Der Tag davor

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werman

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Die Welt war stets in Bewegung, das wusste er. Der Tag wurde zur Nacht, ein Samen zu einer Pflanze und der Sommer wich dem Herbst. Doch wer konnte schon wissen, wann der letzte schöne, unbeschwerte Sommertag verflogen war. Und vor allem, wer wollte das wissen?
Die wenigsten wollten an einem jener glanzvollen Tage daran denken, dass am nächsten Morgen bereits der dunkle Herbst anklopfen könnte. Er jedenfalls lebte nach diesem Motto der Ausblendung, ja der Ignoranz gegenüber unangenehmen Zukunftsaussichten. Im Moment leben, das Leben ohne Hintergedanken geniessen, das war, was er wollte. Da der Herbst aber keine Rücksicht auf ignorante Schöngeister nahm und rücksichtslos wie ein Kriegsherr das Land einnahm, sass er nun da, sein ängstlicher Blick unruhig durch den Saal wandernd. Sein Gesicht war fahl und der Glanz, der noch vor nicht allzu langer Zeit in seinen Augen lag, war verschwunden. Der Raum war voll mit Menschen und doch so gespenstisch still, dass es ihn förmlich erdrückte. Es fiel ihm schwer, seinen Erinnerungen zu glauben, die ihm sagen wollten, dass die Luft desselben Raumes von Lebensfreudigkeit in Form von einer fantastischen Geräuschkulisse geschwängert war. Und er war mittendrin. Endlich war es da Sommer geworden und er hatte endlich seine Schulzeit abgesessen. Die Nachmittage am See, die Abende in der pulsierenden Stadt. Die Welt hatte ihm offen gestanden, doch nachdem sie ihn kurz von ihren wundervollen Früchten probieren liess, schlug sie ihm die Tür gleich wieder vor der Nase zu. Er verfluchte sie dafür.
Er sass am Tisch mit seinen Kameraden und auch sie schwiegen. Es gab nichts zu sagen. Zwischen ihnen lag unglaublich schwer die unausgesprochene Tatsache, dass Morgen Tag X war. Morgen würden sie einrücken und ihr Vaterland verteidigen, indem sie nicht mal zwei ganze Jahrzehnte gelebt hatten. Seine Gedanken machten ihn wahnsinnig, er musste sich ablenken. Er stand auf und ging nach draussen, wo er von einem kalten Luftzug empfangen wurde. Er hatte Angst, er war sich sicher, dass er den Krieg nicht überleben würde, er war keine Kämpfernatur.
Um seine letzte Nacht in Freiheit wenigstens ein bisschen erträglicher zu machen, beschloss er die Opiumhöhle aufzusuchen, die er durch seinen Vater entdeckt hatte, dem er einmal heimlich gefolgt war. Seit seine Mutter bei seiner Geburt verstarb, war sein Vater schwer abhängig. Er trat ein, doch wurde gleich beim Eingang dazu angehalten, wieder zu gehen. „Mach, dass du wegkommst Junge, das willst du nicht sehen.“ Was denn los sei, fragte er besorgt. „Der Alte hat überdosiert und ist gestorben. Ich habe es kommen sehen, es musste so enden.“ Sein Herz rutschte ihm in die Hosen. Obwohl er es nicht wollte, schnellte der Gedanken in seinen Kopf, dass sein Vater tot war. Er stürzte die Treppe hinunter und sah seine schlimmsten Befürchtungen wahr geworden. Sein Vater lag reglos da.
Er wusste nicht, wie lange er neben seinem toten Vater sass. Zuerst weinte er, doch irgendwann fühlte er gar nichts mehr. Es war alles gleichgültig. Er hatte keine Angst mehr zu sterben, er war schon tot. Er hörte die Glocke schlagen, es war Zeit aufzubrechen.
 



 
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