Der Tanz

Freeda

Mitglied
Der Tanz

Still ist es draußen. Ein Blick auf den Wecker zeigt mir, dass es kurz nach Mitternacht ist. So früh. Und so dunkel. Es ist soweit. Das merke ich deutlich, ein stetiges, sanftes Ziehen kündigt das Ende des Wartens an. Mir ist ein bisschen seltsam zumute, weil ich nicht weiß, was mich erwartet. Obwohl ich mir darüber so viele Gedanken gemacht habe.
Langsam und behutsam stehe ich auf, als hätte ich eine Kostbarkeit zu tragen, und schleiche vorsichtig ins Bad. Soll ich mich duschen? Macht man das in dieser Situation? Ich setze mich auf die Toilette und warte. Ziehen und ein sanfter Druck. Ruhe. Ziehen, Druck. Ich stehe wieder auf und merke, wie ich rastlos werde. Wie ein Tiger schleiche ich von Tür zu Tür, Wohnzimmer, Küche, Schlafzimmer, zurück zum Badezimmer. Mit der Hand befühle ich meinen Bauch, der mir nun so fremd ist, als hätte er nie zu mir gehört.
Soll ich jetzt schon telefonieren und um Hilfe bitten?
Allein zu sein wäre mir lieber, nicht sprechen müssen. Nicht das Gefühl haben, Rücksicht nehmen zu müssen; nur nach innen horchen und atmen und die Gedanken schweifen lassen. Wenn das Ziehen kommt und der Druck, beginne ich zu atmen, langsam, stetig, als stehe ich in einem Wald, als wäre es Frühling, als wollte ich den Geruch von Regen nach langer Trockenheit aufsaugen.
Es macht mir nichts aus, allein zu sein. Wie halten es die Urvölker? Ich hatte gelesen, dass sich die Frauen mancher Stämme zurückziehen, um dieses Ereignis ganz mit sich selbst auszumachen.
Aber Sorge lässt mich schließlich zum Telefon greifen, die Nummer wählen, die ich in den letzten Wochen schon so oft gewählt habe, als verberge sich dahinter eine Verbündete. Verschlafen meldet sich die wohlbekannte Stimme. Wie fühlst Du Dich? Wie lange bist Du schon wach? Hast Du Angst? Möchtest Du, dass ich sofort bei Dir bin?
Ja – Nein – ich weiß es nicht, ich weiß nicht, was mit mir los ist.
Die Zeit wird nebensächlich, nur der Rhythmus in mir – Ziehen, Druck, jetzt schon Schmerz – ist noch von Bedeutung. Wie ein Indianer führe ich eine Art rituellen Tanz auf, wandere durch die Zimmer mit festen Schritten, bleibe stehen, suche Halt, atme ein, atme aus, entspanne wieder, wandere weiter. Zeit verschwimmt; wie viele Runden ich drehe, Wohnzimmer, Küche, Schlafzimmer, Bad, es müssen viele sein, ich zähle sie nicht.
Ein Klingeln an der Haustür unterbricht meinen Tanz, ich schlage eine andere Richtung ein. Meine Verbündete steht vor der Tür, so lieb, so gütig, so voller Wissen.
Gemeinsam beginnen wir zu tanzen, ein Tanz aus kurzen Schritten, langen Schritten, wütenden Schritten, Halt suchen, einatmen, ausatmen.
Wie gut jetzt, dass sie da ist.
Ich bin wütend, ich ärgere mich, dass ich den Qualen nicht ausweichen kann, ich mag nicht mehr. Ich will meinen Tanz beenden, aber ich kann nicht ruhen, wie ein Motor treibt der Schmerz mich an, schneller und schneller. Und endlich unterbreche ich meine Runden, falle in einer Woge, die mich mitreißt, auf die Knie; ich werde nie wieder aufstehen, so bleibe ich sitzen, bis an mein Ende. Vielleicht sterbe ich jetzt. Die Welt um mich herum ist versunken, für mich gibt es nur noch Schmerz, Konzentration und Angst.
Und meine Verbündete breitet ein Laken aus, weiß wie Schnee, ich sitze nun auf diesem Schnee-Laken, den Rücken angelehnt an einen Berg aus Kissen; Du darfst, sagt sie, die Pforte ist offen, atme weiter, nicht die Luft anhalten, ich höre mich stöhnen, ich schreie fast, und jetzt, genau hier, werde ich aufgeben.
Du kannst es fühlen, sagt meine Verbündete, nimmt meine Hand und führt sie nach unten in diese weiche, warme Mulde, die sich nun weit geöffnet hat. Nass ist es und heiß und haarig, und wieder überrollt mich eine Welle, die mich mitreißt, und ich hole Atem für das Finale; ich öffne mich, und mit einem Schrei, der mehr ein Seufzen ist, gleitet es aus mir heraus, so leicht, so selbstverständlich, als wäre es keine Mühe, als hätte es keinen Schmerz gegeben.
Ich strecke meine Arme aus, gib es mir, ich will es sehen, und meine Verbündete reicht mir dieses glitschige, heiße, duftende Wesen, das so viele Wochen so dicht bei mir war und doch so fern. Auf meinem Bauch liegt es und sammelt sich für seinen ersten Schrei. Ich weine. Mein Kind.
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Freeda,

Nur ein Wort: "Großartig!"

Unter die Kommentare auf deinen Text "Ein neuer Morgen" hast Du geschrieben:

"Eure Meinung macht ja Mut. Dann werde ich es mal weiter
versuchen!"

Und das hier? Nur ein Versuch? Tiefstaplerin!! Du verstehst sehr wohl dein Handwerk, und ich würde mich nicht wundern, wenn dieser Text lediglich eine Fingerübung für dich war. Oder?

Gruß Ralph
 

Freeda

Mitglied
Freut mich!

Hallo Ralph!

Naja, Fingerübung... jedenfalls hüpft mein Herz, wenn ich Deine Beurteilung lese. Ich schreibe einfach gern, bisher allerdings überwiegend für meine Festplatte.
Und Briefe. Die haben dann auch Leser (von denen immer mal ein positives feedback kommt).
Es lassen sich aus Nebensächlichkeiten Geschichten konstruieren - so kann man an jeder Ecke eine Idee aufsammeln. Und das tat ich bislang, einfach aus Spaß.
Liebe Grüße,

Freeda
 



 
Oben Unten