Der Taxifahrer

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DER TAXIFAHRER



-1-

Als die Sonne schon untergegangen war, und der Himmel sich von einem kühlen Weiß-Blau in ein noch kühleres Dunkelblau verfärbte, schlenderte eine junge, schwer bepackte Frau Anfang dreißig durch die frische Herbstluft auf die Reihe von Taxis zu, die in einer Reihe an der anderen Straßenseite vor einem Kino parkten. Als sie am vordersten Taxi angekommen war, ließ sie die Einkaufstüten auf den Boden sacken und öffnete die Beifahrertür. Der Taxifahrer schien zunächst gar keine Notiz von ihr zu nehmen, er murmelte leise vor sich hin und kritzelte etwas in ein kleines rotes Notizbuch. Dann schaute er auf, schnaufte einmal und steckte es weg. Den Kugelschreiber ließ er in seine Hemdtasche gleiten.
„Guten Abend Madame“, sagte der Taxifahrer. Seine Stimme war kratzig und rau, aber nicht unsympathisch.
„Immer hinein mit Ihnen in die gute Stube“.
Er stieg aus dem Taxi und ging zum Kofferraum des Wagens und lud die Tüten ein. Anne fiel auf, dass er humpelte
Als er fertig war, knallte er den Kofferraum zu und kehrte zur Fahrertür zurück, stieg ein und schloss die Tür. Eine warme Welle unangenehmen Geruchs schwappte zu Anne rüber, irgendeine fiese Mischung aus Zigaretten, Alkohol und verfaulter Stofftiere.
„Wohin soll’s denn gehen Madame?“
„Zu den Eichen einundvierzig, bitte.“
„No problemo“. Er startete den Motor. “War wohl ein erfolgreicher Tag für sie, hä?“
„Jawohl“.
„Ich hoffe, sie haben noch genug Geld fürs Taxi übrig, wenn ich mir ihren Einkauf so ansehe“.
(Ein Clown!)
„Ich denke schon, ja“.
„Dann ist ja gut“.
Er lächelte. Dann fuhren sie los.


-2-

Anne wandte ihren Blick ab. Ein sechs stündiger Shopping-Marathon lag ihr in den Knochen, die Beine schmerzten vom vielen Gehen und auf den Handflächen hatten sich durch die Last der Einkaufstüten rote Striemen gebildet.
Das monotone Brummen des Fahrzeugs und der immer dunkler werdene Himmel machte sie schläfrig. Weil sie befürchtete einzuschlafen, beobachtete sie die Zähluhr, die sicherlich schon mal bessere Tage gesehen hatte.
Dann entdeckte sie im Augenwinkel eine Stoffpuppe. Sie hing am Rückspiegel des Wagens und baumelte hin und her wie ein Pendel eines Hypnotiseurs. Sie trug ein hellblaues, knielanges Kleidchen und hatte zwei blonde, geflochtene Zöpfe, die ihr über die Schultern hingen. Eines ihrer aufgenähten Augen fehlte, stattdessen war das Auge mit Filzstift aufgemalt worden; die Lippen waren rot geschminkt und zu einem fröhlichen Grinsen verzogen.
Zuerst wollte sie den Taxifahrer fragen, wem diese Puppe gehörte, dann überlegte sie es sich aber anders. Typen wie der sammeln möglicherweise Puppen, sprechen mit ihnen und behandeln sie wie ihre eigenen Kinder … alles war möglich, oder nicht? Hatte ihr Freund, das Arschloch, ihr nicht einmal von einem Typen erzählt (vielleicht war es sein Arbeitskollege, oder sein bester Kumpel, sie hatte es vergessen), der wie besessen Stoffpferde von \'My Little Pony\' sammelt? Er hatte es viele Jahre lang geheim gehalten, bis es ihr Freund (das Arschloch) erfahren hatte. Obwohl sie sich fragte, wie man eine Sammlung von siebenhundert Stoffpferdchen so lange geheim halten konnte - wahrscheinlich hatte er sie auch in dieser Hinsicht belogen. Aber er würde die Folgen schon noch früh genug zu spüren bekommen, da war sie sich sicher. Spätestens, wenn er die Rechnung seiner Kreditkarte überprüfen würde. Er würde sie anbrüllen, vielleicht sogar wieder schlagen, aber das wäre es ihr Wert. Er würde fragen, was sie sich dabei gedacht hätte, ihn zu bestehlen, ihn, dem größten Macker überhaupt auf diesem Planeten. Außerdem würde er fragen, was sie mit seinem Geld gemacht hätte, und sie würde antworten: ich habe mir ein schönes Leben gemacht, das, was du mir nie bieten konntest.
Sie bemerkte, dass sie wie gelähmt auf die Puppe starrte, ihren hypnotisch pendelnden Bewegungen folgte.
War sie von seiner Tochter? Oder etwa von seiner Frau?
Sie sah relativ neu aus, zwar gebraucht, aber neu.
Irgendwie hatte sie das seltsame Gefühl, dass ihr wahrer Besitzer sie brauchte. Irgendwie war sie hier falsch.
Ob sie früher dieselbe Puppe besessen hatte? Nein. Ausgeschlossen.
Aber: sie hatte eine Puppe – sie hieß Cindy und begleitete sie überall hin, auf die Toilette, in den Kindergarten, zum Zahnarzt; Sie tröstete sie, wenn sie traurig war, stand ihr bei, wenn sie Angst hatte, und freute sich mit ihr, wenn sie glücklich war. Man, hatte sie diese Puppe geliebt, sie war ihr bester Freund gewesen, ihr treuester Zuhörer, sie stritt nicht mit ihr, widersprach nicht, war immer für sie da. Wo sie wohl heute steckte? Irgendwie hatte sie plötzlich das Bedürfnis, sie ganz nah bei sich zu haben.
Ihr war heiß. Es ist so unbequem hier drinnen.
„Darf ich bitte das Fenster einen Spalt öffnen?“, fragte sie.
„Ziehen sie doch ihre Jacke aus, wenn ihnen warm ist“ Der Taxifahrer grinste.
\"Bitte was?\", fragte sie verduzt.
„War nur ein Scherz, machen Sie ruhig“.
Anne lief es eiskalt den Rücken runter. Zu scherzen war ihr gerade nicht zumute.
„Vielen Dank“.


-3-

Die Fahrt zog sich wie Kaugummi.
Im Moment wollte sie einfach nur zu Hause sein, ein heißes Bad nehmen und anschließend in ihrem warmen weichen Bett liegen. Ihr Hintern tat weh vom Sitzen.
Als sie sich in eine bequemere Sitzposition bringen wollte, streifte sie versehentlich den Oberschenkel des Taxifahrers. Dieser drehte den Kopf zu Anne und starrte sie an. Ein Eiswürfel schien ihr die Speiseröhre runter zu laufen.
„Verzeihung, das habe ich nicht gewollt.“, sagte sie in einer ungewollt schrillen Tonlage. Ein schleimiges Gefühl breitete sich in ihrer Magengrube aus, als er wieder grinste. Muss wohl am Essen liegen ...
„No problemo, Madame“, sagte er. “Wir sind bald da. Wir fahren wir eine Abkürzung, wenn es ihnen recht ist. Spart so ungefähr zehn Minuten. Ist das okay für sie?“
„Ja ja, ist okay.“ Sie hatte einen Kloß im Hals, als sie sprach.
Sie lenkte ihren Blick wieder auf die Puppe; diese baumelte leicht hin und her und grinste fröhlich an. Anne erwiderte unbewusst das Lächeln der Puppe und fühlte sich gleich etwas besser.
Was für eine schöne Puppe, dachte sich. Nicht makellos, aber schön.
Anne dachte darüber nach, ob diese Puppe, dem Mädchen, dem sie gehört hatte (wenn sie denn überhaupt einem Mädchen gehört hatte) genauso viel bedeutet hatte, wie Cindy ihr. Ach könnte Cindy jetzt doch bei ihr sein …


-4-

Das Taxi bog von der Autobahn in die Ausfahrt ein und fuhr jetzt auf einer Landstraße durch einen dichten Wald. Mittlerweile war es dunkel geworden.
„Sind sie sicher, dass sie hier richtig sind?“, fragte Anne. Der Taxifahrer lächelte.
„Wieso? Zweifeln sie etwa an meiner Kompetenz als Taxifahrer?“
„Nein es ist nur …“
„Es ist nur was? Sie haben mir doch zugestimmt, eine Abkürzung zu fahren, oder etwa nicht?“
„Ja, es ist nur so – das sieht ziemlich verlassen aus hier.“ Plötzlich fühlte sie in ihrem Magen erneut ein flaues Gefühl aufsteigen und ihre Nackenhaare sträubten sich. Eine Frau am späten Abend in einem dunklen Wald – und dazu noch mit einem wildfremden Mann. Was wenn er … Sie schob diesen Gedanken beiseite, bevor sie ihn zu Ende bringen konnte.
„Aber sie werden schon wissen was sie tun“, fügte sie kleinlaut hinzu.
„Das will ich hoffen. Schließlich bin ich nicht umsonst Taxifahrer geworden“. Er lachte. Es klang wie ein schmerzender Husten. Sie schaute irritiert aus dem Beifahrerfenster und beobachtete die Schatten der Bäume, die in die Entgegengesetzte Fahrtrichtung wanderten und fühlte, wie die Müdigkeit langsam immer mehr Besitz von ihr ergriff.
Nach einer Weile drehte sie den Kopf langsam wieder zurück in Richtung Rückspiegel, um die Puppe zu betrachten.
Eine eiskalte Welle des Schocks lief über ihren Rücken und ihr Herz pochte jetzt so laut, dass es scheinbar die Fahrgeräusche des Kombis übertönte.
„Was zum …“, formten ihre Lippen tonlos. Das war unmöglich. Das kann nicht sein. Mit einem Mal war sie hellwach und Adrenalin schoss durch ihren Körper. Sie kniff die Augen zusammen und öffnete sie wieder, aber sie sah, was sie vorher auch gesehen hatte: Das fröhliche Gesicht der Puppe hatte sich verändert; Jetzt schaute sie Puppe entsetzt an. Der Mund, der sie vorher fröhlich angelächelt hatte, war zu einer entsetzten Fratze geworden. Aus dem einen Auge der Puppe floss eine Träne, die aussah wie Blut. Sie war frisch; sie lief ihr über die Wange bis in den verzogenen Mund, und hinterließ einen dunkelroten Streifen. Nein. Eine optische Täuschung, dachte Anne, das Licht im Auto war nur sehr schwach, gerade einmal eine Lampe beleuchtete das Taxi, dieses Licht befand sich aber genau über der Puppe.
Anne kniff erneut die Augen zusammen. Dann öffnete sie sie wieder. Und sie erkannte deutlich den entsetzten Gesichtsausdruck der Puppe. Anne piepste, als sie einen erstickten Schrei ausstieß. Sie fühlte sich, als hätte ihr jemand einen glitschigen Aal in die Bluse gesteckt. Plötzlich überfiel sie Panik. Ihre Lippen Zitterten. Auf einmal war ihr eiskalt. Sie wippte nervös hin und her.
„Madame? Was ist passiert?“, fragte der Taxifahrer.
„Es – Wie – Die Puppe!“, platzte es aus Anne raus, bevor sie es sich verkneifen konnte. Sie musterte die Puppe und betete, das Gesicht möge jetzt wieder normal aussehen. Doch die Puppe starrte sie einäugig und entsetzt an. Die Blutspur der Träne war jetzt ein wenig angetrocknet.
„Madame, ich verstehe nicht –„
„D-die Puppe mit dem blauen Kleid, sie …“
„Was für eine Puppe denn?“ Jetzt hörte sich der Taxifahrer ungeduldig an. Er tippte mit den Fingern auf sein Lenkrad und schnaufte zwei Mal.
„Es gibt keine Puppe, es gibt keine Scheißpuppe!“ beim letzten Wort schlug er mit der flachen Hand auf das Lenkrad. Anne schreckte zusammen. Ihr Herz pochte jetzt noch schneller als ohnehin schon. Ihr wurde abwechseln heiß und kalt und ihr war schwindelig.
„Willst du mich verarschen?“, schrie er. „Welche Puppe, welche Puppe?“ Anne spürte, wie sie einige Speicheltropfen abbekam. Panik stieg jetzt wieder in ihr hoch. Sie wollte jetzt einfach nur noch raus. Das Auto war eng, wie ein ... Sarg.
Sie atmete laut und schnell.
„I-ich … B-bitte, ich wollte nicht …“, piepste sie und schaute unwillkürlich dahin, wo die Puppe gehangen hatte. Doch sie war verschwunden.
Zuerst dachte sie, sie sei auf das Armaturenbrett gefallen, doch als sie hecktisch nachschaute, war sie nicht dort. Auch auf dem Boden am Schalthebel war die Puppe nicht. Vor Angst kamen ihr die Tränen und der Kloß in ihrem Hals schien anzuwachsen.
„Sie wollten was nicht, Madame?“
„Ich w-wollte nicht – k-können Sie ...“
„Sie haben es von Anfang an gewusst, oder? Verlogene Schlampe!“, brüllte er. Dann trat er in die Bremse. Reifen quietschten. Die Gurte schnitten sich schmerzhaft in Annes Fleisch. Sie stieß einen überraschten Schrei aus.
„Du weißt es du Miststück!“, schrie der Taxifahrer, als das Auto zum Stehen gekommen war.
Er schlug auf das Lenkrad ein.
Aaahhh!“ Er schnaufte wie ein wild gewordener Silberrücken.
„NEIN!“, schrie sie. Sie hielt sich die Ohren zu.
Der Taxifahrer tobte.
„Ich hätte es wissen müssen, du bist eine von Ihnen!“
„Nein, nein, nein“, jammerte sie. Sie sah ihren Vater vor sich. Er zeigte mit dem Finger auf sie und lachte sie aus.
Jetzt brachen alle Dämme. Sie heulte laut auf.
„Bitte lassen sie mich jetzt raus hier, ja? Bitte!“
Sie vernahm eine Bewegung im Rückspiegel. Jetzt schrie Anne richtig auf.
Auf dem Rücksitz des Autos saß ein Mädchen, etwa acht Jahre Alt. Es trug ein weißes, knielanges Kleid und seine Haare waren dunkelblond und zu zwei Zöpfen geflochten. Es starrte Anne mit gequältem Blick an, ihr Gesicht war Aschfahl. Es weinte, Rotz lief ihr aus der Nase und die Augen waren rot und gequollen.
„DU weißt, was ich getan habe! Und ich werde es wieder tun!“.
Die Angst lähmte Anne. Sie starrte in die entsetzten Augen des Mädchens, wollte sich abwenden und erneut schreien, doch sie war wie versteinert. Ihr Herz drohte zu zerspringen. Das Mädchen öffnete den Mund um zu sprechen. Anne winselte vor Angst.
Das Mädchen begann leise zu sprechen. „Lauf“, flüsterte es. „Lauf weg. Er ist böse! Steig aus und lauf weg!“. Ihre Stimme hörte sich an, als würde sie durch einen langen Tunnel zu ihr flüstern.
Dann lächelte der Taxifahrer dämonisch und entblößte seine schiefen, gelben Zähne. Er verriegelte die Türen.
KLICK!
Anne zuckte zusammen. Sie zitterte am ganzen Leib.
„Nein, bitte nicht, nein, lassen sie mich bitte gehen!“ Sie griff den Türgriff und versuchte die Tür zu öffnen. Vergebens. In Panik löste sie ihren Gurt und versuchte aufzustehen. Sie stieß sich den Kopf.
„Bitte – ich gebe ihnen Geld, aber lassen sie mich bitte raus!“
„O nein, sie bezahlen nicht mit Geld Madame.“ Er lächelte wie ein Wahnsinniger, seine Augen glitzerten im schwachen Abendlicht.
Anne winselte wieder lauter. Tränen liefen ihr über das Gesicht, bis sie ihren salzigen Geschmack schmecken konnte.
„Bitte tun sie mir nichts“, jammerte sie. „Ich habe Geld – Ich habe Schmuck, bitte nehmen sie das!“ Sie streifte ihre Golduhr ab und hielt sie dem Taxifahrer hin.
Schnauze, ich will deine Drecksuhr nicht!“, fauchte er. Dann packte er sie am Hals und zog sie zu sich.
„Du weißt es, nicht wahr?“
„Nein“, winselte sie.
(Cindy! Wo bist du?)
Der Taxifahrer begann Anne mit beiden Händen zu würgen.
„LÜG NICHT!“, brüllte er und drückte zu. Sie krallte sich mit ihren Fingernägeln in die Hände des Taxifahrers fest, sodass Blut in dünnen Rinnsalen auf den Schalthebel tropfte.
„SCHLAMPE!“, schrie er. Dann ließ er los, zog blitzschnell aus einer Hosentasche ein Klappmesser und lies es aufschnappen.
SCHNAPP!
„Du steckst da mit drinn\', denkst wohl, das wäre lustig, was?“
Anne konnte nicht antworten, weil sie immer noch um Luft rang. Die Welt drehte sich ...
„Du weißt, dass ich diese Schlampe und ihre verzogene Göre ermordet habe, oder? Sie saßen hier, in diesem Taxi und haben sich über mich lustig gemacht, ja, sie haben\'s nicht laut gesagt, aber im inneren haben die mich ausgelacht! Die ganze Zeit über! Ausgelacht haben die mich! Aber da sind sie an den falschen geraten, o ja. Und weißt auch über diese scheiß Puppe bescheid, wie ich sie sehe, überall, diese verfickt hässliche Puppe von dieser Göre. Sie ist überall! Du wusstest es! Aber weißt du was? Ich habe der Mutter zuerst die Kehle aufgeschlitzt, und diese kleine Göre hat es mit angesehen. Es war hier, in diesem Wald. Und es war ein gutes Gefühl, O ja! Das Lachen ist denen vergangen!“. Der Taxifahrer lachte hysterisch.
„Bitte, bitte nicht, lassen sie mich gehen, ich flehe sie an!“, heulte Anne. Er hielt das Messer an ihren Hals und zog er sie weiter an sich ran. Sie konnte seinen fauligen Atem in ihrem Gesicht spüren. Sie würgte.
„Die Kleine drückte ihre Puppe an sich, während sie starb. Eine hässliche, einäugige Puppe mit einem blauen Kleid. Ich hab sie zusammen mit den beiden in dem Wald da vergraben. Seitdem sehe ich diese Puppe überall, überall! In meiner Wohnung, sie liegt in meinem Bett wenn ich schlafe, sie sitzt auf dem Tisch, wenn ich esse, ich habe sie verbrannt, weggeworfen, vergraben, sie taucht immer wieder auf. Sie ist ÜBERALL DIESE SCHEIß PUPPE! Und dann kommst du Schlampe und ziehst mich noch damit auf! Kann die mich nicht einfach in Ruhe lassen!“
„Bitte!“
„SCHNAUZE! Die beiden haben sich angesehen, als die Mutter starb, o ja. Und als sie tot war, war die Kleine dran, o jaaaa“ Er grinste wie ein Irrer. Dann lachte er, hielt die Klinge weiter an Annes Kehle.
„Ich habe es schon mal getan und ich werde es wieder tun! Mich verarschen, dazu kommt’s noch! Wahrscheinlich lachst du auch über mich! Jetzt gerade lachst du mich aus!“
Er wird mich UMBRINGEN! Oh Gott, er wird mich töten! Was soll ich tun? Oh Gott, was soll ich nur tun?, dachte Anne panisch. Sie schloss die Augen und winselte leise.
„Bitte, lassen sie mich gehen, bitte!!“. Kaum mehr als ein ersticktes Flüstern.
Sie sah keine Möglichkeit zu entkommen. Das war’s.
Sie dachte an ihre Mutter, und an Cindy. Jetzt hätte sie sie am dringendsten gebraucht.
Dann, als sie die Hoffnung gerade aufgeben wollte und sich mit ihrem tragischen Schicksal abgefunden hatte, sah sie den Kugelschreiber blau in den Augenwinkeln aufblitzen, der dem Taxifahrer aus der Brusttasche seines Hemdes ragte. Sie überlegte keinen Augenblick, jetzt oder nie, schnappte blitzschnell nach dem Stift und zog ihn mit der Geschicklichkeit eines Zauberers, der gerade einen Trick vorführt, aus der Tasche. Der Taxifahrer schnaufte überrascht, und stieß einen lauten, schrillen Schrei aus, als Anne ihm den Kugelschreiber in das linke Auge rammte. Sie hörte ein widerwärtiges, feuchtes Geräusch, als der Stift den Augapfel durchstieß. Der Taxifahrer ließ vor Schmerz sein Messer fallen und schrie, diesmal vor Schmerz. Sie entriegelte die Fahrertür, öffnete sie und stürzte sich kopfüber heraus.
„Bleib hier du Miststück!“, kreischte der Taxifahrer hysterisch. Doch Anne rappelte sich auf und begann zu rennen. Die Kühle Nachtluft strömte in ihre Lungen. Sie hatte sich noch nie so befreit gefühlt.
„Mist! Verfluchte Scheiße! Aaaahhh! du Miststück! Ich kriege dich, und wenn ich mit dir fertig bin, wirst du über die ganze Straße verteilt sein! Das schwör\' ich dir! Na warte!“
Anne stolperte über einen dicken Ast, stieß einen schrillen, überraschten Schrei aus, kippte nach vorne und prallte hart mit dem Gesicht auf den Boden.
Filmriss.


-5-

Der Taxifahrer umklammerte mit heftig zitternden Händen den Kugelschreiber, der in seinem Auge steckte, schaufte laut auf und zog ihn raus. Ein schleimiges Geräusch.
Der anschließende Schrei war so laut, dass sein Echo mehrmals widerhallte. Er brach zusammen und hielt sich das Auge. Als er den Kopf hob und aufschaute, grinste er.
Blut schoss ihm aus der leeren Augenhöhle, er warf den Kugelschreiber, auf dem sein Auge aufgespießt war, weg.
Die Schlampe hätte es doch verdient, oder etwa nicht? Sie hat es provoziert.
„Ich kriege dich, du Miststück!“, rief er in Richtung der am Boden liegenden Frau, die benommen versuchte, wieder auf die Beine zu kommen.


-6-

Seine Worte kamen aus weiter Ferne. Vielleicht aus der Hölle. Sie spürte mit ihren Händen das kühle feuchte Laub. In ihrem Kopf hämmerte es wie bei einer heftigen Migräne. Alles, was sie jetzt noch sah war ein Strudel aus Schwarz- und Blautönen.


-7-

Der Taxifahrer schnaufte vor Schmerz wie ein Mann, der gerade einen Marathon gelaufen war. Wie gerne er dieser Schlampe doch den Hals umdrehen wollte … Er griff nach seinem Messer.
Als er aus dem Auto steig, hörte er ein Kinderlachen, das durch den Wald hallte. Er zuckte er vor Schreck zusammen und wurde starr wie eine Salzsäule.
„Wer ist da?“
Seine Frage wurde durch ein kindliches Kichern erwidert. Diesmal war es sehr nah.
„Ich finde dich, und wenn ich mit dir fertig bin -“
Plötzlich sah er im Scheinwerferlicht des Wagens ein kleines Mädchen stehen, mit dunkelblonden Haaren, die zu Zöpfen geflochten waren. In ihrer Hand hielt sie eine Stoffpuppe, die nur ein Auge hatte und dicke Bluttränen weinte. Sie hielt sich mit der rechten Hand das linke Auge zu und lachte dabei hämisch.
Der Taxifahrer schrie auf.
Sie ist tot! Ich habe sie eigenhändig umgebracht! Sie und ihre Mutter! Das ist …
„Was ... zum ...“, brachte er stotternd herraus.
Sein Herz hämmerte stärker und stärker, er versuchte zu schreien, aber aus seiner Kehle drang nur ein ersticktes Wimmern. Das letzte, was er fühlte war starker Schmerz in der Brust. Dann blieb sein Herz stehen. Die Welt vor seinen Augen verschwamm.
Das Mädchen im weißen Kleid lachte.
 



 
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