was ist denn“, frag ich gekränkt, keine Spur Wiedersehensfreude von ihr. Von wegen Frau für‘ s Leben.
„Da ist etwas ganz schief gelaufen“, sagt sie düster. „Die Schicksalsschleife …“
Plötzlich und zeitgleich erheben sich die anderen von ihren Plätzen und fangen an zu singen, wieder ist es eine Art Jingle.
„Was bist du – was bist du – was bist du …“
„Ich bin Torben Milchmann, Retter der Milchstraße!“, schrei ich genervt.
Aber es zeigt keine Wirkung. Im Gegenteil: Mein Geschrei hat es noch verstärkt, jetzt ziehen sie mit dem Tempo an.
„Hört doch auf ihr Idioten!“, rufe ich fassungslos. Dann greif ich Kadelens Hand und zieh sie hinter mir her, zwischen den singenden und tanzenden Zombies hindurch, bis ins nächste Zugsabteil.
 



 
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