Nach neun schon. Egal. Das weiß ja niemand. Die Sonne fiel tanzend durch das Lindenblätterdach, tanzte goldgelbe Flecken an die Zimmerwand; das leise Rascheln der Blätter, im Hintergrund Großstadtlärm. Hilde schlug die Bettdecke zurück. Nackt? Ich bin ja nackt. Ach ja, erinnerte sie sich mühsam. Das umgekippte Rotweinglas. Sie war in der Nacht aufgewacht, da sangen die Vögel schon. Am Abend trank Hilde die Flasche nicht ganz aus, ließ genug übrig, um gewappnet zu sein. Es war so eine Angewohnheit. Seit einiger Zeit. Irgendwie ist das Glas dann umgekippt, ich weiß auch nicht wie. Alles auf den Sessel. Das Nachthemd ist sowieso schon alt. Kein Problem, ich habe noch welche – und wenn ich mal wieder in die Stadt komme, dann kaufe ich mir halt ein neues.
Das Telefon klingelte. Soll es doch. Hilde nahm den getränkten Lumpen auf, wischte noch einmal über getrocknete Flecken – vergebens - und trug ihn dann in die Küche zum Müll.
„Hallo? Ach Schwester, du bist es. Nein, nein, mir geht es gut. Sehr gut sogar. Keine Sorge. Ich putze gerade... Du willst vorbeikommen? Klar, warum nicht. Gibt es etwas Besonderes? Einfach nur so? Um 11:00 Uhr? Bärbel, das geht auf gar keinen Fall. Um 11:00 Uhr habe ich einen Termin... Einen Termin halt – du musst auch nicht alles wissen. Komm doch heute Nachmittag, sagen wir nach drei? Also, bis dann.“
In den Sachen vom Vortag stand Hilde am Spiegel und kämmte ihr Haar. Für 65 sehe ich noch ganz gut aus, oder? Zum Frisör müsste ich mal, das ist richtig. Aber nicht jetzt. Jetzt geh ich mal einkaufen. Und wenn ich wiederkomme, schneide ich mir als erstes die Fingernägel. Und Wäsche waschen? Mache ich morgen. Oder übermorgen.
Die Frau sackte drei leere Weinflaschen ein, mehr waren es nicht, nahm den Schlüssel vom Haken und machte sich auf den Weg.
Am Glascontainer kam ihr der Tangomann mit seinem Hund entgegen. Ein schlanker, freundlicher Herr in ihrem Alter, schlohweißes Haar und immer adrett gekleidet. Früher wäre er sicher eine gute Partie gewesen.
„Na, Herr Nachbar, wieder tanzen gewesen?“
„Heute Abend erst, Teuerste. Und wie immer will ich Sie überreden, mich zu begleiten. Sie werden sehen, der Tango verzaubert Sie, weckt neue Lebenskraft – und hält jung…“
Dabei schmunzelte er schlau und zwinkerte ihr zu. Hilde winkte ab. Niemals wird sie mit ihm zum Tanzen gehen: erstens gibt es da nichts zu trinken und zweitens könnte er etwas riechen. Das will sie nicht. Nicht, dass über sie gesprochen wird.
„Irgendwann mal werde ich Sie begleiten. Versprochen. Aber heute kommt meine Schwester, die ist nicht einfach. Und wie ich sie kenne, wird sie ewig bleiben und mich zuquatschen…“
„Zuhören, aktives Zuhören Frau Wenger. Da vergeht die Zeit viel schneller – und Ihre Schwester fühlt sich verstanden.“
„Mach ich doch immer“, rief Hilde ihm nach, leerte ihren Beutel und setzte sich wieder in Trapp. Teuerste hat er gesagt. Wie das klingt. Als ob er etwas von mir will, der alte Bock. Geht doch nur zum Tango um Mädchen aufzureißen. Obwohl? Warum eigentlich nicht?
Vor dem Weinladen schaute sie auf die Uhr. Drei nach elf. Er müsste eigentlich schon offen sein, schon drei Minuten.
„Guten Morgen Frau Wenger, seien Sie herzlich willkommen!“ Der Weinhändler lief zum Regal und fragte über die Schulter:
„Wie immer?“
„Nein, Herr Pichel, heute bekomme ich Besuch, da brauche ich noch einen Sekt dazu – am besten einen Rosé“
„Drei Flaschen Chateau Lajarre und eine Flasche Charles Ranville. Macht 29,85 EUR.“ Der Weinhändler sah in erschrockenen Augen.
„Was ist? Heute kein Geld dabei?“
„Doch! Ich bin mir sicher, dass ich den Geldbeutel eingesteckt habe. Vielleicht ist er heraus gefallen?“
„Frau Wenger, ist doch kein Problem. Dann bringen Sie es mir morgen mit. Wir verlieren uns schon nicht, oder?“
Suchend ging die Frau den Weg zurück. An den Containern schaute sie besonders aufmerksam, doch auch hier erfolglos. Die letzte Querstraße. Gleich war Hilde zu hause. Ein riesiger Schreck durchzuckte sie. Da stand ihre Schwester. Die blöde Kuh! Was will die jetzt schon hier? Hilde drehte sich abrupt um und wollte weg laufen, irgendwohin. Vielleicht hat sie mich ja noch nicht gesehen? Doch da winkte die Schwester schon und kam ihr entgegen. Lief hinterher.
„Hallo? Wohin willst du denn? Haust du vor mir ab?“
Hilde tat erstaunt und drehte sich um: „Die Stimme kenne ich doch. Bärbel, du? Was machst du denn schon hier?“
„Ich mache mir Sorgen! Was war das für ein Termin? Bist du krank? Und wieso haust du vor mir ab?“ Bärbel baute sich vor Hilde auf und schüttelte verständnislos den Kopf.
„Wieso abhauen? Ich glaube ich habe mein Portemonnaie liegen lassen. Ich muss noch mal zurück.“
„Zeig mal her!“ Bärbel nahm Hilde energisch den Beutel aus der Hand.
„Hast du eine Hochzeit auszustatten? Was willst du mit dem ganzen Wein? Das war also dein 11:00 Uhr Termin? Beim Weinhändler?“
„Ach, der ist doch nicht für mich. Oder sagen wir nicht nur. Beim Sekt habe ich sogar an dich gedacht. Da staunst du, was?“, druckste Hilde herum.
„Also, was für ein Termin?“
„Musst du immer alles so genau wissen? Neben dem Weinhändler ist die Praxis von Dr. Klingenberg. Dem Zahnarzt, du weißt schon. Von dem habe ich doch schon erzählt. Und seine Praxis war zu. Ein Schild vor der Tür: wegen Krankheit geschlossen. Kann ich doch nicht riechen, oder?“
Die beiden Frauen gingen palavernd die Straße hinauf, hinauf zum ansehnlichen Gründerzeithaus. Blütenduft umwehte sie, Bärbel atmete ihn tief ein, Hilde seufzte dazu. Da war es wieder, das Ziehen in ihrer Brust, das die aufkommende Unruhe ankündigte. Wie ein leises Dröhnen, ab jetzt immer zugegen, immer präsent. Ihre Gedanken organisierten den nächsten Schluck. Ich muss die blöde Kuh ablenken, irgendwie.
Bärbel blieb vor dem Haus stehen und schaute hinauf:
„Da musst du aber was machen, da am Dach. Siehst du, da fehlen einige Ziegel.“
„Wo?“
„Na da an der Seite, wenn der Regen von dort kommt, regnet es rein… Ich hasse Vater immer noch dafür, dass er dir dieses Schmuckstück vermacht hat.“
„Na und? Ganz leer ausgegangen bist du doch auch nicht, oder?“
Etwas später standen die Schwestern in der Küche. Den Vierflaschenbeutel hatte Hilde im Flur deponiert - von da aus ließen sich die Dinger gut verteilen. Bärbel legte den Arm um Hilde, ging mit ihr in die Küche und stutzte:
„Hattest du nicht gesagt, du hättest geputzt? Sieht eher aus, wie nach einer Feier... Und eine Fahne hast du auch noch. So wolltest du zum Zahnarzt?“
„Tja. Na ja, also der Tangomann war gestern da. Da haben wir halt etwas gegessen – und auch ein Gläschen getrunken.“
„Der Tangomann? Du und Männerbesuch? Das glaub ich jetzt nicht. Du hast noch nie von ihm erzählt! Wer ist der Tangomann? Wie sieht er aus, wie alt?“
„So alt wie ich, denke ich. Ich habe ihn nicht gefragt. Und gut sieht er aus, was dachtest du denn. Das ist ein Mann mit Stil, der würde nie Stunden vor dem Termin erscheinen.“ Hilde wand sich aus der Umarmung und setzte sich auf einen Stuhl. „Und Augen hat er – stahlgrau. Und wie sie leuchten, wenn er von seinem Tango erzählt…“
Bärbel lehnte mit verschränkten Armen am Küchenschrank und machte große Augen. „Und weiter? Ich meine wie ist er so? Komm erzähl schon und lass dir nicht jedes Wort aus der Nase ziehen!“
Hilde lächelte versonnen. „Was meinst du? Er liebt Musik, Mozart glaub ich. Oder war es Beethoven? Und er mag es, wenn ich ihn dabei etwas erforsche. Nichts weiter.“
„Nein! Das glaube ich jetzt nicht, du hast mit ihm schon… Oh Gott! Und das in deinem Alter!“
„Erforscht hab ich ihn, sonst nichts. Bist du etwa neidisch? Ich habe ihm gefragt, ob ich mal sein Rasierwasser aus der Nähe riechen dürfe. Er hatte nichts dagegen.“
„Und was hast du ihn noch gefragt?“ Bärbels Gesichtsfarbe konnte sich nicht entscheiden: bleich, rot, bleich mit roten Flecken. „Komm, erzähl schon, bitte!“
„Ich habe ihn gefragt, ob ich mal probieren könne, na du weißt schon – unter dem Hemd und so. Da sind die Haare ganz weich, allerdings schon so weiß wie das Fell von einem Schimmel.“
„Du hast ihm das Hemd aufgeknöpft? Einfach so? Ja sag mal, was bist du nur für eine Schlampe, so kenne ich dich doch gar nicht. Kommt daher und knöpft dem Tangomann das Hemd auf. Ich muss schon sagen – je oller, desto doller. Pfui!“
„Was regst du dich so auf! Bis dahin war doch noch gar nichts passiert – das kam dann erst noch.“
„Du hast ihm noch mehr aufgeknöpft, stimmt’s?“
„Davor habe ich ihm die Socken ausgezogen und probiert, ob er kitzlig ist.“
„Und?“
„Er saß da, mit geschlossenen Augen und hat gelächelt. So richtig kitzlig ist er nicht, jedenfalls da nicht...“
„Und hast du nun mit ihm…?“ Bärbel fragte das vorsichtig, mit leiser Stimme – so als ob sie die falsche Antwort nicht ertragen könne.
„Nein, wenn es dich beruhigt. Ich dachte, ich hätte ihn fest im Griff, jedenfalls fühlte es sich so an. Doch dann kam der Schlussakkord und die Musik war zu Ende. Er schlug die Augen auf und fragte beim Zuknöpfen: ‚Wie fanden Sie den 4. Satz, Teuerste? Ich meine das Allegro assai erfordert doch ein schnelleres Tempo? Finden Sie nicht auch?’“
„Die Musik war zu Ende???“ Die Schwester konnte sich das Lachen nicht verkneifen, lief ins Wohnzimmer und rief durch die offenen Türen: „Was habt Ihr denn gehört? Allegro assai im 4. Satz? Klingt nach Mozarts vierzigster. Man, die dauert noch nicht mal ‚ne halbe Stunde!“ Triumphierend kam sie zurück und hielt eine CD-Box in die Höhe. „Das hier hättest du nehmen sollen! Tristan und Isolde – da dauert der erste Akt schon mal doppelt solange!“
Noch immer schmunzelnd drehte Bärbel sich zur Spüle, ließ nebenbei Abwaschwasser in das Becken und murmelte „Hier gehört mal richtig sauber gemacht, ich darf doch?“
Das war Hildes Chance. Sie ging in den Flur und kam mit dem Sekt und einer Flasche Rotwein zurück. Den Sekt in den Kühlschrank, den Wein in den Schrank. Die zwei anderen ins Schlafzimmer. Am besten hinter den Nachttisch, da kommt die nie drauf.
Mittag. Die Frauen kochten von dem was vorrätig war - Kartoffelpuffer und Apfelmuss. Schweigend. Hilde spürte den ungläubigen Blick ihrer Schwester: „Was?“ fragte sie gereizt.
„Wie was?“
„Warum starrst du mich so an?“
„Ich starre nicht, wenn überhaupt, dann schaue ich dich an.“
„Klar starrst du! Wie ein geparktes Auto.“
Hilde sehnte sich ins Schlafzimmer, zog sich auch schon bald - halb entschuldigend - zum Mittagsschlaf zurück. Kurz darauf lag sie gut abgefüllt und schnarchend auf ihrem Bett. Sie hörte im Halbschlaf das Klingeln an der Tür, hörte Bärbels Rufen, drehte sich zur Seite und schlief wieder ein.
„Guten Tag, mein Name ist Carlos, Felipe Carlos. Ich würde gern Frau Wenger sprechen.“
Babara stand in der Tür und ahnte, wer da vor ihr stand.
„Ach kommen Sie doch herein. Wir gehen am besten ins Wohnzimmer. Meine Schwester schläft nämlich tief und fest. Was möchten Sie denn von ihr?“
„Nun ja, wenn Sie die Schwester sind… Und eine gewisse Ähnlichkeit können Sie nicht leugnen. Wie gesagt, ich traf ihre Schwester heute Morgen und habe Sie zum Tanzen eingeladen. Möglicherweise hat sie das so sehr verwirrt, dass sie nicht bemerkte, wie ihre Geldbörse heraus fiel. Ich ja zunächst auch nicht, doch ich bin mit dem Hund da noch mal vorbei… Hier ist sie jedenfalls. Ich darf sie einer so schönen Frau wie Ihnen doch anvertrauen?“
„Setzen Sie sich doch! Ich heiße übrigens Babara. Ein Gläschen Sekt?“
„Ja, ja. Warum nicht. Ist es nicht noch etwas früh dafür?“
„Ach was“, tönte es aus der Küche, „Sekt passt zu jeder Tageszeit. Lieben Sie Mozart?“
„Wie meinen Sie?“
„Mozart? Ob Sie den gerne hören, meine ich.“
„Ach so, ja natürlich. Mozart war ein Genie!“
„Und Wagner?“
„Ich weiß jetzt nicht, warum Sie das fragen… Wagner muss man mit geschlossenen Augen hören, finden Sie nicht?“
Das Telefon klingelte. Soll es doch. Hilde nahm den getränkten Lumpen auf, wischte noch einmal über getrocknete Flecken – vergebens - und trug ihn dann in die Küche zum Müll.
„Hallo? Ach Schwester, du bist es. Nein, nein, mir geht es gut. Sehr gut sogar. Keine Sorge. Ich putze gerade... Du willst vorbeikommen? Klar, warum nicht. Gibt es etwas Besonderes? Einfach nur so? Um 11:00 Uhr? Bärbel, das geht auf gar keinen Fall. Um 11:00 Uhr habe ich einen Termin... Einen Termin halt – du musst auch nicht alles wissen. Komm doch heute Nachmittag, sagen wir nach drei? Also, bis dann.“
In den Sachen vom Vortag stand Hilde am Spiegel und kämmte ihr Haar. Für 65 sehe ich noch ganz gut aus, oder? Zum Frisör müsste ich mal, das ist richtig. Aber nicht jetzt. Jetzt geh ich mal einkaufen. Und wenn ich wiederkomme, schneide ich mir als erstes die Fingernägel. Und Wäsche waschen? Mache ich morgen. Oder übermorgen.
Die Frau sackte drei leere Weinflaschen ein, mehr waren es nicht, nahm den Schlüssel vom Haken und machte sich auf den Weg.
Am Glascontainer kam ihr der Tangomann mit seinem Hund entgegen. Ein schlanker, freundlicher Herr in ihrem Alter, schlohweißes Haar und immer adrett gekleidet. Früher wäre er sicher eine gute Partie gewesen.
„Na, Herr Nachbar, wieder tanzen gewesen?“
„Heute Abend erst, Teuerste. Und wie immer will ich Sie überreden, mich zu begleiten. Sie werden sehen, der Tango verzaubert Sie, weckt neue Lebenskraft – und hält jung…“
Dabei schmunzelte er schlau und zwinkerte ihr zu. Hilde winkte ab. Niemals wird sie mit ihm zum Tanzen gehen: erstens gibt es da nichts zu trinken und zweitens könnte er etwas riechen. Das will sie nicht. Nicht, dass über sie gesprochen wird.
„Irgendwann mal werde ich Sie begleiten. Versprochen. Aber heute kommt meine Schwester, die ist nicht einfach. Und wie ich sie kenne, wird sie ewig bleiben und mich zuquatschen…“
„Zuhören, aktives Zuhören Frau Wenger. Da vergeht die Zeit viel schneller – und Ihre Schwester fühlt sich verstanden.“
„Mach ich doch immer“, rief Hilde ihm nach, leerte ihren Beutel und setzte sich wieder in Trapp. Teuerste hat er gesagt. Wie das klingt. Als ob er etwas von mir will, der alte Bock. Geht doch nur zum Tango um Mädchen aufzureißen. Obwohl? Warum eigentlich nicht?
Vor dem Weinladen schaute sie auf die Uhr. Drei nach elf. Er müsste eigentlich schon offen sein, schon drei Minuten.
„Guten Morgen Frau Wenger, seien Sie herzlich willkommen!“ Der Weinhändler lief zum Regal und fragte über die Schulter:
„Wie immer?“
„Nein, Herr Pichel, heute bekomme ich Besuch, da brauche ich noch einen Sekt dazu – am besten einen Rosé“
„Drei Flaschen Chateau Lajarre und eine Flasche Charles Ranville. Macht 29,85 EUR.“ Der Weinhändler sah in erschrockenen Augen.
„Was ist? Heute kein Geld dabei?“
„Doch! Ich bin mir sicher, dass ich den Geldbeutel eingesteckt habe. Vielleicht ist er heraus gefallen?“
„Frau Wenger, ist doch kein Problem. Dann bringen Sie es mir morgen mit. Wir verlieren uns schon nicht, oder?“
Suchend ging die Frau den Weg zurück. An den Containern schaute sie besonders aufmerksam, doch auch hier erfolglos. Die letzte Querstraße. Gleich war Hilde zu hause. Ein riesiger Schreck durchzuckte sie. Da stand ihre Schwester. Die blöde Kuh! Was will die jetzt schon hier? Hilde drehte sich abrupt um und wollte weg laufen, irgendwohin. Vielleicht hat sie mich ja noch nicht gesehen? Doch da winkte die Schwester schon und kam ihr entgegen. Lief hinterher.
„Hallo? Wohin willst du denn? Haust du vor mir ab?“
Hilde tat erstaunt und drehte sich um: „Die Stimme kenne ich doch. Bärbel, du? Was machst du denn schon hier?“
„Ich mache mir Sorgen! Was war das für ein Termin? Bist du krank? Und wieso haust du vor mir ab?“ Bärbel baute sich vor Hilde auf und schüttelte verständnislos den Kopf.
„Wieso abhauen? Ich glaube ich habe mein Portemonnaie liegen lassen. Ich muss noch mal zurück.“
„Zeig mal her!“ Bärbel nahm Hilde energisch den Beutel aus der Hand.
„Hast du eine Hochzeit auszustatten? Was willst du mit dem ganzen Wein? Das war also dein 11:00 Uhr Termin? Beim Weinhändler?“
„Ach, der ist doch nicht für mich. Oder sagen wir nicht nur. Beim Sekt habe ich sogar an dich gedacht. Da staunst du, was?“, druckste Hilde herum.
„Also, was für ein Termin?“
„Musst du immer alles so genau wissen? Neben dem Weinhändler ist die Praxis von Dr. Klingenberg. Dem Zahnarzt, du weißt schon. Von dem habe ich doch schon erzählt. Und seine Praxis war zu. Ein Schild vor der Tür: wegen Krankheit geschlossen. Kann ich doch nicht riechen, oder?“
Die beiden Frauen gingen palavernd die Straße hinauf, hinauf zum ansehnlichen Gründerzeithaus. Blütenduft umwehte sie, Bärbel atmete ihn tief ein, Hilde seufzte dazu. Da war es wieder, das Ziehen in ihrer Brust, das die aufkommende Unruhe ankündigte. Wie ein leises Dröhnen, ab jetzt immer zugegen, immer präsent. Ihre Gedanken organisierten den nächsten Schluck. Ich muss die blöde Kuh ablenken, irgendwie.
Bärbel blieb vor dem Haus stehen und schaute hinauf:
„Da musst du aber was machen, da am Dach. Siehst du, da fehlen einige Ziegel.“
„Wo?“
„Na da an der Seite, wenn der Regen von dort kommt, regnet es rein… Ich hasse Vater immer noch dafür, dass er dir dieses Schmuckstück vermacht hat.“
„Na und? Ganz leer ausgegangen bist du doch auch nicht, oder?“
Etwas später standen die Schwestern in der Küche. Den Vierflaschenbeutel hatte Hilde im Flur deponiert - von da aus ließen sich die Dinger gut verteilen. Bärbel legte den Arm um Hilde, ging mit ihr in die Küche und stutzte:
„Hattest du nicht gesagt, du hättest geputzt? Sieht eher aus, wie nach einer Feier... Und eine Fahne hast du auch noch. So wolltest du zum Zahnarzt?“
„Tja. Na ja, also der Tangomann war gestern da. Da haben wir halt etwas gegessen – und auch ein Gläschen getrunken.“
„Der Tangomann? Du und Männerbesuch? Das glaub ich jetzt nicht. Du hast noch nie von ihm erzählt! Wer ist der Tangomann? Wie sieht er aus, wie alt?“
„So alt wie ich, denke ich. Ich habe ihn nicht gefragt. Und gut sieht er aus, was dachtest du denn. Das ist ein Mann mit Stil, der würde nie Stunden vor dem Termin erscheinen.“ Hilde wand sich aus der Umarmung und setzte sich auf einen Stuhl. „Und Augen hat er – stahlgrau. Und wie sie leuchten, wenn er von seinem Tango erzählt…“
Bärbel lehnte mit verschränkten Armen am Küchenschrank und machte große Augen. „Und weiter? Ich meine wie ist er so? Komm erzähl schon und lass dir nicht jedes Wort aus der Nase ziehen!“
Hilde lächelte versonnen. „Was meinst du? Er liebt Musik, Mozart glaub ich. Oder war es Beethoven? Und er mag es, wenn ich ihn dabei etwas erforsche. Nichts weiter.“
„Nein! Das glaube ich jetzt nicht, du hast mit ihm schon… Oh Gott! Und das in deinem Alter!“
„Erforscht hab ich ihn, sonst nichts. Bist du etwa neidisch? Ich habe ihm gefragt, ob ich mal sein Rasierwasser aus der Nähe riechen dürfe. Er hatte nichts dagegen.“
„Und was hast du ihn noch gefragt?“ Bärbels Gesichtsfarbe konnte sich nicht entscheiden: bleich, rot, bleich mit roten Flecken. „Komm, erzähl schon, bitte!“
„Ich habe ihn gefragt, ob ich mal probieren könne, na du weißt schon – unter dem Hemd und so. Da sind die Haare ganz weich, allerdings schon so weiß wie das Fell von einem Schimmel.“
„Du hast ihm das Hemd aufgeknöpft? Einfach so? Ja sag mal, was bist du nur für eine Schlampe, so kenne ich dich doch gar nicht. Kommt daher und knöpft dem Tangomann das Hemd auf. Ich muss schon sagen – je oller, desto doller. Pfui!“
„Was regst du dich so auf! Bis dahin war doch noch gar nichts passiert – das kam dann erst noch.“
„Du hast ihm noch mehr aufgeknöpft, stimmt’s?“
„Davor habe ich ihm die Socken ausgezogen und probiert, ob er kitzlig ist.“
„Und?“
„Er saß da, mit geschlossenen Augen und hat gelächelt. So richtig kitzlig ist er nicht, jedenfalls da nicht...“
„Und hast du nun mit ihm…?“ Bärbel fragte das vorsichtig, mit leiser Stimme – so als ob sie die falsche Antwort nicht ertragen könne.
„Nein, wenn es dich beruhigt. Ich dachte, ich hätte ihn fest im Griff, jedenfalls fühlte es sich so an. Doch dann kam der Schlussakkord und die Musik war zu Ende. Er schlug die Augen auf und fragte beim Zuknöpfen: ‚Wie fanden Sie den 4. Satz, Teuerste? Ich meine das Allegro assai erfordert doch ein schnelleres Tempo? Finden Sie nicht auch?’“
„Die Musik war zu Ende???“ Die Schwester konnte sich das Lachen nicht verkneifen, lief ins Wohnzimmer und rief durch die offenen Türen: „Was habt Ihr denn gehört? Allegro assai im 4. Satz? Klingt nach Mozarts vierzigster. Man, die dauert noch nicht mal ‚ne halbe Stunde!“ Triumphierend kam sie zurück und hielt eine CD-Box in die Höhe. „Das hier hättest du nehmen sollen! Tristan und Isolde – da dauert der erste Akt schon mal doppelt solange!“
Noch immer schmunzelnd drehte Bärbel sich zur Spüle, ließ nebenbei Abwaschwasser in das Becken und murmelte „Hier gehört mal richtig sauber gemacht, ich darf doch?“
Das war Hildes Chance. Sie ging in den Flur und kam mit dem Sekt und einer Flasche Rotwein zurück. Den Sekt in den Kühlschrank, den Wein in den Schrank. Die zwei anderen ins Schlafzimmer. Am besten hinter den Nachttisch, da kommt die nie drauf.
Mittag. Die Frauen kochten von dem was vorrätig war - Kartoffelpuffer und Apfelmuss. Schweigend. Hilde spürte den ungläubigen Blick ihrer Schwester: „Was?“ fragte sie gereizt.
„Wie was?“
„Warum starrst du mich so an?“
„Ich starre nicht, wenn überhaupt, dann schaue ich dich an.“
„Klar starrst du! Wie ein geparktes Auto.“
Hilde sehnte sich ins Schlafzimmer, zog sich auch schon bald - halb entschuldigend - zum Mittagsschlaf zurück. Kurz darauf lag sie gut abgefüllt und schnarchend auf ihrem Bett. Sie hörte im Halbschlaf das Klingeln an der Tür, hörte Bärbels Rufen, drehte sich zur Seite und schlief wieder ein.
„Guten Tag, mein Name ist Carlos, Felipe Carlos. Ich würde gern Frau Wenger sprechen.“
Babara stand in der Tür und ahnte, wer da vor ihr stand.
„Ach kommen Sie doch herein. Wir gehen am besten ins Wohnzimmer. Meine Schwester schläft nämlich tief und fest. Was möchten Sie denn von ihr?“
„Nun ja, wenn Sie die Schwester sind… Und eine gewisse Ähnlichkeit können Sie nicht leugnen. Wie gesagt, ich traf ihre Schwester heute Morgen und habe Sie zum Tanzen eingeladen. Möglicherweise hat sie das so sehr verwirrt, dass sie nicht bemerkte, wie ihre Geldbörse heraus fiel. Ich ja zunächst auch nicht, doch ich bin mit dem Hund da noch mal vorbei… Hier ist sie jedenfalls. Ich darf sie einer so schönen Frau wie Ihnen doch anvertrauen?“
„Setzen Sie sich doch! Ich heiße übrigens Babara. Ein Gläschen Sekt?“
„Ja, ja. Warum nicht. Ist es nicht noch etwas früh dafür?“
„Ach was“, tönte es aus der Küche, „Sekt passt zu jeder Tageszeit. Lieben Sie Mozart?“
„Wie meinen Sie?“
„Mozart? Ob Sie den gerne hören, meine ich.“
„Ach so, ja natürlich. Mozart war ein Genie!“
„Und Wagner?“
„Ich weiß jetzt nicht, warum Sie das fragen… Wagner muss man mit geschlossenen Augen hören, finden Sie nicht?“