Der Tod und Das Fräulein, 2. Fassung

Der Tod und das Fräulein
Kurzgeschichte von Stefan Seifert
2. Fassung

Annette von Trautenheim betrachtete nachdenklich ihren Ring. Er war aus Gold und hatte die Form von drei Schlangen mit Augen aus Rubinen, die mehrere Brillanten von bemerkenswerter Reinheit einfaßten. Als sie noch ein Backfisch war, hatte sie den Ring von ihrer Großmutter bekommen
„Ich will ihn dir geben, bevor ich einmal nicht mehr bin,“ hatte sie gesagt. „Er ist das Wertvollste, was ich besitze. Die anderen brauchen ihn nicht. Die sehen schon, wo sie bleiben. Aber du sollst den Ring haben. Er soll dich behüten und bewahren, dein ganzes Leben lang.“
Die anderen, die schon sahen, wo sie blieben, waren Annettes drei ältere Schwestern Sophia, Gundula und Wilhelmine. Sie waren resolute, lebensfrohe Personen und hatten alle drei früh geheiratet. Ihre Männer standen mit beiden Beinen im Leben und verdienten gut. Trotzdem waren die drei Schwestern bei Großmutters Tod wie Furien aufeinander losgegangen. Sie zankten sich um jede Tasse und jeden Teller ihrer Hinterlassenschaft. Und natürlich suchten sie nach dem Ring und verdächtigten sich gegenseitig, ihn genommen zu haben. Sie hatten schon mit dem Geld gerechnet, das sie sich von seinem Verkauf erhofften und waren jetzt wütend, weil das Erbe so gering ausfiel. Sie hätten wohl auch kaum die Begräbniskosten übernommen, aber Großmutter hatte vorgesorgt und zeitlebens in eine Hilfskasse für adelige Damen eingezahlt. Die sorgte für eine anständige Beerdigung.
Von Annette hatte niemand erwartet, daß sie einmal heiratete. Eigentlich hatte man überhaupt nie etwas von ihr erwartet, außer Zurückhaltung und Bescheidenheit. Die Mutter war bei Annettes Geburt gestorben. Aber das Kind war dieses Opfer nicht wert gewesen. Es war schwächlich und untergewichtig und der Arzt gab ihm nur wenige Tage. Dennoch holte man eine Amme, eine gesunde und starke Frau vom Lande. Mit Hilfe ihrer Milch überlebte die kleine Annette, aber sie blieb immer ein schwaches Pflänzchen, blaß, mit übergroßer Stirn, eingefallenem Gesicht, dünnen Armen und Beinen und anfällig für Krankheiten und Leiden aller Art. Als sie in die Schule kam, zeigte es sich, daß sie klug war, klüger als die meisten ihrer Mitschülerinnen, aber da sie oft wegen ihrer zahlreichen Erkrankungen fehlte, brachte sie es nie zu bemerkenswerten Leistungen.
Außer im Fach Malen und Zeichnen. Als sie in der siebenten Klasse war, bekam sie eine neue Zeichenlehrerin, Fräulein von Strehlow. Sie war anders als die anderen Lehrer, das merkte man gleich, als sie in die Klasse hereinkam, jung, mit schönen dunklen Augen und kastanienbraunem Haar, das sie hinten mit einem schwarzen Samtband zusammengebunden hatte. Eine Aura von künstlerischer Aspiration und unbekümmerter Frische umgab sie. Sie zeigte den Mädchen Drucke nach Bildern von Dürer, Rembrandt, Vermeer, Goya und sogar von Delacroix, was für die damalige Zeit und für diese Schule sehr mutig war. In der nächsten Stunde begannen sie dann mit praktischen Zeichenübungen. Fräulein von Strehlow ließ alle mit ihren Zeichenblöcken in einem losen Kreis Platz nehmen. In die Mitte stellte sie nichts weiter als einen leeren Stuhl. Den sollten sie zeichnen. Während ihre Schülerinnen sich abmühten, ging Fräulein von Strehlow herum, blickte auf ihre Arbeiten und gab hier und da Ratschläge. Hinter Annette blieb sie besonders lange stehen, sagte aber nichts. Danach sammelte sie die Blätter ein, legte sie nebeneinander auf einen langen Tisch und ließ die Mädchen davor Aufstellung nehmen. Sie besprach jedes einzelne Blatt und erläuterte dabei die Gesetzmäßigkeiten und Probleme der Perspektive. Annettes Zeichnung hob sie sich bis zum Schluß auf. Sie sagte über sie nicht viel, aber sie sagte es in einem besonderen Tonfall, nicht wie Lehrerinnen sonst vor einer Klasse sprechen.
„Der Unterschied zwischen dieser Zeichnung und den anderen, die wir hier sehen,“ sagte sie, „ist der, daß auf ihr dieser Stuhl ein lebendiges Wesen geworden ist, daß er gewissermaßen eine Seele bekommen hat. Das ist es, was Kunst ausmacht und von geschickter Handarbeit unterscheidet.“
Vielleicht war das das höchste Lob, das Annette jemals bekommen sollte. Es war aber nicht das letzte. In dem Stift für unverheiratete adelige Fräulein, in dem sie später ihr Leben verbrachte, wurde sie für ihre kunstvollen Entwürfe und Vorlagen für Stickereien geschätzt, nach denen dann zahllose Decken, Kissenbezüge und Wandbehänge angefertigt wurden. Sie aquarellierte auch viel, hauptsächlich Pflanzen und Blumen. Sie tat immer das, was man von ihr erwartete.
Ihr Leben verlief still und ohne nennenswerte Zäsuren. Ihre Schwestern waren eine nach der anderen gestorben. Zu deren Familien hatte sie keinen Kontakt. Jetzt näherte sich auch ihr Leben seinem Ende. Sie hatte die Achtzig schon fast erreicht. Der Ring hatte ihr gegeben, was die Großmutter sich von ihm erhofft hatte. Er hatte sie behütet und beschützt. Er hatte sie, die zeitlebens gekränkelt hatte, alt werden lassen.
Annette von Trautenheim betrachtete aufmerksam den Ring. Die Rubine glühten und verliehen ihm etwas Geheimnisvolles, Lebendiges. Auch das Feuer der Brillanten funkelte lebhaft. Annette hatte in all den Jahren den Ring nie getragen. Nur manchmal hatte sie ihn, so wie jetzt, aus ihrem Schmuckkästchen hervorgeholt und still für sich betrachtet. Es war dann, als müßten die edlen Steine in diesen seltenen Augenblicken besonders hell strahlen, ehe sie wieder für lange Zeit in der Dunkelheit verborgen wurden. Was würde wohl nach ihrem Tod aus dem Ring werden? Annette hatte ihre ganze Habe dem Stift zugedacht. Der Ring war dabei das einzige, was wirklich wertvoll war. Wahrscheinlich würde man ihn verkaufen. Es wurde ja immer Geld gebraucht für Reparaturen und Sanierungsarbeiten. Annette war es zufrieden. So tat sie über ihren Tod hinaus noch etwas Gutes.

Es war schon spät und Annette legte den Ring wieder in ihr Schmuckkästchen zurück. Sie verschloß es sorgfältig in ihrem Sekretär und begann, sich für die Nacht zurecht zu machen. Sie las noch ein wenig im Bett, aber bald fielen ihr die Augen zu und sie löschte das Licht. Sie war schnell eingeschlafen.
Mitten in der Nacht wachte sie auf. Sie spürte, daß sie nicht alleine war. Sie hob den Kopf und sah in dem Mondlicht, das durch die Fenster hereinfiel, eine schwarze Gestalt in der Mitte des Zimmers stehen. Sie trug einen weiten, bis auf den Boden reichenden Umhang und einen breitkrempigen Hut, der ihr Gesicht im Schatten verbarg. Sie bewegte sich nicht und schien starr in Annettes Richtung zu blicken.
Annette war eigentlich nicht überrascht. Sie wußte gleich, wer das war. Es war der Tod. Er war gekommen, um sie zu holen. Um sie heimzuführen. Sie erwartete ihn schon längst. Ihre Zeit war um. Insgeheim hatte sie gehofft, es würde im Schlaf geschehen. Wäre sie jetzt nicht aufgewacht, wäre das sicher auch so gewesen. Nun gut, es kam so wie es kam. Sie würde sich nicht widersetzen. Sie sammelte sich innerlich und sprach leise für sich ein Vaterunser. Dann wartete sie.
Die schwarze Gestalt rührte sich nicht. Vielleicht muß ich etwas sagen, dachte Annette. Sie flüsterte kaum hörbar: „Ich bin bereit.“
Der Schwarze reagierte nicht. Er stand reglos da und blickte schweigend zu ihr hinüber. Annette räusperte sich, um ihre Kehle freizumachen und wiederholte etwas lauter: „Ich bin bereit.“
Diesmal reagierte die Gestalt. Sie schnaubte. Ein Geräusch, mit dem man Verachtung ausdrückt. Dann begann der Tod zu sprechen.
„Du denkst wohl, damit ist es getan,“ sagte er. „Nimm mich mit, und das war es dann.“
Er ging jetzt langsam, wie jemand der sehr müde ist, zu einem Stuhl und ließ sich darauf nieder. Er stieß wieder hörbar Luft aus, aber diesmal klang es mehr wie ein Seufzen.
„Die Zwischenwelt, die eigentlich nur als Pufferzone, als Übergangsbereich für Engel und Dämonen gedacht war, ist voll von solchen wie dir. Unfertige Seelen, die nicht richtig gelebt haben. Die nicht ihren Abdruck in der Schöpfung hinterlassen haben, ihre sichtbare Spur. So, ohne Sinn und Zweck in Seinem Plan, können sie nicht vor ihren Schöpfer treten. Sie schaffen es nicht einmal, bis in die andere Welt hinüber zu kommen. Keine Chance. Sie haben zu wenig Substanz aufgenommen in ihrem irdischen Dasein. Und es werden immer mehr. Was soll denn einmal aus ihnen werden? Keiner weiß das. Wahrscheinlich wird man sie irgendwann einmal klammheimlich verschwinden lassen und dann so tun, als hätte es sie nie gegeben. Denn Er ignoriert sie. Er sieht nur den großen Entwurf. Ein Fehler im Schöpfungsplan? Doch nicht bei Ihm. Er ist über alle Kritik erhaben. Sein Wille geschehe in Ewigkeit. Amen.“
Er schnaubte erneut, diesmal zornig.
„Und wem gibt man am Ende die Schuld?“ fragte er anklagend. „Mir! Dem Tod.
Was, schon wieder eine irrlichternde Seele, ein nutzlos gelebtes Leben? Der Tod ist schuld, der Tod hat geschlampt, er hat sie vor der Zeit geholt. So einfach ist das. Man lese nur die Nachrufe: Viel zu früh riß ihn der Tod aus unserer Mitte ... Es ist zum Ausderhautfahren. Manchmal möchte man wahrhaftig den ganzen Krempel hinschmeißen.“
Er blickte jetzt wieder zu Annette hinüber.
„Was soll ich nun mit dir machen? Dein Karma ist praktisch ein leeres Blatt, eine Katastrophe. Was meinst du, wie weit du damit kommst? Und wieder wird man mir die Schuld geben. Er hätte noch warten müssen ... Na gut. Ich gehe wieder. Aber in ein paar Jahren muß ich ja doch wieder kommen. Dafür bin ich da. Schließlich kann niemand ewig leben. Und was wird dann sein? Meinst du, es wird sich viel geändert haben? Wohl kaum. Deine Seele wird immer noch nicht mehr sein als ein schwacher Hauch. Und du wirst dich wieder bequem hinlegen, die Hände über dem Bauch falten und sagen: Ich bin bereit!“
Der Tod schwieg. Auch Annette schwieg bekümmert und schaute verlegen vor sich auf die Bettdecke, wo sie tatsächlich ihre Hände über dem Bauch gefaltet hatte. Als sie nach einiger Zeit wagte, wieder zu ihm hin zu sehen, war er verschwunden. Annette schlief bald wieder ein. Diesmal schlief sie bis zum Morgen durch.

Nach dem Aufstehen betrachtete sie sich aufmerksamer als sonst im Spiegel. Ihr Haar war von hellem Grau und noch voll, sie hatte es hinten zu einem Nest zusammengesteckt, während es sich vorne über der Stirn bauschte. Die hohe, gewölbte Stirn, die sie früher so häßlich fand, gab ihr jetzt den Ausdruck intensiver Geistigkeit. Die Augenbrauen waren fein und klar gezogen, sie hatte noch nie einen Stift benutzen müssen, um sie zu betonen. Die Augen lagen etwas im Schatten und blickten forschend und leicht indigniert. Die Nase war schmal und ein wenig spitz. Von den Nasenflügeln führten feine Linien zu dem entschlossen wirkenden Mund, dessen Winkel stets bereit zu sein schienen, einen Ausdruck verletzter Würde anzunehmen.
In ihrer Jugend hatte sie als wenig attraktiv gegolten und so hatte sie sich auch selbst immer eingeschätzt. Jetzt hätte sie bei einem Schönheitswettbewerb alter Damen mühelos einen der vorderen Plätze belegt. Aber einen solchen Wettbewerb gab es nicht, jedenfalls nicht in ihrem Stift. Und sie hätte sich auch an einem solchen nie beteiligt.
Nach dem Frühstück holte sie ihre Zeichensachen, setzte sich vor den Spiegel und begann, mit Bleistift ihr Porträt zu zeichnen. Danach machte sie noch eine zweite und dritte Studie und am Ende gelang ihr ein ausgearbeitetes Bild mit Zeichenkohle. Sie besprühte die fertige Arbeit mit Fixativ und stellte sie an die Wand gelehnt auf den Boden. Sie war mit sich zufrieden. Es war das erste Mal, daß sie ein Selbstbildnis angefertigt hatte. Sie hatte sonst immer nur Blumen und Vögel gezeichnet, die sie dann als Motive für Stickereien verwendete.
Am Nachmittag kam ihre Freundin Susanne von der Wiese zu Besuch. Gemeinsam betrachteten sie das Bild.
„Das ist erstaunlich,“ sagte die Freundin. „Es wirkt so interessant. Das könnte eine Äbtissin sein, eine Heilige oder eine Priesterin. Aber gleichzeitig bist das auch du. Wie hast du das nur gemacht?“
„Ach, das ist doch nichts weiter,“ sagte Annette von Trautenheim verlegen und nestelte an ihrer Frisur. „Nur eine Studie.“
„Du trägst ja deinen Ring!“ rief Susanne von der Wiese erstaunt und ergriff Annettes schlanke, für ihr Alter erstaunlich wohlgeformte Hand. „Das hast du doch sonst nicht getan. Gibt es dafür einen besonderen Anlaß?“
„Nein, nein. Ich wollte nur sehen, ob er mir noch paßt. Eigentlich entspricht er ja gar nicht meinem Geschmack. Ich bevorzuge mehr das Schlichte.
Ich denke, ich werde ihn verkaufen. Ich brauche Geld für eine neue Staffelei. Und für Garderobe. Weißt du, wie lange ich mir schon keine neuen Sachen mehr gekauft habe?“

Am Abend saß Annette lange nachdenklich an ihrem Sekretär. Vor sich hatte sie einen Bogen Papier liegen. Zögernd schrieb sie etwas nieder, immer wieder innehaltend, Worte oder Sätze durchstreichend. Schließlich knüllte sie das Blatt zusammen und warf es in den Papierkorb.

Am nächsten Tag ging sie zum „Städtischen Anzeiger“.
„Ich möchte eine Annonce aufgeben,“ sagte sie leise, aber bestimmt zu der Frau hinter dem Schalter.
„Handelt es sich um einen Trauerfall?“ fragte die Angestellte.
„Nein, um eine Kontaktanzeige,“ erwiderte Annette errötend.
Die Frau reichte ihr schweigend ein Formular. Annette setzte sich an den entferntesten Tisch im Raum und begann das Papier auszufüllen.
„Kultivierte ältere Dame,“ schrieb sie, „mit Interesse für bildende künstlerische Tätigkeit sucht einen seriösen Herrn passenden Alters, mit dem sie noch einige schöne gemeinsame Jahre verbringen möchte.“ Nach kurzem Überlegen fügte sie hinzu: „Ich würde auch gerne Reisen mit ihm unternehmen, da ich noch wenig von der Welt gesehen habe.“
Sie las den Text noch einmal durch und fand ihn steif und töricht. Doch glaubte sie nicht, daß sie die Kraft hatte, ein neues Formular zu holen und noch einmal von vorne zu beginnen. Sie stand rasch auf und ging mit dem Blatt zu der Zeitungsangestellten.
„Wann wird die Anzeige erscheinen?“ fragte sie. „Könnte es noch diese Woche sein?“

Wegen des Rings wandte sich Annette an den Juwelier Seidelmann. Die Damen des Stiftes gingen seit jeher ihm. Er kannte sie alle und war nicht nur ihr Juwelier, sondern auch so etwas wie ein Intimus.
Der alte Herr Seidelmann betrachtete Annettes Ring mit der Lupe vor dem Auge lange und gründlich.
„Ein besonders schönes Stück,“ sagte er. „So etwas sieht man heutzutage selten. Das ist noch gediegene alte Goldschmiedearbeit. Und die Steine sind wundervoll. Ihr Feuer ist erstaunlich.“
Er gab Annette den Ring zurück.
„Ich könnte Ihnen ein gutes Angebot machen, Fräulein von Trautenheim. Doch der Geldwert entspricht nicht dem tatsächlichen Wert dieses Kleinodes. Überlegen sie es sich doch noch einmal. Sie können gerne jederzeit wieder vorbeikommen. Etwas so Schönes verkauft man nicht ohne zwingenden Grund.“

Als die Annonce in der Zeitung erschien, glaubte Annette, daß man sie sofort als die Urheberin identifizieren würde. Eine „ältere Dame mit Interesse für bildende künstlerische Tätigkeit“, das konnte doch nur sie sein. Aber niemand schöpfte auch nur den geringsten Verdacht. Sie wartete ein paar Tage, dann ging sie zu dem Anzeigenbüro der Zeitung und fragte, ob Post für sie eingegangen sei. Die Angestellte, die selbe, bei der sie die Annonce aufgegeben hatte, sah nach und brachte ihr drei Briefe. Annette bekam einen Schreck. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Sie spürte, daß sie etwas getan hatte, was den Zirkel ihres gewohnten Lebens sprengte.
In ihrem Zimmer legte sie die Briefe vor sich hin und zögerte. Schließlich nahm sie ihren Mut zusammen und öffnete den ersten.
„Sehr geehrte Dame, ...“ Ein Witwer suchte eine Frau für Haus und Garten. Kochen sollte sie können und ein gemütliches Heim schätzen. Ein Foto des Hauses lag bei.
Der zweite Brief war von einem Invaliden. Er schilderte ausführlich seine zahlreichen Leiden. Eine Ausbildung als Krankenschwester wäre vorteilhaft, aber nicht Bedingung.
Dann öffnete Annette den dritten Brief. Der Briefkopf zeigte ein merkwürdiges Wesen, halb Mensch, halb Tier, eine Art Zentaur. Der Schreiber hatte ihn offenbar selbst entworfen. Er hieß Ernst Groneveldt und war 82 Jahre alt. Er lebte alleine in einem Haus an einem Berghang am Rande einer nahegelegenen kleinen Ortschaft. Seine Frau war vor einem knappen Jahr gestorben. Er machte Plastiken aus Holzstücken, alten Maschinenteilen, aus allem Möglichen. Sein Haus und sein Garten standen voll davon. Meist waren sie beweglich, man konnte etwas mit ihnen machen, sie in Gang setzen oder sie wurden vom Wind bewegt. Dennoch fühlte sich Ernst Groneveldt einsam.
Er hatte ein Foto beigelegt, auf dem er mit einer seiner Plastiken abgebildet war, einer Art Maschinenwesen aus Fahrradteilen. Er lachte verschmitzt. Sein Haar war noch voll und lockig, er trug einen Bart und hatte viele Lachfalten um die Augen. Annette beschloß, ihm zu antworten.
Sie trafen sich in einem Café in der Stadt. Annette erkannte ihn sofort. Er saß an einem Tisch am Fenster und trug einen Anzug, der irgendwie fremd an ihm wirkte. Er war kleiner, als er auf dem Foto ausgesehen hatte. Neben seiner Kaffeetasse lag der „Städtische Anzeiger“ als Erkennungszeichen.
Er erhob sich, als sie an seinen Tisch trat, und rückte ihr einen Stuhl zurecht. Annette setzte sich. Sie kämpfte mit dem Impuls, einer Panikattacke nachzugeben und davonzulaufen. Zurück in ihr altes Leben und zu tun, als wäre nichts passiert.
Ihr Gegenüber sah sie an und sagte: „Mir geht es genauso wie Ihnen. Gestatten Sie mir dennoch, daß ich Sie zu einer Tasse Kaffee einlade?“
Dann erzählte er von sich. Er hatte über vierzig Jahre lang mit seiner Frau eine glückliche Ehe geführt. Sie waren viel gereist.
„Wir haben die ganze Welt gesehen,“ sagte er. „Von Grönland bis Südafrika.“
Dann hatte sie die Alzheimersche Krankheit bekommen. Es begann für ihn eine schlimme Zeit. Vor zwei Jahren mußte er sie in ein Heim geben. Seitdem lebte er alleine in seinem Haus. Voriges Jahr war sie gestorben.
„Ich hätte mir nie vorstellen können, wieder mit jemandem zusammenzuleben. Aber die Einsamkeit ist furchtbar. Besonders abends. Mein Leben war so reich, ich kann es nicht einfach abbrechen. Ich muß jemandem davon abgeben, es mit jemandem teilen.“
„Als ich Sie vorhin zur Tür hereinkommen sah,“ fuhr er fort, „dachte ich: Das muß sie sein. Lieber Gott, gib, daß sie es ist.“
Annette errötete.
„Vielleicht,“ sagte er, „können wir dem Tod noch einige schöne Jahre abtrotzen.“
„Der Tod ist gar nicht so schlimm, wie man immer denkt,“ erwiderte sie. „Man muß ihn nur recht verstehen.“
 



 
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