Der Tod in der Rue Morgue

Claus Thor

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Der Tod in der Rue Morgue
Von
Claus Thor

Ich war sehr jung, als meine Mutter starb und ihren Mörder habe ich seither gesucht. Mittellos landete ich auf der Straße; denn meinen Vater kannte ich nicht. War Bettler, Schuhputzer, Zeitungsjunge. Oft auf der dunkeln Seite des Lebens. Man traf mich häufig in den freien Bibliotheken und Büchereien der größeren Städte, wo ich mir eine leidliche Bildung aneignete. Obgleich ich ein Straßenjunge war, war meine Kleidung stets gepflegt. Ich fand Schlupflöcher, die mich nicht nur an sauberen Orten führten, sondern auch später, als ich die Jungenjahre hinter mir gelassen hatte, in die gehobene Gesellschaft brachte. Ich beschaffte mir einige Dokumente und eine glaubwürdige Biografie.
Auf der Suche nach dem Mörder fand ich oft kleine Hinweise und Spuren, aber genauso schnell wie sie sich mir darboten verlor ich sie auch wieder.
Ich lernte und studierte alles, was es mit Kriminalistik auf sich hatte. Aber das reichte mir nicht. So wendete ich mich der Parawissenschaft zu. Jenes Gebiet, welches alternative Erkenntnisse am Rande oder außerhalb der akademischen Wissenschaften suchten. Aber auch das befriedete nicht meinen Geist.
Daraufhin nahm ich an einer Schiffsreise teil, die mich über den großen Teich, in die alte Welt brachte. Und dort nach Frankreich. Da war ich nun in Paris, das alte ehrwürdige Paris in Europa, was liegt da näher, als ein Nachtbummel zu tätigen? Aber weitgefehlt, denn ich bin nicht hier um des Vergnügens willen, sondern der Hoffnung wegen.
Ich lernte auf dem Schiff einen Herrn Waldemar kennen, der ein wahrer Meister des Mesmerismus war. Das interessierte mich doch sehr. In Paris scharrte er einige Anhänger um sich und eröffnete eine Schule. Ich sollte ihn nun als Assistent zur Seite stehen. Daraufhin beabsichtigte ich einige Monate zu bleiben, also schlug ich in einer Brasserie die Zeitungsannoncen der Wohnungsvermieter auf. Das brachte mich in eine kleine Etagenwohnung in der Rue Morgue unter.
Vom Fenster aus betrachtet erschien mir die Straße recht gewöhnlich. Es waren auf ihr nicht viel los. Nur wenige Menschen waren unterwegs. Man könnte sagen, eine langweilige Straße in einem langweiligen Quartier einer reizvollen Stadt.
Da sah ich ihn. Er sprang mit sogleich in die Augen. Wie auffällig er durch die Menge schritt. Sein grauer Anzug, passender Zylinder und die Brille mit den blauen Gläsern. Er bewegte sich mit einer eleganten Sicherheit, die nur auf einer adligen und wohlhabenden Erziehung zurückzuführen war. Was mich in Erstaunen versetzte, war die Tatsache, dass niemand von ihm Notiz zu nehmen schien. Er schritt weitaus und verschwand schneller aus meinem Blick als mir bewusst wurde, dass dies der Mann war, den ich schon seit meinen Jugendjahren vergeblich suchte.
Ohne weitere Verzögerung, ohne Stock und Zylinder, ohne meinen Gehrock, stürmte ich aus dem Zimmer, die Treppe hinunter und hinaus auf das Trottoire. Gott sei es gedankt hatte ich wenigstens meine Straßenschuhe an. Zunächst ging ich im forschen Tempo zwischen den Passanten daher, dann begann ich im Laufschritt die Richtung zu folgen, in der ich ihn zuletzt gesehen hatte. Doch dann stand ich auf der Abzweigung zur Rue de Rivoli. War er zur Place de la Concorde unterwegs oder verloren sich seine Spuren in den Gärten Tuileries? Ich hastete eine Weile hier hin und dort hin, vergebens, also beabsichtigte ich, in meine Wohnung in der Rue Morgue zurückzukehren.
Ein lautes Gezeter ließ mich aufhorchen und lockte mich in eine schmale Seitengasse, welche ich bis zum Ende folgte und dann vor einer mannshohen Mauer stand. Sie bestand aus groben roten Ziegelsteinen. Dahinter hörte ich die verzweifelte Stimme einer Frau: „… natürlich habe ich Angst.“
Die brummige Stimme eines Mannes sagte: „Marie. Marie. Es wird uns nichts geschehen.“
„Paul - ich glaube du hörst mir gar nicht zu. Wir müssen hier weg. Sofort. Raus aufs Land. Zu Papa und Mama. Denk doch an Luise – willst du, dass sie an … dass sie stirbt?“
„Marie, ich hab hier Verpflichtungen. Wir können nicht einfach weglaufen.“
„Paul. Der Tod geht um!“
Die Stimmen entfernten sich und ich konnte sie nicht mehr hören. Ein seltsames Gespräch. Ich konnte mir darauf keinen Reim machen, da ich nur einen kleinen Teil mitbekommen hatte. Außerdem schien mir die Frau hysterisch zu sein. Alltags Gezänk eines Elternpaares.
Der Concierge schaute mich missbilligend an. Kein Wunder bei meinem Aufzug.
Als ich in meinem Zimmer auf dem Bett saß, und drüber nachdachte, dass er hier war, dass ich ihn hier gesehen habe und – hätte ich nicht zu langsam reagiert, vielleicht sogar hätte stellen können. Da kam mir die Stimme der Frau wieder in den Sinn: „Der Tod geht um.“
Wie recht du damit hast, Marie, dachte ich, wie recht du hast.

Schon früh betrat ich das Institut, in dem Herr Valdemar uns erwartete. Wir waren etwa zwanzig Hörer im Saal. Er gab uns zunächst einen kleinen Abriss des Mesmerismus und später demonstrierte er uns seine Künste an einige Freiwillige. Irgendwie konnte mich das Ganze nicht recht überzeugen. Aber das, was Herr Valdemar gesagt hatte, stimmte mich auf der Rückfahrt nachdenklich. Er sprach Unteranderem über die Begabungen oder Talente mancher Zeitgenossen: Wie es seine Begabung war mit dem Magnetismus umzugehen, so konnten andere zum Beispiel in die Zukunft blicken, oder sie sprachen mit den Toten. Natürlich gab es die mannigfaltigen Talente. Unvermittelt wandte er sich mir zu und fragte: „Welches ist wohl ihre Begabung, junger Freund?“
Ich konnte ihm nicht antworten, da ich noch keine besondere Fähigkeit bei mir festgestellt hatte.
„Gut“, sagte Valdemar und schaute in die Runde seiner ausgewählten Schüler. „In den heutigen Tagen, wo man den Tod allen Orts in Paris anzutreffen pflegt, ist es nicht verwunderlich, dass das Interesse am Mesmerismus gestiegen ist. Sie nun meine Herren sind aufgrund besonderer Fähigkeiten …„
Dort unterbrach er seine Ansprache und schaute in die kleine Runde jeden einzelnen seiner Studenten in die Augen; als er nun bei mir anlangte, hielt er etwas länger inne, und nun begannen die Mitschüler, erst verhalten, dann lautstark zu lachen.
Als der Unterricht beendet war, habe ich mich einem an Valdemars Theorien und Praxis interessierten Student angeschlossen. Er war wohl sehr reich, denn er nahm mich in seinen zweisitzigen Halbberlinen mit. Wir unterhielten uns sehr angeregt über das heute Gehörte und Gesehene.
„Ich kann durchaus an die These glauben, dass die Ursache von Krankheiten eine Behinderung des freien Flusses des animalischen Magnetismus' ist“, sagte ich zu dem jungen Engländer. Der nach Paris kam, um Vorträge des berühmtberüchtigten Herrn Valdemar zu hören. „Aber, wie soll ein Heiler, wenn er nicht über die spezielle Gabe verfügt, eine solche Blockade mit Handbewegungen beseitigen können?“
„Ich glaube, dass man zuerst einmal die Fähigkeit erlangen muss, Blockaden und Ungleichgewichte wahrzunehmen.“
„Somit sind wir also angewiesen auf eine elitäre Schar von Menschen, denen diese Begabung angeboren ist.“
„Durchaus nicht“, sagte der Engländer barsch, der, ob meines Zweifelns, leicht in Rage geriet: „Man kann die Physik des Animal-Magnetismus genauso studieren, wie die Physik des Elektromagnetismus. Und die Fähigkeiten erwerben.“
Ich war gerade im Begriff meine Zweifel an Valdemars Behandlungsmethode näher zu erläutern, als ein heftiger Ruck durch die Kutsche ging.
Der ganze Kutschkasten neigte sich nach links und man hörte die Federung kreischen. Lauter war nur das Wiehern der Zugpferde und das Gebrüll des Kutschers, welcher die Tiere zur Räson zu bringen hoffte. Die Peitsche knallt.
Während ich in das lederne Polster gedrückt wurde, folgte mein neuer englischer Freund der Schwerkraft und stürzte mir entgegen. Noch bevor ich mich zur Tür wenden konnte, um zu schauen, was passiert sei, wurden wir erneut durchgerüttelt. Mit einem heftigen Ruck schoss das Gespann nach vorn. Die Tür, die in Riemen an hölzernen Federn hin, sprang unvermittelt auf. Ich sah Leute mit panischen Gesichtern, und wie sie dem Gefährt auszuweichen versuchten, aber die Berline raste vorbei. Ich hörte und spürte mehrere Schläge gegen den Kutschkasten. Sie wurden begleitet von den Schreien der Verletzten und dem Gekreische der Entsetzten. Dann verlor ich allen Halt und wurde aus der Kutsche geschleudert.
Ich hatte ungeheuerliches Glück, das ich in Fahrtrichtung herausfiel, den Kopf rechtzeitig einzog und so über die linke Schulter abrollen konnte. Es schien als vollführte ich ein Akrobatenkunststück, obgleich man meinen Körper sicherlich nicht als sportlich oder gar athletisch bezeichnen werden könnte. Reines Glück. Ich sage euch: reiner glücklicher Zufall. Mehr nicht. Der Schmerz, der mich durchzuckte von der Schulter über den Oberarm herunter bis in die Fingerspitzen. Die Hüfte, der Oberschenkel und das Knie zeugten später davon. Ich hätte mir auch das Genick brechen können.
Ich landete im Straßenstaub und etwas schlug mir an den Kopf. Es toste mir in den Ohren wie eine wilde Brandung. Schreie und Rufe überall. Dann folgte ein lautes Krachen. Nachdem ich, auf Knien wie zum Gebet, das Ausmaß der Katastrophe sah, wurde mir schlecht. Die Berline war durch eine Gruppe von Menschen gerast, eine Versammlung, in der jemand erklärte: Karl der Zehnte habe die Bildung einer liberalen Übergangsregierung akzeptiert und Louis-Philippe würde Generalstatthalter. Ich wusste, obwohl mein politisches Interesse sehr Bescheiden war, das zurzeit etliche europäische Staaten durch revolutionäre Proteste erschüttert wurden.
Mitten durch den Schleier, der sich vor meinen Augen bewegte, sah ich eine Gestalt, und ich wusste, wer es war. Obgleich ich ihn nur schemenhaft sah. Er stand leicht gebeugt hinter einer Frau, die mit angewinkelten Beinen auf der Straße hockte und weinte, mit einem Mädchen im Arm. Dann war es mir, als sehe er mich direkt an. Etwas, eine Reflektion vielleicht, ich weiß es nicht besser zu sagen, leuchtete in diese blauen Gläser seiner Brille auf, ein Schauern durchfuhr meine Glieder und endlich empfand ich gar nichts mehr.
Als ich erwachte, fühlte ich einen wüsten pochenden Schmerz im Kopf. Jemand sprach mich an. Doch es brauchte eine Zeit, bis es mir gelang, mich auf das Vorgefallene zu besinnen.
„Wie geht es Ihnen?“, hörte ich den Engländer fragen. „Was für ein Schlamassel. Eine Katastrophe.“
„Was ist passiert?“, sagte ich mechanisch.
„Ich glaube, dass irgendjemand den Redner erschossen hat. Durch den Schuss gingen die Pferde durch. So viele Verletzte. Wir hatten großes Glück gehabt.“
Ja, das hatten wir wirklich, denn mindestens einen halben duzend Menschen lagen oder krochen verletzt auf der Rue Morgue. Wenn man bedenkt, war es schon seltsam, dass dieser Unfall fast direkt vor meiner Haustür geschah.
Doch es brannte eine Frage auf meine Seele und ich sagte: „Haben Sie vielleicht einen Mann im grauen Dandy, Zylinder und einer auffallenden blauen Brille gesehen?“
„Nein“, erwiderte der Engländer.

Ich saß in einem Café, rauchte und las meine Notizen, die ich in einem kleinen, in schwarzes Leder gebundenes Heft, welches ich stets bei mir trug, notierte. Diesem Büchlein vertraute ich so ziemlich alles an, was mich bewegte …
Träumerisch schaute ich über meine Notizen hinweg durch das Fenster auf die atmende Stadt der Liebe, die ich doch nie fand, und sah dann mein Bild in der Scheibe sich wiederspiegeln. Welches weibliche Wesen, welch holdes Frauenzimmer sollte sich für ein schmächtiges, dunkelhaariges und melancholisches Kerlchen wie mich erwärmen?
Die Begegnung heute hatte mich sehr aufgewühlt. Noch vor einige Zeit hatte ich mich mit dem Gedanken angefreundet, dass ich den Mörder meiner Mutter nie würde finden können. Zu verschwommen waren die Hinweise auf diese Person und resultierten, eigentlich bemerkte ich die Lächerlichkeit schon lange, einzig aus den Träumen eines kleinen Jungen, der ich mal war. Ich überflog noch einmal die Aufzeichnungen dieser Träume:
Aus dem Traum erwacht, hatte ich wirre Gedanken, die sich aber langsam auflösten, wie früher Nebel im morgendlichen Sonnenstrahl. Ich lag rücklings auf der Pritsche, die Augen geschlossen, und versuchte mich zu erinnern. Zunächst waren nur meine Gedanken, die gebetsmühlenartig Worte flüsterten, die des Erinnerns zuträglich sein sollten. Ich wollte mich daran entsinnen, was es mit diesem Traum auf sich hatte. Denn mir zitterten jetzt noch die Glieder und ein leichtes Frösteln ließ eine Gänsehaut zurück. Aber da war nur schwärze; doch dann, eine Räumlichkeit:
Ein unbestimmtes Zimmer mit einem Bett, über dem sich eine Gestalt beugte, fast glaubte ich ein altes Bild zu sehen, sepiafarben. Aus unbestimmte Richtung wurde die Szenerie von einer schwachen Lichtquelle beleuchtet. Sie flackerte leicht, das gab mir die Gewissheit, dass es sich hierbei um keine Daguerreotypie handelte.
Zunächst geschah nichts. Ich sah den Rücken des Mannes und die unbeweglich unter einer Decke liegende Gestalt. Immer wieder zerstoben, die ins Gedächtnis gerufenen Bilder der Traumerinnerung zu diffusen Fetzen. Einmal sah ich wie die Gestalt im Bett sich plötzlich ruckartig aufrichtete, sie schien zu husten, dann sah ich den Mann, er drehte sich um und schien mich direkt anzusehen. Es schauderte mich. Sah er mich an oder nicht, ich konnte es nicht mit Bestimmtheit feststellen, denn er trug eine blaugefärbte Brille. Später als ich darüber nachdachte wunderte es mich doch sehr, da der Rest des Traums farblos erschien. Dann versuchte ich mich stärker zu konzentrieren, aber es tauchten andere Bruchstücke auf, aus meinem hier und jetzt. Ich spürte, wie der Traum verloren war und ich hofft auf den nächsten Schlaf, der mir tieferen Einblick in diese eigenartige Anhäufung von sich ähnelnden Traumsequenzen geben würde. Was war es nur, dass in mir eine beängstigende Emotion auslöste? Warum dieser Traum von der Liegestatt, in der ich die Gestalt unter der Bettdecke nie zu sehen bekam? Zu mindestens erinnere ich mich nicht daran; aber jedes Mal: diese Angstzustände.
Ich las diese Stelle noch mehrere Male und ich war wütend über mich selbst. Wie konnte ich ihn, jenen, den ich schon so lang suchte und doch niemals und nirgendwo fand, entkommen lassen? Jetzt da er an einen mir unvermuteten Ort, nach undenklicher Zeit, aufgetaucht war!
Ich verlies das Café in einen unmöglichen Gemütszustand. Passanten blieben wie angewurzelt stehen und starrten mich erschrocken an. Ich muss wohl lautstark vor mir her geschimpft haben und bemerkte, dass ich immer wieder die rechte Faust in die linke Handfläche schlug und dabei mit den Schuhen auf den Pflasterstein aufstampfte. Kurz gesagt, ich gebärdete mich wie ein Wahnsinniger, wie jemand der aus einem Tollhaus ausgebüxt sei. Als ich dies Selbst bemerkte, war ich heilfroh, dass man mich nicht in Obhut der Gendarmerie verbrachte. Sofort stellte ich dieses Verhalten ein. Ich entschuldigte mich bei den Umstehenden und sah zu, das ich den Ort meines Auftretens, schnellst möglichst verließ.
Dieser Fremde spukte mir im Kopf herum. Keinen anderen Gedanken konnte ich vernünftig fassen, ohne dass ich mich nicht zu ihm zurückwendete. Es gab noch so viel anders über, dass ich sinnieren wollte. Ich hatte mich an kleinen literarischen Texten zu versuchen. Um Inspiration bemüht, beschloss ich, meine Wohnung zu verlassen und einen Spaziergang am Ufer der Seine zu machen.
Es ließ sich leichter überlegen, wenn man ging und es gab viele Wege, auf denen man hinunter zum Fluss gelangen konnte, aber ich wählte den, der zu meinen trüben Gedanken passte. Er war steil und brachte mich hinaus auf einem trübseligen, windigen Flussufer.
Ein kalter, schwerer Regenschauer ging runter, Blätter fielen von den Bäumen und die Äste standen kahl gegen den Wind, und dem kalten, winterlichen Licht. Nun hatte ich den Fremden, in dem ich den Mörder meiner Mutter zu erkennen glaubte, zum zweiten Mal aus den Augen verloren. Aber hatte er wirklich das getan, wofür ich ihn für schuldig hielt? Was hatte ich denn eigentlich für Beweise? Als Kind, im Alter von sieben Jahren, hatte ich ihn gesehen. Er betrat das Haus eines kranken Nachbarjungen, welches ich nur flüchtig kannte, weil er mehr seinem gestrengen Vater auf dem Hof half, als mit uns Kindern auf der Straße zu spielen. Er starb an diesem Tag. Dann sah ich ihn am Bett meiner Mutter. Dieses Bild brannte sich in mein Bewusstsein und wurde so zu dem Albtraum, der mich auch heute noch quält, da meine Mutter an jenem Tag starb. Mir wurde klar, nach dem ich Fragen nach den Fremden stellte und man mir nichts über ihn sagen konnte, weil man nicht wusste, von wem ich redete, dass er ein Mörder war, der sehr geschickt zu Werke ging. Was mich sehr erstaunte, als ich ihn auf der Rue Morgue wiedersah, war die Tatsache, dass er um kein Jahr gealtert schien. Nun, das lag wahrscheinlich an der verklärten Sicht eines Kindes und wie ich ihn im Gedächtnis behalten hatte.
So gedankenschwer kam ich an einer der vielen Brücken, die die Seine querten. Es war wohl die Älteste in Paris und führte über die Spitze der Seine-Insel. Der Nordteil hatte Sieben Steinbogen und der Südteil hatte fünf, über jedem Pfeiler befand sich auf beiden Brückenseiten eine runde Brückenkanzel. Und auf eben jenem Südteil über dem dritten Bogen sah ich schemenhaft eine Person stehen.
Niemand würde sich dorthin begeben, ohne die eindeutige Absicht zu haben, sich in den Fluss zu stürzen.
Egal was den Selbstmörder bedrückte, welch Seelenqual oder Gewissensbisse ihn materten, ich konnte es nicht zu lassen. Vielleicht könnte ich mit ihm reden, davon überzeugen, dass nichts so schlimm sei, um nicht einer Lösung zu geführt zu werden. Jedenfalls wollte ich es versuchen und begann zu rennen.
Außer Atem erreicht ich die Stelle, wobei ich fast eine weitere Person, welche wohl von der anderen Seite der Brücke gekommen sein musste, um zu helfen, anrempelte. Allerdings achtete ich nicht weiter auf den behüteten Gentleman, sondern wandte mich gleich an die unglückliche Gestalt und gebot mit verzweifelter Stimme: „Halt! Tun Sie nichts Unbedachtes! Bitte!“
Es war eine junge Frau durchnässt bis auf die Haut, zitternd, das Haar angeklatscht, die an eng am Körperangelegten Krähenflügeln erinnerten. Ihr blasses Gesicht wendete sich mir nur kurz zu und ich sah, wie ihre blauangelaufenen Lippen tonlos Worte formten. Die tränenvollen Augen schauten hoffnungslos und traurig in die Welt. Dann wandten sie sich wieder dem bleigrauen Wasser zu.
Vielleicht aus enttäuschter Liebe oder aber ein schwerer Schicksalsschlag …
Natürlich war das nicht die Frau mit dem Kind im Schoß? Der Kutschunfall! Mein Gott!
Doch es war Gram unendlicher Gram, der sie springen ließ. Sie versank wie ein Stein. Hätte ich hinterher springen sollen, um sie zu retten? Zweifellos nicht! Denn auch ich wäre rettungslos in dem kalten tückischen Wasser der Seine untergegangen.
„Mein Gott“, entfuhr es mir, „das arme Geschöpf.“
Ich drehte mich um und sah den Mann sich schnell entfernen, also rannte ich hinter ihm her; ich wollte mit jemandem reden, wollte jetzt nicht allein bleiben.
Er riss sich heftig los, als ich seinen linken Arm erfasst hatte, sodass ich ins Schwanken kam und kurz einknickte. Er war schnell, das musste ich zugeben, denn bevor ich mich aufrichtete, war er von der Brücke runter und aus meiner Sicht, hinter den baumbestanden Weg, entschwunden.
Was war nur los mit diesem Typ? Ich fand seine Reaktion ein wenig zu heftig. Zugegeben, das erlebte grade setzte auch mir zu. Ich spürte, wie meine Glieder anfingen zu zittern. Aber es war doch seltsam. Zu nächst wollte ich ihm hinter her, entschloss mich aber dagegen, was Hilfs? Ich wollte noch einmal zurück an die Stelle, wo sich das arme Ding in die Seine gestürzt hatte. Keine Ahnung warum. Als ich mich umdrehte, trat ich mit dem Absatz auf etwas drauf und es brach, und dann war das Knirschen von splitterndem Glas zu hören. Ich erschrak und es war mehr als eine Ahnung, was ich zu sehen bekommen würde. Unter meinem Schuh ragte ein verbogener Ohrbügel hervor. Ich erkannte die Gläser augenblicklich mit ihrer charakteristischen Färbung. Sie waren blau und ich spürte, wie mich alle Kraft verließ.
Wie ich zurück in mein Zimmer kam, wusste ich nicht mehr zu sagen, aber in meinem Besitz befand sich nun die zerbrochene Brille. Ich legte sie auf die Kommode neben dem Affenbild. Erschöpft streckte ich mich auf meinem Bett aus, und kaum da ich lag, war ich eingeschlafen.
Ich wusste, dass ich schlief. Aber der Traum war so lebensecht. Ich erinnere mich, gerade jetzt, wo ich mich von der einen auf die andere Seite drehe, dass ich so einen Traum nur einmal hatte. Es war im Alter von sechzehn Jahren und ich war bis über beide Ohren in Maggie Masters verliebt, und das bescherte mir meinen ersten feuchten Traum. Wie real die Träumerei werden konnte, war schon unheimlich, man spürte es tatsächlich körperlich, obwohl man wusste, dass man in einem Traum lag. Dieser hier war einer der Schrecklisten, ein wahrer Alptraum, schlimmer als jener vom Totenbett meiner Mutter und dem Fremden. Er war unheilverkündend. Die drohende Gefahr war körperlich spürbar geworden und ich konnte dem nicht entfliehen. Es war als wär ich dick in Gaze gehüllt und mein Bett, in dem ich lag war, nicht weit, aber ich konnte einfach nicht aufwachen, ich kam einfach nicht zu mir durch.
Das Feuer brach in der Nacht aus. Es flackerte hell durch das Fenster in mein Zimmer hinein und irrlichterte über meine Augenlider. Noch war ich nicht wach. Ich glaubte im Traum, dass ich es träume, aber ich hatte die Schwelle des Bewusstwerdens bereits überschritten. So roch ich den Rauch und hörte die Stimmen, die von draußen gedämpft an meine Ohren drangen. Gefahr! Ich schnellte von meinem Lager empor, wankte, wegen des langsam anlaufenden Kreislaufs und drehte mich einmal im Kreis um mich zu orientieren. Doch hier war alles ruhig und dunkel bis auf den Lichttanz auf den leicht trüben Scheiben des Fensters. Ich schaute hinaus.
Das Haus brannte lichterloh. Flammen schlugen aus den geborstenen Fenstern und dem eingestürzten Dach meterhoch. Es war das Gebäude jenseits der Grundstücksmauer zur Rue Morgue. Wie das Schicksal alles zu verknüpfen verstand. Denn dort wohnte Marie, die ihre Tochter verlor durch den Kutschunfall. Es war also Marie, die ich nicht vor den Sprung in das kalte Element der Seine abhalten konnte. Jetzt brannte das Haus, in dem nur noch Paul wohnte, Maries Mann. Was wollte das Schicksal mir damit zeigen, da ich doch nichts mit diesen Leuten gemein hatte, außer der zufälligen Begegnung? Und jedes Mal war er da! Warum wusste ich nicht, aber es steuerte mein Handeln.
„Er wird da sein“, sagte ich und eilte die Treppe hinunter. Auf der Straße folgte ich der neugierigen Menge. Diese Menschentraube machte einen solchen Lärm, dass das Geläut der Abtei Saint – Germain –des – Prés, welche sich im 6. Arrondissement befand und doch eine kleine Strecke entfernt war, übertönte.
Als wir um die Ecke bogen, spürte man schon die enorme Hitze, die von dem Brand ausging. Die Spritzenmannschaft und der Steigertrupp waren bereits im vollen Einsatz. Das Sappeur – Pompier - Bataillon hatte drei Handdruckspritzenwagen vor Ort.
Wer immer sich in dem Haus aufgehalten haben sollte und keinen Weg hinaus fand, war verloren. Mit meiner rechten Hand schirmte ich die Augen vor der sengenden Hitze des Feuers ab. Ich suchte hinter den Fenstern nach Anzeichen einer Bewegung, obwohl mir bewusst war, dass das völlig unmöglich erschien.
Wenn es den Spritzenleuten nicht gelang, das Feuer zu löschen oder ein Übergreifen des Feuers auf die anderen Häuser zu verhindern, drohte ein Großbrand, der das gesamte Vierte zerstören konnte. Noch in derart gedankenversunken nahm ich eine schattenhafte Gestalt war. Sie kam aus dem Seitengang des brennenden Gebäudes und schien nur von mir bemerkt zu werden, denn alle anderen starrten in das flammende Inferno, fasziniert ob der gewaltigen Zerstörungskraft des Feuers.
Ich hatte von den letzten Fehlschlägen gelernt und war nicht mehr so ungestüm, als ich die Verfolgung aufnahm. Ich glaube nicht, dass er mich bemerkte, denn ich sah, wie er die Rue Morgue entlang lief ohne Zögern, ohne Umschau.
Von Schatten zu Schatten schlich ich ihm nach. Als wir die Rue Morgue verließen und uns immer tiefer in den Gassen von Paris verloren. Vielmehr ich verlor mich, denn der Fremde vor mir lief zielstrebig und weitausschreitend vor mir her. Zu beiden Seiten von mir waren die Straßen dunkel, nicht ein Licht schimmerte irgendwo in einem Fenster. Dann wichen die Häuser einer Mauer, auf der ein schmiedeeiserner Zaun, wie aus dem uralten Stein gewachsen schien. Es war schwierig sich jetzt noch verstecken zu können, wäre er stehen geblieben und hätte sich umgesehen, so wäre ich bar aller Möglichkeiten mich zu verbergen. Er schien mich nicht zu bemerken. So folgte ich ihm mit größerem Abstand. Ich spürte das Klopfen meines Herzen und es schien in den leeren Straßen widerzuhallen, als ich ihn vor dem Eingangstor zu einem Friedhof stehen sah.
Er betrat den Gottesacker und ich fragte mich, was er wohl hier wollte, und so betrat auch ich die Stätte, wo die Toten zu ewigem Frieden begraben wurden. Immer darauf bedacht, die Schatten von Bäumen und Grabmälern zu nutzen.
Er drehte sich kein einziges Mal um, während er die verzweigten Wege durch den Friedhof schritt. Wenn der Mond hinter den Wolken verschwand, wurde es sehr finster und ich musste achtgeben, dass ich nicht über einer Baumwurzel oder einer Grabbeigabe stolperte, und mich verriet. Aber ich war mir beinahe sicher, dass er meine Anwesenheit nicht bemerkt hatte. Trotzdem hatte ich große Mühe ihm zu folgen. Er Schrittaus, als könne er im Dunklen sehen.
Dann plötzlich war er verschwunden, wie der Mond, und ich blieb stehen und suchte irgendetwas zu sehen. Vergebens. Ich horchte. Nichts. Vorsichtig tastete ich mich weiter. Mein ganzer Körper zitterte vor Konzentration, die Arme ausgestreckt.
Natürlich stolperte ich und landete auf dem Boden. Der Untergrund war hart, eben und körnig. Ich schalte mich ein Narr. Gottlob war ich auf den Weg gefallen, als ich strauchelte und ein Geräusch verursachte wie ein Sack voll Lumpen. Ich hätte mir auch den Schädel an einem Grabstein oder einer Grabplatte zerstoßen können. Jedenfalls musste mein Verfolgter meine Anwesenheit nun gewahr worden sein. Also richtete ich mich nicht zur Gänze auf, sondern blieb auf den Knien und starrte in die Dunkelheit. Und noch bevor der Mond wieder seinen verdeckten Schein auf uns niederfließen ließ, sah ich ihn vor mir stehen.
Er war eine glühende Statue in der Finsternis.
Gleichzeitig mit dem Schein des Mondes richtete ich mich auf und er drehte sich geisterhaft langsam um und wir standen uns vis à vis gegenüber.
Da er nur eine Armlänge von mir entfernt stand, konnte ich sein Gesicht zum ersten Mal in allen Details betrachten. Es war bleich wie Pergament. Die Lippen nur schwarze Striche als hätte jemand sie mit Kajal aufgetragen. Die Augen, versteckt hinter der vermaledeiten Brille, konnte ich nur erahnen. Ich spürte, wenn ich sie sähe, dann würde ich meinen Verstand verlieren.
„Du bist es“, sprach ich ihn an.
Er zeigte keinerlei Regung. Stand nur da wie eine Statue aus Marmor.
Und umso länger er mich anstarrte hatte ich das Gefühl zu versinken. Wie man es in einem Traum hat, wenn man fällt. Einem Sog gleich, der einen ins schwarze Loch zieht, oder ins Nichts. Und dann war ich körperlos. Ich schwebte über einer Stadt, die mir sehr bekannt war. Ich sah mich über die Belvedere Square gehen. Ein Mann, im Hintergrund, stand im Eingang zum Lokal Ryans Tavern, mir auch als Gunners Hall bekannt, er schimpfte. Ohne Zweifel, es war meine Geburtsstadt Baltimore.
Ich machte, dort auf der staubigen Straße, jedenfalls einen heruntergekommenen und verwirrten Eindruck. Ich schien betrunken oder krank. Dann strauchelte ich und fiel nieder, mit dem Gesicht in den Staub.
Der Mann in der Lokaltür stürzte hinzu und kniete sich neben mich nieder. Als er mich umdrehte, sah ich, dass ich es tatsächlich war, nur älter. Vielleicht zwanzig oder dreißig Jahre. Und dann sah ich ihn, in seinen grauen Anzug, die blauen Gläser seiner Brille blitzten im Sonnenlicht und er beugte sich zu mir herab.
Der Mann, welcher mir helfen wollte, gestikulierte wie wild und schien laut zu rufen. Es kamen daraufhin einige Leute aus dem Lokal. Sie bemühten sich um mich, aber es war schon zu spät, ich war tot.
Eine Gänsehaut überzog meine schwebende Gestalt, dann spürte ich wieder den Sog.
Ich stand im Zimmer meiner Mutter. Sie lag im Bett und wurde von heftigem Husten und Krämpfen geschüttelt. Und da spürte ich seine Anwesenheit noch, bevor ich ihn sah. Warum war sonst niemand dort, bei meiner Mutter um zu helfen? Ich stand nur weinend da und wusste nicht, was ich tun sollte, ich war doch noch viel zu klein.
Die Verzweiflung ließ in mir einen Hass aufkommen, der mich aus diesen Visionen in die Realität riss. Ich fragte nicht, wie er es angestellt hatte, mich in diese Trauwelten zu entführen. Wahrscheinlich war es Hypnose. Ich löste mich schlagartig aus seinem Bann und stürzte mich auf ihn. Ich wollte meine Hände um seinen Hals legen und alles Leben aus seinem Körper drücken. Aber ich war noch zu sehr benommen von der Trance, dass ich an ihm vorbei stürzte.
Ich landete mit dem Gesicht in einen Haufen nasser toter Blumen, die widerlich nach Vergänglichkeit rochen. Als ich mich aufrappelte und mir mit der Hand über das Gesicht wischte, sah ich Gartengeräte: Sparten und Harke. Ich griff mir den Sparten und drehte mich um.
Ich kann nicht beschreiben, mit welch Grauen ich auf diesen Mann starrte, die Hände noch fest um das Holz des Schaftes geschlossen, deren Ende das Spatenblatt, mitten im Gesicht des Unglücklichen steckte. Ich hatte ihm den Schädel gespalten.
Ich betrachtete die letzten Zuckungen seines sterbenden Körpers mit Gleichgültigkeit; war es nicht das, was ich wollte? War nicht Rache mein Motiv?
Ich begrub alle Selbstzweifel und auch ihn in einer uralten Grabstätte. Hier würde niemand meine Gräueltat entdecken.

Schwer atmend lag ich auf dem Bett. Mein Zimmer roch nach nasser Erde vom Totenacker. Und als ich die Augen öffnete, fiel mein Blick auf das Bild. Ein altes Bild in Sepia mit schlichtem Holzrahmen. Es zeigte drei Männer und einen Menschenaffen. Sie schienen einer Expedition angehört zu haben. Sie trugen noch ihre Khakiuniformen und Tropenhelme. Der tote Affe war an einem hölzernen Gerüst gehängt.
Ich erhob mich und nahm das Bild in die Hand und betrachtete es eingehend. Einer dieser Männer war er. Er trug keine Brille. Doch sein Blick war stechend. Auf der Rückseite war ein Datum geschrieben: 1732.
Es konnte unglaublich derselbe Mann sein. Er sah schon etwas seltsam aus, aber er sah nicht wie einhundert Jähriger aus. Vielleicht ein Enkel, wer weiß. Doch in mir keimte ein Verdacht. Was wenn er kein Mensch war? Aber was war er dann? Wen oder was hatte ich getötet?
Ich erinnerte mich an eine beunruhigende Schlagzeile aus der Zeitung, da war von einer Choleraepidemie die Rede und es sollen bislang schon rund 10 000 Menschen gestorben sein. War es deshalb in Paris?
Da war das Gespräch von Marie und Paul. Ihre Angst und das der Tod umgehe.
Mir wurde schwindelig und wankend suchte ich halt an der Kommode und gewahrte, dass die blaue Brille verschwunden war.
Nein, das konnte alles nicht sein. Ich stürzte aus dem Zimmer, die Treppe hinab und stürmte auf die Straße. Ich rannte wie besessen die Gassen entlang bis ich am Friedhof angelangte. Dann stand ich vor dem Grab und stach das Blatt der Schaufel heftig in das aufgeweichte Erdreich. Der Regen klatschte mir von der Seite entgegen, tropfte mir von der Nase und den Lippen. Immer hektischer wurden meine Bemühungen die Erde aus dem Grab zu entfernen. Ich glühte. Ein Gedanke raste stetig durch mein Gehirn, es konnte nicht sein, er würde noch dort unten bei den Toten verweilen. Als der dumpfe Klang des Sarges, auf den ich gestoßen war, aus dem Grab empor zu mir drang, fiel ich verzweifelt auf die Knie. Ich wusste ganz genau, dass ich nicht das falsche Grab vor mir hatte. Sein Leichnam war nicht mehr da. Meine Hände krallten die Erde, denn jetzt wurde mir ganz deutlich vor Augen, was ich getan hatte. Ich hatte versucht, den Tod zu töten.
 



 
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