Der Taschendieb

Charybdis

Mitglied
Rainer beugte sich über die Schulter der vor ihr stehenden japanischen Frau und verfolgte die schnellen eleganten Bewegungen des Hütchenspielers.

„Nur 50 Euro“, rief dieser. „Nur 50 Euro. Und wer das Hütchen findet, unter dem die Kugel liegt, bekommt 100 Euro zurück!“

Ein Mann trat nach vorne und warf 50 Euro auf den Fußweg, auf dem sie sich befanden. Die Zuschauer rückten noch enger zusammen. Der Spieler zeigte die drei kleinen Becher nach vorne und deutete auf die Kugel. Dann stellte er die Behälter auf und verschob sie blitzschnell zwei, drei Mal.

Der Mann in der Menge deutete auf einen Becher, und der Spieler machte eine betretene Miene. Vorsichtig lugte er unter das kleine Gefäß. „Die Kugel, hier ist sie! Du hast 100 Euro gewonnen!“

Einige im Publikum klatschten, und irgendjemand tätschelte dem Gewinner die Schulter. Eine Frau drückte ihm einen Kuss auf die Wange.

„Das war nur ein Anfüttern“, raunte Sybille, Rainers Kollegin.

„Natürlich“, flüsterte er zurück. „Entweder gehört er selbst zu diesen Betrügern, oder aber sie haben ihn gewinnen lassen, um die nächsten Opfer zu motivieren.“

Schon warf ein Tourist mit einer großen Kamera um den Hals einen 50 Euro-Schein zwischen die Becher, und … erneut gewann der Kandidat! Begeistert klatschte das Publikum Beifall, und der Tourist zog sich hocherfreut mit 100 Euro zurück.

„Komm, lass uns weitergehen“, zischte Sybille. „Wir müssen weiter, unser Termin beginnt gleich, und wir müssen noch unsere Laptops…“

„Wir haben noch etwas Zeit“, beruhigte Rainer sie und stellte wie zur Bestätigung seine Computertasche auf die Erde zwischen seinen Füßen. „Ich bin immer wieder über die menschliche Dummheit erstaunt.“ Sein Blick wanderte über die Zuschauer, mittlerweile gut und gerne 20 oder 25 Personen, die sich um den Spieler drängten. Eben hatte dieser gegen einen Kandidaten gewonnen, und alle stöhnten enttäuscht auf.

In diesem Augenblick bemerkte Rainer den jungen Mann, der etwas hinter der Gruppe stand. Er wirkte ungepflegt, war unrasiert und trug schäbige, verknitterte Kleidung. Na toll, dachte Rainer und tastete nach der Geldbörse in seiner Gesäßtasche. Die Taschendiebe sind wohl auch schon da.

Unauffällig stieß er Sybille an und deutete auf den jungen Mann: „Halt deine Wertsachen gut fest. Die Schmeißfliegen werden durch andere Schmeißfliegen angezogen.“

„So? Meinst du?“ Sybille griff fester um ihre Handasche.

„Nur 50 Euro!“ rief der Hütchenspieler abermals und verschob die Becher in einem Probedurchgang besonders langsam. „Na?“ fragte er eine Frau. „Wo ist die Kugel?“

Vorsichtig deutete die Angesprochene auf den linken Becher. Und tatsächlich befand sich dort die Kugel. Einige im Publikum applaudierten. Rainer sah, wie der junge Mann sich näher an die Gruppe schob, und nun bemerkte er auch die große Sackkarre mit den Beuteln neben ihm, gefüllt mit offenbar ebenso schäbigen Anziehsachen.

„Hättest du mal 50 Euro gesetzt“, lachte gerade der Spieler und zeigte auf die Frau vor sich. „Dann hättest du jetzt 50 Euro gewonnen!“

Rainer konnte den Blick nicht von dem jungen Mann lassen. Soeben hob er seine linke Hand, sie wanderte in Richtung des Vordermannes – und bog dann zur Nase des Besitzers ab. Na? dachte Rainer, wann greifst du zu?

Ein gellender Pfiff ertönte. Irgendjemand hatte zwischen die Zähne geblasen, und sofort kam Bewegung in die Gruppe. Der Hütchenspieler sprang auf, ließ noch in der Bewegung seine Becher samt Kugel in die Tasche gleiten, drängte durch die Zuschauer und lief davon. Auch der Mann, der zuerst gewonnen hatte, fiel in einen leichten Trab, während er in eine andere Richtung eilte. Das japanische Paar vor Rainer taumelte zurück, irgendjemand schob von der Seite. Rainer sah Sybille für einige Augenblicke in der Menschenmenge verschwinden, und auch der Taschendieb war nicht mehr zu sehen.

Ein Tourist taumelte gegen ihn, fing sich nur mit Mühe wieder, entschuldigte sich, und auch diesmal tastete Rainer automatisch nach seinen Wertsachen in Hose und Jackett. Es war noch alles an seinem Platz.

„Jetzt kommt die Polizei“, hörte er Sybille hinter sich sagen, als drei Polizisten sich der Szenerie näherten. „Lass uns endlich gehen. Der Spaß ist zu Ende.“

Rainer nickte und folgte seiner Kollegin, die im Stakkatoschritt vom Tatort enteilte.

„Da gab es irgendwo einen dritten Mann, und der hat die anderen gewarnt“, meinte er schließlich.

„Wer weiß, wer noch alles dazugehört. Vielleicht auch die Frau mit dem Kuss. Die rennen fort, auf getrennten Wegen, und dann treffen sie sich erneut und zocken die Leute weiter ab.“

„Das war ja ein Gedränge plötzlich“, lachte er. „Wenn die Polizei kommt, fühlen sich alle irgendwie ertappt, was?“

Sybille lachte zurück: „Das ist wohl so. Und ich habe erst mal alles abgefühlt, ob mir irgendjemand in die Tasche gegriffen hat. Alles noch da.“

Rainer blickte sich um. Der junge Mann war nirgends zu sehen. Aber das Gedränge musste ein gefundenes Fressen für ihn gewesen sein. „Ich habe auch kontrolliert. Ist besser so. Man kann nicht vorsichtig genug sein, was?“

Sie lächelten sich an und gingen dann zügig weiter. Nur noch wenige Hausnummern, und sie wären an ihrem Ziel angekommen.

„Warten Sie!“

Überrascht drehte Rainer sich um, und irgendwie wusste er, dass der Ruf ihm galt. Ein Polizist näherte sich ihm mit schnellen Schritten. Rainer wurde blass. War es bereits strafbar, einem Hütchenspieler zuzuschauen?

„Na toll“, raunte Sybille. „Du wolltest da ja zugucken. Jetzt wollen die eine Zeugenaussage oder was weiß ich. Wir haben keine Zeit mehr.“

Der Polizist hatte die beiden inzwischen erreicht und atmete durch.

„Ähem, was gibt es?“ fragte Rainer vorsichtig.

„Ich habe das hier für Sie.“ Der Polizist hob seine Hand.

„Meine Laptoptasche!“ Rainer wurde heiß und kalt. Er hatte sie abgestellt, und durch die Rempeleien in der Menge und die Flucht der Hütchenspieler hatte er sie vollkommen vergessen. Nie hatte er geglaubt, dass er jemals seine Laptoptasche vergessen könnte, und nun war es im passiert.

„Ich habe noch gedacht, stell sie nicht ab!“ wusste Sybille hinzuzufügen.

„Danke schön“, seufzte Rainer, nahm die Tasche an sich und reichte dem Polizisten die Hand, doch der drehte sich um, deutete nach hinten und sagte:

„Danken Sie nicht mir. Danken Sie dem jungen Mann da. Dem mit der Sackkarre. Er hatte gesehen, dass Sie die Tasche vergessen haben, nur er wollte sein Hab und Gut nicht unbeaufsichtigt zurücklassen, damit es ihm nicht gestohlen wird, und Sie waren einfach zu schnell, als dass er mit allem hinterhergekommen wäre. So hat er mir die Tasche gegeben. Einen schönen Tag noch.“
 



 
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