Der Tag am Meer

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DER TAG AM MEER



Sonnenschein, blauer Himmel, warmer Sand unter nackten Füßen, die Kinder bei den Großeltern, meinen Mann allein für mich – kurz, ein perfekter Tag am Meer. Wie zwei Teenager im pubertären Dauerrausch der ersten Liebe springen wir in die Fluten, springen hinaus und wieder hinein; wir werfen einen bunten Ball hin und her, mit dem Enthusiasmus, der dem verspielter Hunde gleichkommt; wir lachen, kichern und albern herum, stundenlang, fühlen uns wie Kinder und genießen jede einzelne Minute davon.
Am Nachmittag, die Haut bereits gebräunt von der Morgensonne – ein gutes Mittagessen inklusive eines kleinen Verdauungsschläfchens liegen hinter uns, sind wir wieder unterwegs, bahnen uns einen Weg durch die Dünen, winken den Möwen zu, lieben das Leben und irgendwann am frühen Abend schließlich uns. Ausgiebig. Das hohe trockene Gras schaut uns zu, bewegt von einem leichten Wind, der sich kaum traut näher zu kommen. Es raschelt leise, die Halme flüstern einander zu. Die Zeit scheint eingefroren, der Alltag nahezu ausgelöscht und schließlich lieben wir uns erneut. Irgendwann liegen wir nebeneinander im Sand, unsere Blicke verfolgen ein winziges Flugzeug – Ziel unbekannt, unser Pulsschlag nutzt die Möglichkeit sich zu normalisieren. Die Sonne zeigt bereits leichte Tendenzen Richtung Horizont, während wir noch immer in Schweiß gebadet sind und über und über mit einem Sandfilm bedeckt daliegen.
„Wie zwei panierte Schnitzel nach einer Hormonbehandlung“, sage ich zu meinem Mann. Wir lachen. Schauen uns in die Augen. Der nächste Entschluß ist schnell gefaßt – wir schnappen unsere achtlos beiseite geworfenen Klamotten, laufen nackend die Düne hinab. Mein Mann rennt vornweg, ich johlend hinterher. Er verliert seine Shorts, bückt sich um sie aufzuheben Schon bin ich an ihm vorbei, jedoch nicht ohne ihm noch ordentlich eins mit der flachen Hand auf sein Hinterteil zu geben. Er schreit auf in gespieltem Schmerz. Kein Mensch weit und breit – und selbst wenn, egal, man lebt nur einmal. Ich werfe meine Sachen erneut in den Sand, mich selbst in das kühle Meer und den letzten Rest von Alltagsgedanken entgültig über Bord. Kaum ist mein Mann im Wasser und vier Hände voll Sekunden vergangen, haben wir beide wieder alle Hände voll mit uns selbst zu. Muscheln, Fische, Plankton, kommt alle her. Das menschliche Paarungsritual – in Ton und Farbe und ihr seid live dabei.
Was für ein Tag, an dem ein Höhepunkt den anderen jagt – sowohl, als auch. Vier Stunden noch bis Mitternacht, zweihundertvierzig Minuten – zweihundertvierzig kleine Kapitel im großen Buch des Lebens.
Mit roten Wangen kommen wir zurück in unser Ferienhaus, duschen schnell, ziehen uns um, betrachten einander, verlieben uns erneut, und schon sind wir wieder unterwegs. Es ist, als hätten wir die Sonne angezapft, pure Energie getankt, die unaufhaltsam durch unsere Blutgefäße strömt, jegliches Gewebe durchdringt, jede Zelle ausfüllt – und sei sie noch so klein und unbedeutend.
Abendessen im Fünf-Sterne-Restaurant, jeder Gang ein Gedicht aus Aromen, das Kerzenlicht spiegelt sich in unseren glücklichen Augen, leise Musik spaziert durch unsere Gehörgänge. Was gäbe ich für eine Welt, in der Sekunden so lang wie Stunden und Stunden so lang wie unvergeßliche Tage sind.
Den Magen gefüllt mit kulinarischen Besonderheiten geht es hinaus in die Nacht. Der Mond scheint hell, in runder Pracht, die Luft erinnert sich noch an den wolkenlosen Tag, Wärme spendend. Hand in Hand schlendern wir hinunter zum Strand, hören die Wellen rauschen. In der Ferne leuchten Lichter vereinzelter Schiffe, dreht der Lichtkegel eines Leuchtturms einsam seine Runden, glitzern Sterne auf dem schwarzen Samt des Universums. Man möchte die Arme ausstrecken und die ganze Welt umarmen, alle Eindrücke und Empfindungen komprimieren, in die Tasche stecken für andere Zeiten, um sie dann wieder hervorzuholen und sich zurückerinnern.
Zurückerinnern an den Tag am Meer.
... an den Tag am Meer.
... den Tag am Meer.
... Tag am Meer.
... am Meer.
... Meer.
„ ... bekommst du nicht“, ruft Mikes neunjährige Stimme, höchstens zwei Meter von meinen Ohren entfernt.
„Gib sie wieder her“, ruft Karens siebenjährige Stimme daraufhin, vielleicht einen Meter von mir entfernt.
Meine Augenlider zucken, mein Bewußtsein schaltet widerwillig auf „Wach“.
„Mami.“ Karens Stimme, laut, einen Kinderschritt entfernt vom Tränenausbruch. „Sag Mike er soll mir den Gameboy wiedergeben.“ Langsam öffnet sich mein linkes Lid einen schmalen Spalt, gerade weit genug, um den beiden Störenfrieden zu zeigen, daß meine Aufmerksamkeit ihnen gehört, und andererseits gerade weit genug, um vielleicht noch einen letzten sehnsüchtigen Blick auf das nächtliche Meer zu erhaschen.
„Hol ihn dir doch“, frohlockt Mike, den umkämpften Gegenstand hochhaltend, breit grinsend, ganz der Sieger mit seiner Ich-ärgere-gerne-meine-jüngere-Schwester-Miene. Dann rennen beide um das Sofa auf dem ich ausgestreckt liege, mit einer aufgeschlagenen, vergessenen Zeitschrift auf dem Bauch.
Das Meer ist verschwunden, mit ihm die Lichter, die Sterne, der Strand.
Eine Ahnung von Ärger durchzieht meine Stimme. „Mike, gib deiner Schwester den Gameboy und dann raus hier ihr beiden. Gönnt eurer Mutter mal ein paar Minuten Ruhe.“ Mike protestiert. „Aber Mutti, Karen hat die ganze Zeit damit gespielt.“ Ich erhebe meine Stimme noch ein bißchen, ergreife ihn am Pulli. Der Gameboy wechselt den Besitzer. Die Kinder verlassen den Raum.
Ich bin wieder allein.
Eine Idee schießt mir durch den Kopf.
Rache.
Schnell lege ich die Zeitschrift beiseite, stehe auf, eile zur Tür. Nun bin ich es die breit grinst - und mein Gesicht zeigt die beste Version meiner Kinder-ich-habe-da-eine-Überraschung-für-euch-Miene.
„Kinder“, rufe ich, „wie wär´s denn mal wieder mit einem Wochenende bei euren Großeltern?“
Und plötzlich ist da wieder diese unverwechselbare Musik des Meeres.



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Frank Zimmermann

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Ein Text wie ein Kurzurlaub

Den Text zu lesen ist ein wahrer Genuß! Bei dem fiesen grauen Wetter da draußen habe ich mich für Minuten gefühlt wie bei einem Kurzurlaub. Die Wendung im letzten Drittel hat dann noch dafür gesorgt, daß der Text nicht wie ein allzu glattes Klischee aus der Werbewelt wirkt. Wirklich sehr, sehr schön! Liebe Grüße an die Oma und die Kleinen - und viel Vergnügen, wenn du deinen Traum auslebst. ..."denn es macht uns zu Brüdern, mit dem Tag am Meer"...
 

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Hallo Frank ...

... danke für Dein sehr positives Feedback. Die Geschichte zu schreiben hat sehr viel Spass gemacht - vor allem, wenn man bedenkt, dass ich zwar verheiratet bin, aber keine Frau bin und auch keine Kinder habe, daher kann ich leider die Oma nicht grüssen ;-)
 
Wetterwechsel

Genau die richtigen Worte für einen
mausgrauen deprimierenden Sonntag.
Aus deiner Geschichte "regnet" Sonne, Meer,
Strand und Vorfreude auf den Urlaub in mein Gemüt.

Danke für schönen Zeilen !

Norbert
 



 
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