Der Tai Chi Meister

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Der Tai Chi Meister


Früher einmal waren es Prachtstraßen gewesen. Warum auch sonst hießen sie noch heute alle Boulevard? Aber im Laufe der Jahre ersetzten sie ihre Pracht durch ein lebendiges Lokalkolorit. Und wenn sich dann das Tageslicht so weit zurückzog, dass die Straßenlaternen die Herrschaft über das Licht übernahmen, dann wurde es gemütlich. Dafür sorgten allein schon die bunt angezogenen Damen, die vor den Geschäften flanierten und die Gehsteige in viele kleine Reviere aufgeteilt hatten. Dort gingen sie nun auf Pirsch oder stellten ihre Fallen oder lagen einfach nur auf der Lauer, wo sie auf eine gute Gelegenheit warteten. Für die Fremden, die sich gern hierhin verirrten, gab es Vieles zu bestaunen. Wie zum Beispiel einen alten Chinesen, der zweimal in der Woche den Boulevard entlangschlenderte.

Selbst für einen Chinesen war er recht klein geraten. Mag sein, dass es am Alter lag und er über die Jahre geschrumpft war. Man sagte ihm nach, dass er einmal ein berühmter Statthalter in Shanghai gewesen sein soll, mit einem echten General als Leibwächter. Aber das waren wohl Gerüchte. Freunde aus der chinesischen Kolonie sprachen über ihn nur als den Unsterblichen. Doch wohl mehr, um ihn zu ehren, als dass da außer seinem hohen Alter etwas dran gewesen wäre.

Wenn er den Boulevard entlangging, reagierte er auf die Annäherungen der Damen immer mit einem freundlichen Lächeln und einem leichten Schütteln des Kopfes. Er musste oft mit dem Kopf schütteln, denn, was die Frauen an dem alten Mann so unwiderstehlich anzog, war die genarbte braune Brieftasche, die, zum Bersten gefüllt, aus der Gesäßtasche herausschaute. Ein Leckerbissen für jeden Taschendieb, der etwas auf sich hielt. Es dauerte daher auch gar nicht lange, bis die eine oder andere Dame ihn bis zur Grenze ihres Reviers ein paar Schrittchen begleitete. Sie streichelten ihm über den Arm, nannten ihn Alterchen oder mein Lieber und, wenn sie sich dann an ihn schmiegte und süße Laute gurrte, kam es schon mal vor, dass sich eine Hand in unanständig tiefe Regionen verirrte. Aber, als wenn der kleine Chinese Augen in seinem faltigen Hintern gehabt hätte, schwang er jedes Mal seine Hüften rechtzeitig zur Seite, und die spitzen Finger griffen ins Leere und mussten auf die erhofften Nebeneinkünfte verzichten.

Selbst Gruppen von zwei oder gar drei Damen entkam er. Der Hintern ruckte und kreiste, zuckte und schüttelte sich, dass es eine Pracht war und mancher jungen Tänzerin zur Ehre gereicht hätte. Die Gesichter der Damen verfinsterten sich mehr und mehr zu nächtlicher Düsternis. Übrig blieben Verärgerung und am Ende sogar so etwas wie Feindseligkeit.

So war am Ende niemand wirklich überrascht, als sich irgendwann zwei weiße und zwei schwarze Mädchen zusammenfanden. Die erste trat ihm von vorn entgegen und stoppte seinen Schritt, die zweite hängte sich ihm in den Arm, die dritte kam von der Seite und schlug ihm auf den Kopf und die vierte zog ihm die Brieftasche aus der Hose. Dann klapperten vier Paar Absätze eilig davon.

Dem kleinen Chinesen war nicht viel passiert. Den Schlag auf den Kopf hatte er leicht abwehren können und aus den Umarmungen hatte er sich herausgedreht. Aber es ließ sich nicht ändern. Seine Brieftasche war weg.

Er drehte sich gelassen zu einer der Zuschauerinnen um, die, obwohl die ruchlose Tat in fremdem Revier begangen worden war, unbeteiligt in den Toreinfahrten standen. Und dann sagte er, als ginge es um keine große Sache:
„Ich komme übermorgen Abend zurück. Das Geld können deine Schwestern behalten. Das meiste war ohnehin nur Papiergeschnipsel. Den Zettel, den sie in der Brieftasche finden werden, sollen sie wegwerfen, denn sie haben ihn nicht verdient. Die Brieftasche aber möchte ich zurück. Zwar ist sie nicht viel wert, aber so viele habe ich nicht mehr davon.“

Damit ließ er die Dame zurück, die ihm teilnahmslos nachblickte. Noch nicht einmal ihre Kiefer hatten das unermüdlich kreisende Mahlen auf dem Kaugummi unterbrochen.

Wie angekündigt ging der alte Chinese am übernächsten Abend die Straße entlang, so als ob nie etwas geschehen wäre. Anstelle seiner Brieftasche verzierte das Gesäß nun ein mächtiges Portemonnaie, das nicht weniger prall gefüllt war als die Brieftasche vor zwei Tagen. Niemand folgte ihm. Alle ließen ihn passieren, bis er das Revier betrat, in dem zuvor der Angriff stattgefunden hatte.

„He Wackelarsch!“

Aus dem Schatten einer Tür löste sich ein roter Minirock, und eine Hand überreichte ihm seine Brieftasche. Den Glanz der prallen Fülle hatte sie verloren und sah nun schlank und elegant aus. Der alte Chinese streichelte sie wie eine verlorengegangene und wiedergefundene Freundin, öffnete sie bedächtig und fand in ihr zehn Dollar und einen Zettel mit den in seiner eigenen Handschrift geschriebenen Worten „Ich gratuliere!“

„Das Zeitungspapier haben wir weggeworfen“, flüsterte eine heisere Stimme, der zu viel Alkohol und Drogen ihren ursprünglichen Charme genommen hatten.

„Ab morgen Abend wird jede hier versuchen, dir die Brieftasche abzunehmen. Einzeln oder als Pärchen. Da laufen jetzt hohe Wetten. Also pass gut auf. Ich habe auf dich gesetzt, Wackelarsch. Mach mir nur keine Schande, oder ich schlage dir den Schädel ein.“

Der kleine Chinese lächelte chinesisch. Er würde es ihnen schon schwer machen.
 

IDee

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Tai Chi Meister

Hallo,
habe Deine Geschichte gerade gelesen. Die Story an sich gefällt mir recht gut. Mir persönlich ist es allerdings zu sehr erzählt.
Dadurch kommt zu wenig Spannung und Aktion in die Geschichte.
Beste Grüße
IDee
 
U

USch

Gast
Hallo Avatar,
ich finde die Beschaulichkeit und Ruhe, mit der sich die Geschichte langsam entwickelt, sehr gelungen. Er ist Tai-Chi-Meister und das gibt der "Sound" der Geschichte gut wieder.
Chapeau.
LG USch
 

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Danke für eure Kommentare,

Aktion oder Spannung war es in der Tat nicht, was diese Geschichte transportieren sollte, sondern dass Tai Chi eine ständige Herausforderung ist und eine bestimmte Lebenshaltung benötigt. Ungewöhnlich und damit erzählenswert ist, dass diese nach innen gerichtete Kampftechnik nun Gegenstand einer Wette ist. Und der Meister spielt mit.

Liebe Grüße
vom
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