Der Tod ist Türkis

Frank Zimmermann

Junior Mitglied
DER TOD IST TÜRKIS
Die Gischt schäumte weiß und lockte leise. Sie flüsterte in sein Ohr: „Komm zu mir!". Ihr Flüstern verwunderte ihn und schien sanft, obwohl der Wind stark war und der Brandung den Rücken stärkte. Natürlich, eigentlich brüllte sie, aber die 300 Meter Fels zwischen ihm und ihr schluckten den Schall und ließen nur ihr charmantes Wispern an sein Ohr dringen. Sehnsüchtig fielen seine Blicke den Felsen hinab zu ihr. Sie umschmeichelte den schroffen Stein mit ihrer unnachahmlichen Weichheit, gab es eine größere Verlockung für ihn? Doch das schönste am Bild, das sich ihm bot, war der Tod. Das dunkle, geheimnisvolle Blau nahe der Felsen war so intensiv, wie sein Schmerz und so tief, wie seine Verzweiflung, doch der Tod, nahe an den Klippen, war von verspieltem Türkis.
Dabei hatte alles so gut angefangen: Das günstige Last-Minute-Angebot, seine Vorfreude auf den erhofften Sommer zu einer Zeit, da die nördliche Erdhalbkugel den Herbst auf den Spielplan setzt... alles schien perfekt. Das frühe Aufstehen am Tag der Abreise konnte ihm nichts anhaben. Er genoß das LTU-Lächeln der professionell-freundlichen Stewardeß, freute sich mit den Kindern über die billigen roten Mützen, die sie geschenkt bekamen, und genoß das in Plastik eingeschweißte Normfrühstück, in den Maßen 15x27 cm. Der Kaffee erinnerte ihn an den Automaten im Büro, aber der war ja zum Glück mit jeder Minute weitere Kilometer entfernt. Auf der Insel brachte ihn der Transfair-Bus reibungslos zu seinem First-Class-Hotel, wo er sich in seinem geschmackvoll eingerichteten Einzelzimmer auf anhieb gut aufgehoben fühlte. Nur die Rubens-Reproduktion über seinem Bett war ihm eine Spur zu düster.
Der Tod lächelte. Die ihn umgebende Schwärze, die immer wieder von Schaumkronen blendend weiß durchbrochen wurde, konnte ihm nichts anhaben, sondern wirkte im Gegenteil eher wie ein dunkler Rahmen aus glänzendem, poliertem Holz, der das leuchtende Türkis besonders betonte. Salzwassertropfen stürzten sich von seinem Gesicht, ohne Fallschirm, um sich nach 300 Metern freiem Fall mit dem ebenfalls salzigen Türkis zu verbinden. Der Tod schmeckt salzig.
Er leckte das Salz von seiner Hand und schmeckte danach das bittere Schauern des Tequillas, der sodann vom Zitronenstich gleichsam verstärkt und überdeckt wurde. Es war nicht schlimm, wenn er eine Fratze schnitt, denn sie zog eine so unverblümte und charmante Grimasse, daß ein Lachen sein Gesicht überflutete und die große Watte in seinem Kopf alle Zweifel in sich aufsog und nichts übrig ließ, außer einem rauschenden Schwindel, der ihn im Zenit des Glücks sitzen ließ. Durch den Alkohol glühte der Sonnenbrand in seinem Gesicht, doch das ließ ihn den Sommer nur noch intensiver fühlen und weil er den Sommer liebte, liebte er auch den Brand. Im Sommer ging alles so einfach, zu einfach: Er las am Swimmingpool und sie verursachte mit einem übermütigen Kopfsprung ins verlockende Synthetiktürkis eine Fontäne, die sein Buch zu Wellpappe werden ließ. Sie tauchte auf und entschuldigte sich. Eine grimmige Sekunde drohte alles zu blockieren, doch dann sah er ihre Augen und lachte. Zuerst lachten nur ihre Augen, doch dann nah es Besitz von ihrem ganzen Gesicht und schließlich machte es sich auf ihren vollen Lippen breit. Er verliebte sich auf der Stelle in dieses Lachen und im anschließenden Gespräch legte er ihre Bewährungsstrafe für ihr Wasserbombenattentat in Höhe eines Drinks an der Hotelbar fest. Kurz schien sie zu zögern und schon schien die Enttäuschung seine Magengrube zu erobern, doch dann stimmte sie zu: „Gegen zehn, okay?" „Prima!"
Eine Stimme zerriß das vertraute Flüstern: „Könnten sie wohl ein Foto von uns machen?" „Wie?" „Ein Foto, wir sind in den Flitterwochen und hätten gern ein Erinnerungsfoto von uns, mit dieser atemberaubenden Natur im Hintergrund." „Ja, natürlich, entschuldigung, ich war in Gedanken." „Hier der rote Knopf, einfach durch den Sucher gucken und dann abdrücken!" „Ja gut, ... fertig?" KLICK. „Danke!" „Ja." Ruhe. Rückkehr ins Rauschen. Flitterwochen, welch Ironie! ...und dann, einfach abdrücken, Peng! Was für ein Schluß, eines Shakespeares würdig. Nur das Türkis hätte er vielleicht zu kitschig gefunden, der olle Wiliam.
Kurz vor zehn saß er an der Bar. Mit Seide und Knitterleinen hatte er versucht sich betont lässig und trotzdem dem Anlaß entsprechend zu kleiden. Ein Hauch von Eau de Toilette mit besonders leichter Herznote rundete seine Erscheinung ab und ließ ihn, davon war er überzeugt, noch eine Spur unwiderstehlicher wirken. Diese Ausstrahlung hatte er nur im Sommer, dachte er, und natürlich auch dieses ausgeprägte Selbstvertrauen. Sie trug ein weißes Top und Bluejeans und sofort war ihm klar, daß er total overstyled war, Scheiße! „Hallo, da sind sie ja!" „Ja!" „Also, mit welchem Drink kann ich sie für das feuchte Mißgeschick von heute Nachmittag entschädigen?" „Äh, eigentlich bin ich nicht gekommen, um mich von ihnen Aushalten zu lassen. Diese Vereinbarung habe ich nicht vorgeschlagen um zu einem kostenlosen Drink zu kommen..." „Nun lassen sie mal gut sein. Erstens war diese Einleitung jetzt ein bißchen zu macho und zweitens kann ich mir das gerade noch leisten. Also, was trinken sie?" „Gin-Tonic?" „Joan, einen Gin-Tonic und einen Wodka-Lemon ohne Eis, por favor." Trotz des mißlungenen Einstiegs, den er als Strafe für seinen Höhenflug ansah, entwickelte sich ein lockeres Gespräch, wie es für den Sommer nicht typischer hätte sein können und nach einer knappen Stunde waren sie beim „Du", lachten gegen den Barlärm an und tranken Tequilla.
Jetzt, da er diesen Film auf seiner inneren Leinwand abspielte, sah er natürlich nur die Details, die er damals nicht wahrgenommen hatte. Sie brauchte den Alkohol um locker zu werden und spülte ihre Verachtung damit weg, die sie für die Welt, diesen Sommer, die Bar und auch für ihn empfand. Der Wind riß an seinem Haar und die ersten Regentropfen trafen seinen Kopf, wie eisige Nadelstiche. Er wünschte sich der Regen sei an allem Schuld, aber das wäre zu einfach gewesen und er wußte das. Er war zu weit, um sich noch selbst etwas vormachen zu können. In dieser Nacht an der Bar tranken und lachten sie. Er war berauscht und sie war betäubt. Jetzt wußte er, daß sie zu selbstverständlich mit auf sein Zimmer gegangen war. Er hatte sie genommen, ihren herrlichen Körper. Er hatte geglaubt es sei ein Geschenk, doch es war eine Opfergabe. So wie er jetzt den Regen nicht mehr spürte,
so intensiv spürte er den Donner, der ihn aus einem Schlaf riß, der durch die Mischung von Alkohol- und Gefühlsrausch besonders tief gewesen war. Er fröstelte, der kühle Wind ließ die Gardinen ins Zimmer flattern, die im Blitzlicht grell aufzuckte, als sei sie die Hand des Blitzes, die nach ihm griff. Das Gewitter war überraschen gekommen und hatte den Sommer verschluckt. Seine Hand spürte in die Leere, sie war weg.
Das Flitterwochenpaar flüchtete vor dem peitschenden Regen in seinen Mietwagen und reihte sich in den Strom der Touristenautos ein, die sich darin einig waren, daß dieser felsige Aussichtspunkt so hoch über dem tosenden Meer nicht der richtige Ort sei, um einen stürmischen Regentag zu verbringen. Der Himmel hatte sein morgendliches Versprechen von Sonne nicht gehalten.
Am nächsten Morgen tropfte das Grau des Himmels direkt in seine Seele. Zwar gab er sich fröhlich-zuversichtlich, zu diesem Zeitpunkt funktionierte die Selbsttäuschung noch, doch das Frösteln ließ nicht von seiner Haut. Das Hotelpersonal war betont freundlich, doch es war jene Mischung aus Freundlichkeit und Mitleid, wie sie einem Verlorenen kurz vor seinem Ende entgegengebracht wird. Er spürte den Fluch auf sich. Er wußte, daß sie ihn nicht für den Regen verantwortlich machten, doch nur weil sie nicht wußten was er wußte, der Regen galt ihm persönlich. Er sah sie im Speisesaal sitzen und ging zu ihrem Tisch. „Warum bist du nicht geblieben?" „Um neben meinem Mann aufzuwachen." „Deinem Mann? Ich dachte du liebst mich und wir wären zusammen!" „Tut mir leid, wenn du das dachtest, ich liebe dich nicht." „Und letzte Nacht?" „Ja?" „Habe ich mir deine Liebe nur eingebildet?" „Ja." „Weißt du, daß ich dich liebe?" „Jetzt ja-" „Und was sagst du dazu?" „Es tut mir leid, für dich." „Es tut dir leid?" „Ja." „Für mich?" „Ja." „Liebst du deinen Mann?" „Nein." „Nein?" „Nein." „Warum bleibst du dann bei ihm?" „Er ist ein sehr mächtiger Mann." „Und reich?" „Und reich." „Verstehe!" „Nein, du verstehst nicht, aber ich möchte dich trotzdem bitten jetzt zu gehen." „Aber..." „Auf die Diskretion des Personals kann ich mich verlassen und ich reise heute ab, mach es also bitte nicht unnötig kompliziert." „Aber..." „Du wirst mich nicht nie wiedersehen und bald ist diese Nacht nur noch als guter Urlaubsfick in deiner Erinnerung." „Aber ich liebe dich wirklich!" „Wenn das wahr ist, dann gehe jetzt um deiner Liebe willen ." „Aber..." Sie legte ihren Finger auf seine Lippen: „Kein aber, ich werde dich nicht bitten." Er küßte ihren Finger: „Auf wiedersehen." „Nein! Adieu."
Seit drei Monaten war dieses Adieu nun verklungen, doch es halte in seinem Kopf wieder und vermischte sich mit dem Flüstern der Brandung. Obwohl der Sommer wußte, daß sie ihn verachtete, schien er sie zu begleiten, denn er hatte die Insel mit ihr verlassen, so wie jetzt die Touristen den verregneten Berg. Er war allein, der einzige Besucher des braunen Gesteins, doch sie waren einander keine guten Gesellschafter. Auch in dem kleinen Hostal, in dem er seit jenem verfluchten Tag wohnte, war er schon längst der einzige Gast. Jeden Tag, der seit dem durch die Sanduhr der Zeit geronnen war, war er in den Regen hinausgegangen und jedesmal wurde er noch ein bißchen einsamer, so als strömte die Einsamkeit mit dem Regen auf ihn nieder. Der Schmerz, der zunächst stechend und zentral gewesen war füllte ihn nun ganz aus, umschloß seinen Geist und und floß in den Teich am Grund seiner Seele. Dieses dunkle Gewässer wurde brackig und faulig und zunehmend lebloser. War nicht das frische Türkis die Erlösung? Er stellte sich an die Kante, breitete die Arme aus und ließ sich fallen, um sich mit dem Türkis zu vereinen, wie zuvor schon seine Tränen.
Dreißig Zentimeter unter der Wasseroberfläche schlug sein Körper auf den scharfkantigen Felsen, der das ansonsten dunkle Wasser, das sich nun kurz rötlich verfärbte, türkis schimmern ließ.
Am folgenden Morgen brach die Sonne durch die Wolken und lockte wieder viele Touristen zum Aussichtspunkt über dem Meer. Sie fotografierten den zerschlagenen Körper, den die Brandung sanft wog.

(Übernommen aus der 'Alten Leselupe'.
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