Der Truck

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(Dies ist Teil 3 eines Mini-Zyklus. Teil eins: „Weltempfänger“, Teil zwei: Die Infektion. Vier und fünf folgen)

Der Truck
Er fühlte sich verloren. Und musste sich eingestehen, dass er das in gewisser Hinsicht auch tatsächlich war. Trotzdem fand Rotger es lächerlich, mit seinen achtunddreißig Jahren den Daumen zu spreizen und den Tramp zu spielen.
Allerdings hatte er zum Daumspreizen nicht allzu viel Gelegenheit. Der letzte Wagen hatte ihn vor über fünf Minuten passiert. Die Gegend erschien ihm auffallend einsam. Überall um ihn herum Felder, keine Häuser, keine Menschen und vor allem merkwürdigerweise keine Kühe. Wo waren all die vielen niedlichen Schwarzbunten geblieben? Immerhin war doch Sommer. Die untergehende Sonne begann, den Himmel rot und violett zu färben.
Der Truck war viel zu breit für die Straße, dachte er. Wie ein schwarzes urweltliches Ungetüm rollte das Gefährt auf ihn zu. Es war ein Containerfahrzeug, dessen Heck auf gleich drei Rädern hintereinander ruhte. Als es näher kam, erkannte er, dass es nicht eigentlich schwarz war, sondern über und über mit Rost und Dreck bedeckt. Wie ein jahrhundertealtes Wrack.
Unwillkürlich wich er zwei Schritte vom Straßengraben in den Grasstreifen aus, während das Gefährt unter dem Zischen der hydraulischen Bremsen zum Stehen kam.
„Kann Sie gern ein Stück mitnehmen, aber wohl nicht ganz, wo Sie hinwollen!“
Die Stimme drang durch das geöffnete Beifahrerfenster. Sie klang eigenartig heiser. Als er einen Schritt auf den Truck zu tat, schwang die Tür auf. Das erste, was er wahrnahm, war der Geruch - eine Brechreiz erzeugende Mischung aus Desinfektion und Verwesungsgestank, die ihm aus dem Fahrerhaus entgegenschlug.
Für einen Moment zögerte er, dann hängte er sich den Gurt der Reisetasche über die Schulter, setzte seinen Fuß aufs Trittbrett und zog sich am Haltegriff hinauf in die Kabine.
„Vielen Dank! Sie wissen ja gar nicht, aus was für einer Lage Sie mir da helfen!“
Der Fahrer lächelte weniger, als dass er grinste. Seine Zähne waren auf geradezu toxische Art gelb gefärbt. Viel mehr war von seinem Gesicht nicht zu sehen. Die riesige Sonnenbrille verdeckte fast ein Drittel seines schmalen, bleichen Gesichts. Unter seiner Baseballmütze trug er ein weißes Baumwolltuch, das ihm im Nacken und an den Schläfen herabhing, so dass er aussah wie ein Fremdenlegionär in der Wüste. Seine Hände steckten in schwarzen Lederhandschuhen. Außerdem trug er ein militärisch grünes Hemd, dessen Kragenknopf geschlossen war. Rotgers überraschte Blicke schienen ihm nicht entgangen zu sein.
„Bin halt der sonnenempfindliche Typ!“
Während der Fahrer unter hektischem Schalten anfuhr, lehnte sich Rotger zurück. Zum ersten Mal hatte er Gelegenheit, sich auf die Musik zu konzentrieren, die aus den Boxen unter dem Kabinendach drang. Wenn man es überhaupt Musik nennen konnte. Es waren strukturlose Collagen aus unterschiedlichen Geräuschen, Maschinengehämmer, Stimmengewirr und Verkehrslärm, die von monotonen Synthesizer-Klängen untermalt wurden.
„Jedenfalls besser als dieser ständige I-love-you-Quark! Die Leute sind ja so kitschig. Die Leute sind ja so unglaublich kitschig!“ Mit einem Kopfschütteln begleitete der Fahrer sein eigenen Worte.
Rotger selber schaute aus dem Fenster. Irgendwo dahinten, jenseits der Wiesen, wo ein paar Gebäude einen kleinen Siedlungsklumpen bildeten, hätte eigentlich Michaels und Sonjas Haus stehen müssen.
„Ich war eingeladen. Von Freunden. Hab sie jahrelang nicht mehr gesehen. Sie haben jetzt ein Haus hier, direkt auf dem Land.“
Seine Freundschaft zu Michael stammte quasi noch aus der Steinzeit. Aber wenn er ehrlich sein wollte, hatte er seit ein paar Jahren eigentlich nur Interesse für Sonja. Sie hatte diese schmalen dunkelblauen Augen. Und sie sah immer noch aus wie fünfundzwanzig. Er war froh, dass Britta an diesem Wochenende andere Freunde besuchen wollte.
„Hab mich von einem Bekannten hier absetzen lassen. Wollte nicht mit dem eigenen Wagen kommen. Bei solchen Gelegenheiten wird ja meistens doch das eine oder andere Glas getrunken ... Jedenfalls habe ich die ganze Dorfstraße abgesucht nach der Adresse. Nichts! Gar nichts! Es gab weder die Straße noch die Hausnummer noch den Namen. Hab die Leute gefragt. Keiner konnte sich an meinen Freund erinnern. Keiner!“
Er hatte gelogen. Niemanden hatte er gefragt. Weil es ihm peinlich gewesen war.
„Ich denke: Okay, rufst du ihn an. Aber dann stelle ich fest, dass der Handy-Akku leer ist!“
Er war nicht leer gewesen, weil er ihn in der Nacht vorher extra neu aufgeladen hatte. Das Handy war einfach tot. Das war ihm unheimlich geworden, und er musste zugegeben, dass ihn in diesem Augenblick eine gesichtslose Panik erfasst hatte.
„Na ja, und da ist mir eben der Geduldsfaden gerissen. Ich will einfach nur irgendwo hin, wo ich telefonieren und in Ruhe überlegen kann. Verrückt, wie?“
„Dass Sie überlegen wollen?“
„Nein, ach was! Dass sie einfach weg sind. Meine Bekannten!“
Er hatte noch nie im Führerhaus eines Lastwagens gesessen und genoss von seiner erhabenen Position aus den Blick auf die Straße. Um ihn noch mehr auszukosten, beugte er sich weit nach vorn. Das Armaturenbrett ragte in einem ziemlich spitzen Winkel nach oben, so dass sich ein Spalt zwischen dem Brett und der Frontscheibe bildete. Als sein Blick in diesen Zwischenraum fiel, geriet sein Herz für zwei, drei Schläge aus dem Rhythmus. Der Spalt war angefüllt mit toten Fliegen. Nicht zehn oder hundert, es mussten Tausende sein, die einen schmutzig schwarzen Streifen von einem Ende des Armaturenbretts zum anderen bildeten und ihre krummen Beine nach oben reckten.
Ich werde nichts sagen, absolut nichts, sondern es einfach überspielen, dachte er, während er sich so unauffällig wie möglich zurücklehnte. Wieder drang der Geruch in sein Bewusstsein.
„Was transportieren Sie eigentlich so?“
„Technische Sachen. Sehr technisch. Glaub nicht, dass Sie das wirklich verstehen. Hab selber keine Ahnung davon! Nun schauen Sie sich dieses Mistvieh an!“
Die Hupe klang wie eine Schiffssirene. Rotger beugte sich wieder vor, wobei er versuchte, die Fliegen aus seinem Gesichtskreis zu halten. Vor ihnen auf der Straße hatte sich ein großer Vogel niedergelassen. Mit seinen riesigen Krallen stand er in den hellrot leuchtenden Fetzen eines Tieres, dessen Kadaver sich fast über die gesamte Breite der Fahrbahn verteilte. Der Blick des Vogels, der sie frontal traf, konnte nur als hasserfüllt bezeichnet werden. Geradezu wiederwillig spreizte er die Schwingen, um dem Fahrzeug auf einer elegant geschwungenen Flugbahn auszuweichen.
„Wollten mit Kumpels etwas feiern, wie?“ Der Fahrer verzog das Gesicht. „Hatte selber ziemlich verrückte Kumpels damals. Echte Halunken das alles – die hängen jetzt und baumeln im Wind! Wo wollen Sie denn jetzt überhaupt hin?“
„Wie gesagt: einfach nur in den nächsten größeren Ort!“, antwortete Rotger, in dessen Kopf die rätselhaften Worte des Fahrers nachhallten.
„Hmm. Weiß gar nicht, ob ich überhaupt durch irgendeinen Ort komme.“
„Durch keine Ortschaft?“
„Kann mich jedenfalls nicht erinnern!“ Er legte eine längere Pause ein. „So’n Truck ist was Feines. Bin früher viel zu Fuß gegangen. Und ziemlich rumgekommen dabei. Kaputte Gegenden gesehen, echt kaputte! Meine Chefs sind Arschlöcher wie alle anderen auch, vielleicht sind sie sogar noch schlimmer. Aber immerhin zahlen sie pünktlich!“
„Vielleicht ist es besser, wenn Sie mich jetzt rauslassen.“
„Anhalten? Schlecht. Wegen der Maschinen, wissen Sie?“
Mit einer ruckartigen Kopfbewegung wandte sich der Fahrer zu ihm um.
„Haben Sie eine Frau?“
„Ja, natürlich!“ Durch die Frage verwirrt, hatte seine Antwort etwas stockend und kleinlaut geklungen.
„Haben Sie ein Foto von ihr dabei?“
„Ein Foto? Nein! Doch ... eins. Ein Ausdruck vom PC!“
„Können Sie’s mir zeigen?“
„Denke schon!“
Er hob seinen Rucksack auf den Schoß und kramte darin herum, bis er ein Notizbuch mit festem Einband hervorzog.
„Ist das letzte, das ich gemacht habe!“
Der Fahrer griff nach dem Foto, das ihm hingehalten wurde, und betrachtete es eingehend, während er jedes Interesse für die Fahrbahn verlor.
„Wie heißt sie?“
„Britta!“
„Hübsches Ding. Schon Kinder?“
„Nein.“
„Aber wollt ihr, wie? Ganz normale Kinder auf die ganz normale Methode!“
Er lachte gackernd, während sich Rotger zu einem Lächeln zwang. Es war ihm peinlich, wie oft er in den letzten Stunden an Sonja hatte denken müssen.
„Und Sie? Haben Sie Kinder?“
Das Lachen erstarb. „Ob ich was?“ Er machte ein Gesicht, als ob er nachdenken müsse.
„Na, ob Sie Kinder haben!“
„Kinder? Du meine Güte. Da muss ich ja direkt ... nein, denke nicht! Hier haben Sie Ihr Bild wieder!“
Mit hochgezogenen Augenbrauen starrte Rotger auf den Ausdruck. Dort, wo der Fahrer ihn gehalten hatte, war es geschwärzt.
„Tut mir Leid. Kommt wohl von der Ladung. Wird wohl irgendwas Chemisches gewesen sein!“
Rotger lehnte sich zurück und fragte sich, ob er den Mut hätte, den Fahrer anhalten zu lassen.
Ein Poltern machte sich aus dem Inneren des Containers bemerkbar, wie von einer Vielzahl von Tierhufen. Auch glaubte er, eigenartig heisere Schreie gehört zu haben.
Hört sich nicht gerade an wie etwas Chemisches, dachte er. Und sollte die Ladung vorhin nicht noch etwas Technisches gewesen sein?
Angestrengt fixierte der Fahrer den Außenspiegel. „Denke, ich muss eine andere Route nehmen!“
Zischend und ruckelnd kam das Gefährt zum Stehen. Rotger beobachtete, wie der Trucker das Lenkrad weit nach links einschlug und auf einen ungeteerten Feldweg zusteuerte. Er hatte ein derartiges Monstrum von Laster bisher noch nie auf so einem Trampelpfad fahren sehen.
„Warum machen Sie das?“
Zur Antwort brummt der andere nur. Rotger schaute aus dem Fenster. An einigen Stellen über der Sandpiste bildeten Fliegen kleine schwirrende Wolken. Die Bäume sahen bedrückend kahl aus, ihre Zweige hingen herab, als wäre nicht mehr genug Kraft vorhanden, sie in den Himmel zu heben. Auf den Wiesen hatten sich im Gras gelbe Flecken gebildet. Jedenfalls schien es ihm so. Ganz sicher war er sich nicht, da es mittlerweile schon sehr dunkel geworden war und sich in alle Farben ein Grauton gemischt hatte. Bei jedem Stoß, den der unebene Untergrund auslöste, wurde sein Oberkörper hin und her geschaukelt. Er blickte sich um zum Fahrer, der in diesem Moment fasziniert in den Sonnenuntergang schaute.
„Das Feuer, das sieht man am Horizont. Wenn man’s riecht, ist es sowieso zu spät!“
„Wollen Sie denn überhaupt nicht halten?“
„Keine Angst. Sie kommen schon hin, wo Sie hingehören!“
Das Tempo war nicht sehr hoch. Rotger überlegte sich, ob er nicht einfach die Tür aufreißen und sich aus dem Wagen fallen lassen sollte.
„Sie wollen, dass wir anhalten? Bitte! Da vorn.“
Mit seinen Blicken folgte er dem ausgestreckten Arm des Fahrers und erkannte am rechten Wegrand ein großes Haus. Als sie sich näherten, erwies es sich als zweistöckiger Holzbau - ein großer Schuppen eher - aus grauen verwitterten Planken gezimmert und mit einem Spitzdach aus hölzernen Schindeln. Die Fenster waren blind und finster. Es stand auf einem flachen, komplett baumlosen Grundstück.
Während er spürte, wie sich das Fahrzeug verlangsamte, drehte sich der Trucker zu ihm um.
„Wenn ich einen Tipp geben darf: Da drinnen sollten Sie nichts essen. Egal, was Ihnen angeboten wird. Ist wirklich nicht so gut für die Gesundheit!“
Als Rotger ausstieg, den sandigen Boden unter seinen Füßen spürte und sich umschaute, stellte er fest, dass es so gut wie Nacht geworden war. Der Fahrer trat neben ihn.
„Sie sollten nicht versuchen abzuhauen!“ Es klang eher wie eine Feststellung als nach einer Drohung. Nach ein paar Schritten waren sie am Haus. Der Fernfahrer stieß die Tür mit den Fingern auf, legte die Hand auf Rotgers Rücken und schob ihn nicht besonders grob vor sich her ins Hausinnere.
Sie betraten einen großen Raum. Das erste, was Rotger auffiel, war die nackte Glühbirne, deren gewundener Draht ein helles, scharfes Licht abgab, das das Innere nicht vollständig erhellen konnte. Von den Wänden blätterte die Tapete.
Ein großer grauer Hund, der ungefähr einen Meter von ihm entfernt vor einem riesigen Knochen auf dem staubigen Boden lag, zeigte seine Zähne und gab ein tiefes Knurren von sich, das sich sogar über den Holzboden fortpflanzte.
Ansonsten war der Raum leer, abgesehen von einem Holztisch und einem Stuhl dahinter, auf dem ein Mann saß, der sie regungslos musterte.
In der Luft lag der Geruch von kalter Asche. Auf knarrenden Holzdielen näherten sie sich dem Fremden. Dabei bemerkte Rotger ein paar zerfledderte Illustrierte, die auf dem Boden lagen. Die Titelbilder waren völlig verblichen. Mit Mühe konnte er junge lächelnde Mädchen in Kleidern erkennen, die ziemlich unmodern wirkten. Sein Blick fiel auf das Erscheinungsdatum. 1975.
„Der Landfahrer!“, sagte der Mann am Tisch und grinste spöttisch. Die Vorderzähne fehlten, das graue Haar war schütter, die Gesichtshaut von Tausenden feiner Falten durchsetzt – wie die Risse in getrocknetem Schlammboden. Sein kariertes Hemd starrte vor braunem Schmutz. Rotger spürte einen starken Widerwillen, ihm zu nah zu kommen.
„Drehst wieder deine Runden, Fahrer?“
„Viele Halunken auf der Straße. Und du? Hast du Fracht?“
„Es ist eine große Unruhe. Und einer ist noch draußen!“
Aus dem Dunkel trat jemand auf den Alten zu. Es war ein Mädchen mit so kurzen Haaren, dass Rotger sie im ersten Augenblick für einen Jungen gehalten hatte. Sie trug ein weißes T-Shirt und eine ebenso weiße Hose. Im Schein der Glühbirne erkannte er die Blässe ihres Gesichts, die dunklen Augenringe – und die Kanüle, die in ihrem Hals steckte. Sie mündete in einen elastischen Schlauch, der mit Heftpflaster an ihrer Haut befestigt war und im Ausschnitt des T-Shirts verschwand. In ihrer rechten Hand trug sie eine Plastikhülle, in der sich eine CD-ROM befand, die in Regenbogenfarben schillerte.
„Wir haben Post von unseren Bossen!“, brummte der Fremde, deutete mit dem Daumen auf die CD und erhob sich. Der Fahrer wandte sich zu Rotger um. „Du bleibst hier. Versuch nicht, abzuhauen oder hier herumzuschnüffeln. Warum spielst du nicht einfach ein bisschen mit dem Hund?“
Er stieß ein widerwärtiges Lachen aus, wandte sich um und schritt mit dem Alten und dem Mädchen auf eine halb geöffnete Tür an der Längswand zu. Als sie im Nebenraum verschwanden, ließen sie die Tür offen.
Den Blick ununterbrochen auf den Hund gerichtet, der noch immer am knackenden Knochen nagte, näherte sich Rotger mit leisen Schritten der Tür. Als er durch den Spalt schaute, erkannte er einen bläulich schimmernden PC-Monitor, der auf einer Art Campingtisch stand. Der Alte saß davor, während das Mädchen neben ihm stehend auf den Bildschirm deutete und leise Bemerkungen dazu machte, die Rotger nicht verstand.
„Unruhe, große Unruhe. Irgendetwas ist passiert da draußen. Wie damals in Ahrdorf.“
„Müssen wir unterbrechen?“, fragte der Fahrer.
„Einer ist noch draußen!“, antwortete der Alte.
„Und die Fracht?“
„Verloren! Für diesmal. Was soll’s!“
Es war etwas in seiner Stimme, das Rotgers Herzgegend vereisen ließ. In Richtung Eingangstür schlich er sich am Hund vorbei, der keine Notiz von ihm zu nehmen schien, und trat ins Freie. Vor ihm ragte die Silhouette des Trucks auf wie ein Gebirge aus reiner Finsternis.
Er zog das Handy aus der Tasche und drückte auf den Tasten herum. Im Display erschien die letzte Nummer, die er gewählt hatte - die von Sonja. Warum nicht, dachte er und betätigte die Wiederholungstaste. Ein, zwei Sekunden, nachdem er sich das Handy ans Ohr gepresst hatte und das Freizeichen erkannte, hörte er es. Es kam aus dem Container. Sehr leise, aber unverkennbar. Das piepsende Empfangssignal eines anderen Handys. Es war ein wenig zeitversetzt, aber mit dem Freizeichen in seinem eigenen Gerät vollkommen synchron. Er spürte, wie kräftige Finger sein Handgelenk umklammerten.
„Du bist dumm!“, zischte der Fahrer, während er versuchte, Rotger den Arm auf den Rücken zu drehen. „Du bist nicht nur dumm, du bist sogar noch zehnmal dümmer, als du glaubst!“
Rotger benötigte ein, zwei Sekunden, um seine Überraschung zu bewältigen, dann gelang es ihm mit einer plötzlichen Körperdrehung, seinen Arm aus der Umklammerung zu lösen. Durch den Schwung verlor er dabei aber das Gleichgewicht und stürzte zu Boden. Als er auf dem Rücken liegend sah, wie sich ihm der Fahrer näherte, sprang er auf die Beine und fing an zu rennen.
Richtung Hauptstraße, dachte er im Laufen. Dabei versuchte auszurechnen, wie lange es bis dahin dauern würde. Ziemlich lange, befürchtete er. Er rannte weiter.
„Falsch, du Idiot. Völlig falsch!“, hörte er den Fahrer rufen. Seine Stimme klang nicht mehr sehr nah.
Irgendwann im Laufen wurde ihm bewusst, dass er während der ganzen Zeit mit der rechten Hand das Handy umklammert hatte. Nach ein paar Minuten erreichte er eine Stelle, an der einige Fichten entlang des Sandwegs standen. Seine Augen hatte sich an die Dunkelheit mittlerweile so gut angepasst, dass er sogar die Fahrspuren des Trucks erkennen konnte. Der Himmel war unbewölkt und mit Sternen übersät. Unter anderen Umständen hätte er diesen Anblick genießen können.
Rechts von sich hörte er das Unterholz knacken. Als er stehen blieb, spürte er, wie stark sein Herz hämmerte. Das Blut rauschte so laut in seinen Ohren, dass er befürchtete, es könnte ihm das Hörvermögen rauben. Wieder vernahm er ein Geräusch. Eine Art Streifen oder Wischen. Diesmal kam es eher von vorn. Er zwang sich, ruhig und tief zu atmen.
Dann ein Grunzen. Er konnte beim besten Willen nicht sagen, ob es von einem Tier oder einem Menschen stammte. Auf jeden Fall klang es unendlich fremdartig. Es war aus geringer Entfernung gekommen, vier, fünf Meter vielleicht. Er wirbelte herum und fing wieder an zu laufen. Diesmal in Richtung Truck und Schuppen.
Wieder dieses Grunzen, das sich jetzt aber schon fast wie ein Knurren anhörte. Die Distanz hatte sich nicht vergrößert. Das Etwas hinter ihm musste so schnell rennen wie er selber.
Vor sich erkannte er die Silhouette des Schuppens. Aus einem der Fenster im Erdgeschoss drang ein schwaches Licht. Jetzt nahm er unterdrücktes Keuchen wahr. Es konnte nur von einem Menschen stammen. Umso erschreckender das neuerliche Knurren. Für einen Moment fasste er den Gedanken, stehen zu bleiben und sich dem anderen einfach entgegenzuwerfen. Aber schnell wurde ihm klar, dass er nicht den Mut dazu hatte. Seine Kräfte fingen an nachzulassen. Fast hatte er das Gefühl, den Atem des anderen in seinem Nacken zu spüren.
Mittlerweile konnte er den Truck erkennen, der nicht mehr als dreißig Meter von ihm entfernt war. In diesem Augenblick verkrallte sich etwas in den Hemdstoff auf seinem Rücken. Ächzend kämpfte er darum, nicht umgerissen zu werden.
Dann hörte er Schreie direkt neben sich. Stimmen mischten sich. Der Griff wurde lockerer und löste sich. Geräusche von Schlägen und Knuffen drangen an sein Ohr, Schuhsohlen rutschen über den Sandboden.
Dann traf ihn der Strahl einer Taschenlampe. Während er die Augen abwandte, schwenkte der Lichtkegel ein wenig zur Seite. Es war der Trucker. Rotger drehte sich um seine Achse und spähte in alle Richtungen in die Dunkelheit. Von seinem Verfolger nicht die geringste Spur. Von irgendwoher hörte er hastige Schritte, deren Geräusche schnell abklangen.
Der Fahrer packte ihn am Oberarm und zog ihn mit sich. Mit weiten Schritten strebte er dem Schuppen entgegen.
„Ich wusste, dass du dich am Ende bei uns wohl fühlen wirst!“ Sein Lachen war von einem bedrohlichen Klang unterlegt. „Hast du dein Handy noch?“
Rotger stellte fest, dass er es immer noch in der Hand hielt. Zögernd reichte er es ihm.
„Behalt’s! Du wirst es gleich brauchen!“
Als sie den Lastwagen erreichten, ließ der Fahrer den Strahl der Taschenlampe über das Heck gleiten und begann, den Container zu öffnen.
„Na los! Wähl die Nummer von vorhin!“
Rotger benötigte einen Moment, um zu begreifen. Dann suchte er im Schein der Lampe das Tastenfeld ab und drückte den Knopf für die Wahlwiederholung. Nach ein paar Sekunden drang wieder das zirpende Geräusch aus dem Behälter. Der Fahrer riss die Klappe auf und schwang sich über den Tritt ins Innere des Containers.
„Ihr gottverdammten Zombies! Wer hat euch erlaubt, dieses Ding mit an Bord zu nehmen?“
Für einen Moment hatte Rotger Gelegenheit, einen Blick ins Innere zu werfen. Er sah die Gestalten: nackt und dreckig. Einige lagen auf dem Boden. Der Desinfektionsgeruch wurde übermächtig. Dann sah er inmitten all der wirren, ausgebrannten Gesichter dieses blaue strahlende Augenpaar, das er so gut kannte - bis es vom Rücken des Fahrers verdeckt wurde. Die Klappe des Containers fiel wieder ein Stück zu. Das Handy-Klingeln verstummte.
„Was wollt ihr denn überhaupt damit?“, bellte der Fahrer. „Ihr könnt doch gar nicht mehr sprechen! Ich weiß noch nicht mal, ob ihr überhaupt noch Gehirne habt. Und wenn, dann gehören sie uns, ihr kranken Missgeburten!“
Jetzt wurden die Stimmen der Gefangenen vernehmbar. Leise zunächst, ein unartikuliertes Murmeln und Knurren, nicht ganz unähnlich dem von vorhin dort draußen. Die Lautstärke schwoll an.
„Ach so? Ihr wollt Ärger machen?“, hörte er den Fahrer durch die fast geschlossene Klappe. Seine Stimme klang auf einmal nicht mehr besonders souverän. „Na los! Traut euch doch!“
Er hörte einen Schmerzensschrei, gleichzeitig erschütterte ein Poltern den Container. Rotger erkannte seine Chance. Er sprang auf den Tritt, drehte sich und presste seinen Rücken mit aller Kraft gegen die Klappe. Halt fand seine linke Hand dabei an einer Metallstrebe. Er spürte, wie jemand gegen die Tür drückte, doch es gelang ihm, dem Druck standzuhalten.
„Bist du das, du Idiot? Lass mich sofort ...“ Die Worte des Fahrers versiegten in einem gurgelnden Schmerzenslaut. Keuchend verharrte Rotger eine ganze Weile in seiner Körperhaltung.
Der Alte und das Mädchen tauchten aus der Dunkelheit auf. Aus zwei, drei Metern Entfernung betrachteten sie ihn schweigend. Eine Zeit lang starrte er reglos zurück und ließ seinen Blick von einem zum anderen wechseln. Dann sprang er vom Lastwagen ab und ging auf sie zu. Das Mädchen reichte ihm eine metallisch glänzende Konservendose, aus deren geöffneter Oberseite eine Gabel ragte.
„Danke, aber ich habe einen sehr empfindlichen Magen.“
Sie wich ihm mit einem Schritt zur Seite aus. Er selber schaute sich zum Truck um. Es war vollkommen ruhig geworden. Niemand schien ins Freie zu wollen.
Er ging davon. Im Gehen überlegte er sich, wie das für die anderen aussähe - wie er immer mehr von der Dunkelheit verschluckt wurde. Er empfand das Bild als sehr beruhigend. Er hatte keine Angst mehr. Immerhin hatte er einen Mann getötet. Aber vor allem spürte er eine ziemliche Wut.
 

jon

Mitglied
Teammitglied
Mehr!
Vor allem, weil es unglaublich atmosphärisch rüberkommt, hervorragend "sicht"bare und glaubwürdige Figuren hat und wahnsinnig spannend ist (; ich hätte fast eine Kollegin angeknurrt, die es WAGTE, mich mit Arbeit aus demtext zu reißen…).

…und weil dies wirklich wie ein Teil von was Größerem wirkt – man erfährt innerhalb dieses Textes nicht, was eigentlich Sache ist. So ungefähr funktioniert ein Cliffhanger…
 
Puhh, gerettet! Vielen Dank für die freundliche Aufnahme. Ich war mir wirklich nicht sicher, wie der Text ankommen wird – spielt doch schon ganz schön ins Surreale. Mittlerweile bin ich mit der Zyklus-Methode aber auch ziemlich glücklich. Es stellt eine geeignete Alternative zum Roman dar, was ein Projekt wäre, zu dem ich mich momentan außerstande sehe. Außerdem lässt sich auf diese Weise sehr schön mit wechselnden Perspektiven spielen.
Der vierte Teil kommt demnächst, mit dem fünften habe ich gerade erst angefangen.

Gruß Volker
 
G

Gerhard Kemme

Gast
Die Dialoge, insbesondere auch die inneren, sind dir gelungen. Das Genre Science-Fiction klingt mir etwas anders, d.h. ich würde die Erzählung in eine andere Kategorie einordnen. MfG Gerhard Kemme
 
Hallo Gerhard,
der Text gehört zu einem kleinen Zyklus, der auf einem klassischen Scifi-Plot beruht, dem Invasionsthema. Klar, dass ich in dieser Story einen sehr starken Akzent auf das Mysteriöse und Apokalyptische gesetzt habe. Mich fasziniert besonders der Einbruch des (nach Möglichkeit wissenschaftlich erklärbaren) Fantastischen in die Gegenwart. Ich kann nur hoffen, dass auch das noch als Scifi durchgeht, weil ich anderenfalls literarisch ja geradezu heimatlos wäre!

LG Volker
 

jon

Mitglied
Teammitglied
Es „geht als SF durch“, keine Sorge. Die Platzierung machts. Die Trennung zwischen SF und Fantasy bzw. die Zuordnung von Horrormäßigem zur SF passiert (gewissermaßen) immer durch die "Begründung" – und die ist eben manchmal durch die Platzierung in einem SF-Umfeld gegeben…
 
G

Gerhard Kemme

Gast
Kategorien sind nicht alles - nur irgendwann beginnen andere dann auch, Abgrenzungen zu verwischen - zum Schluss trauern wir alle um die verlorenen Differenzierungen. Insbesondere funktioniert dieses Medium kaum ohne eine gewisse Genauigkeit. Science-Fiction ist immer etwas umstritten - zumindest würde ich den Inneren Monolog etwas verfremden, z.B. wieder und wieder kam diese harte Kommandostimme aus seinem Rückenmark hervor: "Schrei das Kaldeher-Signal!" Er wäre dann etwas psychotisch oder ein Alien hätte sich in seinen Nervensträngen festgesetzt. MfG Gerhard Kemme
 

jon

Mitglied
Teammitglied
…welcher innere Monolog? Der einzige, der sowas hier tun könnte, ist Rotger, aber der hat keine Stimme im Rückgrat. Es sei denn ich habe etwas überlesen …
 



 
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