Der Ungestaltete

bluesnote

Mitglied
...du sollst Staub mit Schlamm verbinden
und die Bösen vernichten.


Der Befehl​


Prolog​

... ein neuer Dämon in deiner Stadt.

Ein Hauch von Whiskey hing in der Luft.
Der laue Wind trug die Musik hinaus, die aus der Tür des schäbigen Lokals drang. Und sie klang aggressiv.
Links und rechts an den rußgeschwärzten Wänden klebten durchnäßte und zerfetzte Plakate, die diverse Spirituosen anpriesen. Die unheilige Dreifaltigkeit: Jim Beam, Johnny Walker, Star’s & Stripes! Ein Trinker stand in einer der Hausecken und erbrach sich, sie hatten ihn längs geholt.
Die Nacht trieb sich durch die engen Schluchten zwischen den Häusern herum. Eine langbeinige Blondine im schwarzen Kleid mit tiefem Ausschnitt schritt selbstbewußt auf atemberaubenden High-Heels dem Eingang entgegen, was ihr von den herumstehenden Männern anerkennendes Raunen und ein paar leise Pfiffe einbrachte. Mit einem knappen Lächeln blickte er die Meute ein paar Sekunden an, durchweg junges Futter für einen Prediger von seinem Schlage.
Einem Prediger, der es verstand, die richtigen Leute für seine Zwecke einzufangen. Endlich stand sie unter dem Türrahmen und betrachtete die Szenerie. Meist junge Leute waren anwesend, sie tranken, spielten Billard, einer von ihnen bediente den Flipper.
Böse Karten in einer bösen Hand! Rocker und Mod’s. Punker und Popper. Auch die 68er-Ära mit ihren Hippies und Blumenkindern. Die neue deutsche Welle, ha!
Zur Zeit trieb er es eine Weile mit den Grufties, solange wie es ihm gefiel.
Und es gefiel ihnen! Er hatte nachts vor Gräbern gepredigt. Und sie erhörten ihn.
Langsam setzte er sich in Bewegung Richtung Tresen. Hier wartete ein junges Mädchen auf ein bestimmtes Buch.
Sie gierte nach Rache und nach seinem Segen. Und er wollte sie segnen, und er wollte ihre Seele. Er stellte die Handtasche ab, schüttelte kurz die blonde Mähne, um sie gleich danach mit beiden Händen wieder in Form zu bringen. Der Mann hinterm Tresen, der mit einem Tuch Gläser polierte, stoppte seine Beschäftigung und sah sie verlangend an.
Whiskey On The Rocks!





Eine Telefonzelle am Rande der Stadt, jemand hebt den Hörer ab und wählt eine bestimmte Nummer.
Am anderen Ende dieser Stadt klingelt ein Telefon, ein junger Mann kommt heran, will erfahren, wer ihn stört. Nur ein einziger gesprochener Satz läßt ihn zusammen schrecken:
> Ich bin wieder da! <

Douglas Sierro, gerade dem Teenie – Alter entwachsen, steckte in einem leichten T – Shirt und stone - washed ausgebleichten Jeans. Sein Haar war ordentlich frisiert, der Körperbau athletisch, seine Haut besaß eine gepflegte Sonnenbräune.
Trotz der gerade eingebrochenen Nacht schwitzte er enorm, also nahm er seine Jacke vom Haken und legte sie nur über seinen Arm, dann verließ er eilig sein zuhause.

Der Hörer wurde wieder aufgelegt, die Tür der Zelle klappte lautlos auf, ein Schatten glitt aus dem Licht im Innern heraus, außerhalb der blendenden Lichtquelle stand ein zierliches Mädchen. Unscheinbare Kleidung, kein auffallend schönes Gesicht, grüne Augen, um die Nase ein paar Sommersprossen und blondes Kurzhaar.
Unauffällig, das war ihr gerade recht so. Sie hob den Blick und sah mitten in die Lichter der Stadt, die nun vor ihr lag, die Nacht hatte jetzt vollends die Regie übernommen. An einem Tag, an dem die Luft über den Strassen waberte und sich dermaßen erhitzte, das man meinte, man müßte sie kauen, um sie atmen zu können, waren die meisten Leute erschöpft und blieben an solchen Abenden zu Hause. Die Stadt lag einsam vor Ruth, in ihren Gedanken schwirrten Bilder, die mit diesem Ort und ein paar ihrer Einwohner zu tun hatten.
Einem davon hatte sie gerade mitgeteilt, sie wolle jemanden senden, der ihre „Grüße“ ausrichten sollte. Sie nahm den kleinen Koffer fester in die Hand und ging. Sie hatte noch etwas zu erledigen.

Eine kurze Weile noch bis Mitternacht, überall herrscht endlich Ruhe, die Stadt schläft. Ihr Atem ist das Rauschen, das fern von den Autobahnen her zu hören ist, die an ihr im Norden und im Süden vorbeiführen. In regelmäßigen Abständen seufzt sie laut im Schlaf, wenn ein Güterzug die Gleise im Osten befährt. Douglas parkte sein rotes Cabrio auf dem kleinen Parkplatz, der zwischen dem Fast – Food Restaurant und der neuen Tankstelle lag. Treffpunkt der kleinen ausgewählten Clique dieser Stadt, zu der er zählte. Seine Eltern, beide in hohen Ämtern des Regierungsbezirks beschäftigt, gaben ihm die Berechtigung, dazu zu gehören. Und dazu gehören bedeutete, das sie Kinder waren, dessen Eltern die Möglichkeiten besaßen, ihnen ein angenehmes Leben zu ermöglichen.
Nur... , in Douglas Leben gab es seit fünfzehn Minuten ein Problem!

> Sie ist wieder gekommen! < Douglas hatte sich durch eine Gruppe Jugendlicher gewühlt und Thomas angesprochen, sein ältester Freund seit dem Kindergarten.
> Wer ist wieder da? Hast du eine verblichene Freundin vermißt, oder brauchst du einfach nur einen Joint? He, was ist, zieh nicht so ein Gesicht, such dir doch einfach ‚ne neue aus! < Thomas, ebenfalls groß gewachsen und nicht minder athletisch, hielt zwei Mädchen im Arm, beide giggelten blöde über seinen Spruch. > Komm mit! Ich muß dich allein sprechen. < Douglas sah seinen Freund sorgenvoll an, seine Stirn war wie selten gefurcht, seine Handflächen feucht, er fühlte sich unsauber und verschwitzt.
> Also, was ist? Wir haben Weiber, wir haben Alkohol und die ganze Nacht Zeit, beides zu vernaschen. Du machst ein Gesicht, als wärst du bereits verheiratet! < Beide gingen zum Store der Tankstelle, um ein paar Beschleuniger wie Two Beagle oder Desperado Sundown zu besorgen, dabei fanden sie Gelegenheit, außerhalb der Gruppe miteinander zu sprechen. > Wir wollten die Sache vergessen und nicht mehr darüber reden <, bohrte Thomas weiter, doch Douglas blieb beharrlich, > wir dachten ja auch, sie würde nie mehr auftauchen und über die ganze Aktion damals würde Gras wachsen, uns nie mehr belasten. < Sie blieben im Halbdunkel neben dem Eingang stehen, die starken Neonröhren unter dem Vordach der Tankanlage warfen ein kaltes Licht auf dem spärlichen Betrieb vor ihnen; niemand beachtete sie jetzt weiter. > Hör mal, Alter, vor uns liegt ein lustiges Leben, klar, keine Sorgen, keine Probleme, ok. Ab und an ein Joint und mit jeder Ballkönigin ins Bett, also erzähl mir keine Scheiße, ok! Wer weiß, am Ende hat sich irgend eine Schlampe verwählt, oder du bildest dir alles nur ein. <
Douglas ballte die Hände zu Fäusten, > ich bilde mir nichts ein, und wir werden was unternehmen müssen! < Thomas merkte die Anspannung, unter der Douglas stand, jedoch konnte er sich nicht vorstellen, das es an einem Abend wie diesen Probleme geben sollte. Und auch nicht daran, das jemand aus ihrer jungen, ungestümen Vergangenheit auftauchen würde, um a: zuviel Schlechtes über ihn und seine Freunde zu schwatzen, b: gar eine Racheaktion zu starten und schließlich c: überhaupt ihnen irgend welche Unannehmlichkeiten zu bereiten; nicht Leuten aus ihren Kreisen. > Wenn irgendwas ist, wenn du recht behalten solltest, was ich persönlich nicht glaube, dann werden wir einen Weg finden, und außerdem, kann uns überhaupt irgend jemand etwas! Wenn unsere Alten im Hagel der Kritik stehen, blocken sie doch auch regelmäßig alles ab. Na, was ist, trink! < Thomas hielt seinem Freund ein fertiges Gemisch aus der Dose hin, weißer Rum mit Cola. Und Douglas trank.

Ruth stand vor ihrem ersten Ziel, ein Stück unbebauten Ufers der Ruhr, die hier mitten durch wildes Buschland floß.
Nacht und Wind als Partner, doch sie allein reichten ihr nicht aus; sie stellte den Koffer ab, vorher mußte sie noch etwas prüfen. Vorsichtig tastete sie sich mit den Füssen vor über rutschige und unebene Steine bis hin zum Rand des Wassers. Sie roch den Flußgrund, atmete dunkles Wasser.
Ja, so war es richtig, im sandigen Untergrund des Flußbettes versanken ihre Turnschuhe, seichte Wellen umspülten die Hosenbeine ihrer Jeans. Mit prüfendem Blick übersah sie ihren Standort, zufrieden registrierte sie, das kein Mensch je Hand angelegt hatte an diesem Teilstück des Flusses.
Wasser, Luft und Erde, ein Helfer fehlte noch. Zurück auf den Steinen griff Ruth in eine mitgebrachte Tasche und holte ein paar ölgetränkte Fackeln hervor, die sie zwischen den Felsbrocken klemmte und dann entfachte. Dünne Säulen von schwarzem Rauch trieben in den Nachthimmel, es wurde Zeit.
Sie griff in die Innenseite ihrer Jacke und zog ein sorgsam in Folie eingepacktes Buch hervor; sie schlug es auf und las laut ausgesuchte Zeilen daraus vor.
Nach einer Weile schloß sie das Buch und verpackte es wieder sorgfältig, der erste Teil ihrer Beschwörung war getan. Sie atmete in langen Zügen, keiner ihrer Muskeln war gespannt, ihr Körper wies kein Beben, kein Zittern auf. Sie wähnte sich absolut sicher, mächtige Naturgewalten standen ihr jetzt bei.
Nun hob sie mit einer ausladenden Geste ihre Arme.

> Wind, schweig! <
Und der Wind schwieg.
Die Wellen des Flusses glätteten sich.
Kein Laut eines Lebewesens drang mehr an ihr Ohr.
Die Wolken über ihr verharrten, als wär die Welt angehalten.
Nur die Rauchsäulen der brennenden Fackeln stiegen kerzengerade in den Himmel.

> Wasser, entferne dich! <
Und plötzlich riß der Strom des Wassers ab.
Flußaufwärts bildete die Flut jetzt eine meterhohe Barriere, während talwärts das Wasser abfloß und auf der gesamten Breite seines Bettes den Flußgrund freigab.

> Flammen, gebt mir Licht! <
Und die Flammen mußten gehorchen, denn es waren Worte gesprochen worden, welche über die Ewigkeiten des Universums hinaus Berechtigung erhalten hatten, geschrieben von demjenigen, den selbst Luzifer fürchtete wie ein einsamer Wanderer die absolute Dunkelheit.

> Erde, sei mir untertan! <
Was sie nun tat, war Symbolik, sie nahm einen gebrochenen Zweig und zeichnete im Schlamm der Ruhr einen Umriß nach, die der Bodengrund willig aufnahm.
Still und friedlich erwartete er ihre Befruchtung, um gleich darauf die Geburt der neuen Schöpfung einzuleiten.
Wind brauste auf, und hauchte dem Flußbett Geist ein, die Wolken zogen weiter und die Fluten schlossen sich. Um die Umrisse der gezeichneten Figur begann das Wasser Blasen zu schlagen und zu kochen, der Grund darunter glühte. Mit staksigen Schritten ging sie einmal um ihre Arbeit herum, jetzt war ein Zischen hörbar, Wasserdampf stieg auf und der Boden vor ihr erstarrte.
Aber nicht lange, dann erhob er sich.

> Verneige dich! <
Eine wichtige Aufgabe stand noch aus. Ruth zog ein Messer, während das Wesen aus Schlamm ihrem Befehl nachkam. Sie setzte die Spitze der Klinge an seine Stirn und schnitzte eine Kombination von Buchstaben: „AMT“, der erste und der letzte Buchstabe des Alephbets, und dazwischen das M. „eMet“ ausgesprochen, was Wahrheit bedeutet.
Zuletzt aber schob sie ihrer Schöpfung einen beschriebenen Zettel unter die lehmgelbe Zunge, > geh jetzt, du kennst meine Befehle! Du mußt die Bösen vernichten! < Der neu erschaffene Golem ging und der volle Mond verbarg sein Antlitz hinter Wolken.

Und vom Sturm gepeitscht bogen sich alle Sträucher und alle Pflanzen ab von diesem Ort.
Und die Fackeln erloschen.
Und es war... , es war, als wolle die Welt fliehen von ihrem eigenen Grund und Boden.

Thomas war außer sich vor Tatendrang und fand sich angetörnt genug, für die Dinge, die da kommen würden, überdreht heiter wandte er sich wieder einem Mädchen zu. Sie fuhren mit den Autos trotz ihrer ersten feucht-fröhlichen Einlage an diesem Abend und obwohl ein Verlust der Führerscheine gleichbedeutend mit dem Verlust ihrer Potenz gewesen wäre.
Douglas zog seine Gespielin eng an seinen Körper, König Alkohol sorgte für einen rapiden Abfall sämtlicher Hemmungen. Ihre Laune schäumte über, Joints kreisten innerhalb der Fahrzeuge.
Die Gruppe gelangte an ihr Ziel. Laut rufend und die Mädchen kreischend, sich gegenseitig anheizend, sprangen sie aus den Autos und liefen von der Strasse einen plattierten Weg entlang. Sie kamen durch ein steinernes Tor, das einen mit viel Rasenfläche angelegten Park freigab. Am anderen Ende dieses kleinen Geländes lag ein See, der von einem Fluß gespeist wurde. Ihr Treffpunkt in lauen Sommernächten. Die Sonne ruhte jetzt, doch die gespeicherte Wärme strahlte von überall her und ließ kaum Abkühlung zu.
Sie waren Kinder, dessen Eltern im Leben starke Positionen erreicht hatten. Immer war ein Diener zur Stelle, der sich um ihre Wünsche zu kümmern hatte: angefangen von den Frauen, die schon morgens im Haushalt arbeiteten, bis hin zum Reit und Tennislehrer. Jeden Wunsch lasen diese Helfer von den Lippen ihrer Schützlinge ab. So lernten Sie das Leben von klein auf kennen; es war ihr Milieu, so wie die Kinder der Arbeiter und Angestellten ihre Gruppierung besaßen und ihre Interessen wahrnahmen, so kümmerten sie sich um ihr Leben und ihre Stellung in der Gesellschaft. Waren andere dabei, gaben sie sich unnahbar, verfolgten ihr eigenes Ding und gaben nichts preis; am Ende wurde es gar von ihnen erwartet.
Sie stiegen verbotenerweise über einen Zaun, der das Gelände eines Bootsverleihs zum Land hin abgrenzte, schnell schoben sie ein paar der hölzernen Nußschalen ins tiefere Wasser. Douglas besetzte zusammen mit seinem Mädchen ebenfalls ein Boot. Sie waren kaum auf die Mitte des Sees hinaus, als sie besonders fleißig wurde. Nach einer heftigen Knutscherei ging sie ihm an die Hose. In Anbetracht des kommenden lehnte er sich zurück und nahm eine entspanntere Position ein.

Eine kleine Welle machte sich auf den Weg zu ihnen, losgelöst vom Schilfrohrdickicht einer Insel, die mitten in der Mündung zum See lag. „Platsch“, sie schlug an den Rumpf des Bootes, zwei, drei Wellen folgten ihr. „Platsch“, das Boot wiegte beide in ihrem Liebesspiel, eine größere Welle folgte der kleineren.
Sie schlossen allein das sanfte Wiegen des Bootes in ihrem erotischen Reigen mit ein, der Rest um sie herum konnte warten; aus dem Windhauch wurde eine Brise.
Das Mädchen lag mit ihrem Oberkörper auf seinen Beinen, ihre Bluse war weit und luftig geschnitten, nicht nur der Wind streichelte ihre Brüste.
Trotz ihrer schäumenden Lust versuchten sie, langsam dem Höhepunkt entgegen zu streben. Es war zu schön, um es in einem wilden Akt zu beenden; eine Wolke gab den Mond frei, sein gelber Schein blitzte auf in dem jetzt unruhiger werdenden Wasser wie züngelnde Flammen.
Das Paar gehörte sich nun allein, alles um sie herum hatten sie vergessen, „plack“, eine Hand erfaßte den Rand des Bootes, große Augen schoben sich darüber.
> Du Arschloch! <
Douglas beugte seinen Körper vor. Er wollte in Carls Haare fassen, doch der tauchte schon unter, schwamm fort mit ein paar kräftigen Zügen. Er hatte gesehen, was er sehen wollte, lachend wurde er von den beiden mit dem Boot verfolgt. Die Nacht war jung, für die beiden Erhitzten würde es eine weitere Möglichkeit geben.

Wölfe heulten! Ruth schrak auf und horchte: Wölfe heulten! Sie lehnte mit dem Rücken an einer nackten Wand. Von nun an gab es einen neuen Dämon in der Stadt, der sie in ihre gewählte Zuflucht brachte. Sie war in einem unruhigen Schlaf gefallen, der sie nicht erfrischte.
Ihre Schultern erschlafften, ihre Arme entkrampften sich und ihre Lider fielen wieder zu. Ihr Hirn kramte Bilder hervor, sie war erschöpft, konnte es nicht verhindern.
Eine Nacht in vielen Bildern. In rasender Abfolge spulten sie sich ab in ihrem Kopf. Licht gleißte auf dem Asphalt, traf auf eine Mauer und schlug in die Gesichter der Meute.
> Holt ein Auto, holt endlich ein Auto! < Schreie, Johlen, laute Pfiffe und höhnisches Lachen, das hörte Ruth. Langsam wurden die Bilder komplexer, aber immer noch spulte die Filmrolle viel zu schnell, alles hastete kreuz und quer vor ihrem inneren Auge. Schreie, Menschen, aufgeblendete Scheinwerfer und das Gedröhne von Motoren.
> Hast du den Strick, hast du? < Ganz nah an ihrem Ohr klang die Stimme auf, sie sah, wie Hände sie ergriffen.
Helft mir... , helft mir!
Ruth vernahm ihre eigene Stimme, aber so dünn und schwach; Ruth wußte, das sie verlassen war.
Niemand würde ihr helfen, das Dröhnen der Motoren wurde lauter und als einziges körperliches Gefühl spürte sie ein Brennen an ihren Fußknöcheln, sie bekam furchtbare Angst.
Du mußt... .
Sie konnte den Gedanken nicht zu Ende bringen, ihre Beine schleiften über den Asphalt.
Du mußt die... .
Es wurde einfach zuviel, die Bilder verlangsamten ihren Lauf nicht, die Pein wurde schmerzlich spürbar, sie wachte endgültig auf.

> Was ist das? < Sie zogen das Boot von Douglas; es war das letzte im Wasser an Land; eines der Mädchen wies auf den See.
Alle sahen einen großen, runden Fleck, der sich stetig ausbreitete. Sand quoll vom Grund nach oben und machte das Wasser körnig.
> Es kann nicht mehr sein als eine Luftblase, die aus dem Schlamm entweicht! < Der Gruppe schien das Erklärung genug, sie taten die ersten Schritte landeinwärts zu einer Rasenfläche. Ein Geräusch weckte ihre Aufmerksamkeit erneut. Aus dem Mal im See drang ein Brodeln, Luftblasen und Wasserdampf stiegen auf, dann begann die schmutzig gelbe Konsistenz sich zu drehen. Erst nur langsam, dann immer schneller. Der Fleck ähnelte jetzt einem Strudel, so als ziehe man in einem Becken den Stöpsel. Rasend schnell drehte sich das Ganze nun, das eingefärbte Wasser drängte am Rand nach oben und sah einer Windhose ähnlich.
Stürmische Windböen trafen ihre Gesichter, dieses Gebilde aus Sturm und Wasser erhob sich aus seinem Bett und kam ihnen näher. Sahen sie das Ganze zuerst sprachlos, so schrieen sie nun durcheinander und flohen in Richtung ihrer Fahrzeuge. Der Sturm um sie herum tobte inzwischen dermaßen stark, das die Wipfel der Bäume sich bogen.
Bei den Autos angekommen, bemerkten sie erst, das außerhalb des Parks nicht ein Luftzug wehte und riefen sie kurz vorher noch durcheinander, so beruhigten sich die ersten, als auch die letzten eintrafen.
Alle waren sich einig, keiner von ihnen erlebte je so etwas, jemand schlug die Hände vors Gesicht. Hörten sie Augenblicke vorher noch den Sturm innerhalb der Parkmauer heulen, so legte sich dieser in den nächsten Sekunden.
Die Clique war startklar, als jemand eine Frage stellte.
> Wo ist Carl? < Seinem Mädchen war es endlich aufgefallen. Niemand wollte zurück in den Park, einige der Freunde stellten sich an den Torbogen und riefen seinen Namen, keine Antwort kam zurück.
Gleich einer Horde zusammen getriebener Tiere standen sie verhalten herum, nestelten an ihrer Kleidung, fuhren sich mit den Händen durchs Haar. > Nun fangt nicht gleich an zu weinen! <
Thomas sprach die Gruppe an. > Ihr steht herum, als wäre die Welt abgestürzt! Ich mach euch einen Vorschlag, ihr fahrt zum nächsten Treffpunkt und ich geh mit Douglas Carl suchen. Wenn wir ihn nicht finden, ruf ich meinen Alten an.<

Ist das der Preis, den wir zu zahlen haben?
Thomas kam die Frage nach einem Preis in den Sinn und er fand, sie hatten sich viel vorgenommen.
Zurück in dieser jetzt stillen Umgebung, die er plötzlich haßte, vor allem die Stille.
In der Stille kommen die Gedanken! Nein, er hatte nichts gegen den Park, sein Hass galt einzig der Ruhe, die immer, wenn sie eintrat in sein junges Leben, Erinnerungen aufwühlte. Er fragte sich, wovor hast du mehr Angst: die schlechten Gedanken an diese eine Nacht oder davor, Carl in irgend einer beschissenen Lage vorzufinden. Vielleicht war er ertrunken; sprang er gleich hinter einem Baum hervor und rief, „April, April?“
Thomas hätte seinem Freund liebend gerne eins in die Fresse gehauen, dafür, das er ihm diese leidige Sache mit Ruth wieder in Erinnerung rief
Schuldig, schuldig, dieses eine Wort machte eine monotone Zeile auf.
Schuldig, schuldig, schuldig... .
Seit dieser Nacht versuchte Thomas sich durchs Leben zu schlagen, ohne dieses Wort laut heraus schreien zu müssen.
Schuldig!

> Mist! < Thomas achtete im Dunkel nicht auf den Weg und fiel über einen Haufen Geäst. Während er versuchte, seine Beine frei zu bekommen, wies Douglas wortlos auf eine Bodenerhebung einige Meter neben ihnen.
Thomas stand auf, beide machten sich auf den Weg zu der dunkel, drohenden Verwerfung.
Ein Ast, der seine Finger zum Himmel streckte, als wolle er zu den Sternen, stach aus dem Rund der Hügelkuppe hervor.
Aber das war nicht alles, da war noch etwas. Das Mondlicht fehlte unter den Kronen der Bäume, sie mußten näher heran.
Kein Alptraum, den sie je träumten, verursachte ihnen solchen Schrecken, in einer Sekunde des Schocks erstarrten beide.
Der vermeintliche Ast stellte sich als Arm heraus, dessen verdrehte Hand mit steifen Fingern nach dem Leben griff. Der Kopf Carls ragte aus der Kuppe. Ameisen liefen in dem von erlebten Grauen verzerrten Mund. Ein Bein stach steil zwischen Kopf und Arm in die Höhe.
Atemloses Grauen, sie schafften es nicht, näher an Carls Grab zu gehen.
Thomas tastete still nach seinem Handy, fand ein Päckchen Zigaretten, > ich könnte eigentlich das Rauchen wieder anfangen <, Douglas sprach. Thomas hielt auch ihm die Packung hin. Sie starrten aus einer Entfernung, die das Gesicht des Toten nicht ganz erkennen ließ.
> Und was sollen wir jetzt tun? < Douglas wandte sich an seinen Freund, Thomas fiel das Handy wieder ein. Wortlos wählte er die Nummer der Polizei.
Das Warten auf das übliche Knacken im Gerät als Zeichen der Verbindung schien unendlich. Eine ungewohnt rauhe und dunkle Stimme sprach zwei Sätze.
> Ist dir an deinen Freunden gelegen! Dann laß es! <. Thomas verstand im ersten Moment nicht, wähnte sich falsch verbunden.
Ein zweiter Versuch, er hob das Handy ans Ohr.
> Wir haben uns wohl nicht verstanden! Das wird für jemanden Folgen haben! <
Das Gerät platzte in seiner Hand, eine Stichflamme schoß nach oben, versengte Haut.
> Wir werden auf Hilfe verzichten müssen! < Erschrocken zog Thomas die Hand an seinen Körper, > Ich glaube, er wird bald wieder jemanden holen! <
Abrupt wandte sich Douglas seinem Freund zu, > du hast gesehen, um was es geht. Um unser Leben. Komm, wir müssen los, die anderen warnen! <

Alle, außer Carl, trafen sich wieder.
Ihr Treffpunkt befand sich auf dem Plateau eines künstlich angelegten Berges. Einer Halde aus Abraum, welche die Stadtväter begrünen ließen. Eine steinerne Figur hielt in der Nähe eine ewige Wacht.
Die beiden Freunde sahen ihre Clique herum stehen, wie Tiere, die man eingepfercht hatte. Ängstlich nach allen Seiten sichernd und nicht wissend, was noch auf sie zu kommen würde.
> Carl ist tot! < Douglas sprach es aus, wovon niemand hören wollte. Er sagte ihnen, er läge halb begraben in einem Erdhaufen. Auch den Anruf von Ruth und die Wahrscheinlichkeit, das es der Beginn ihrer Vergeltung wahr; ihrer „Grüße“, wie sie sich ausdrückte, verschwieg er ihnen nicht mehr.
Sie sprachen im Flüsterton miteinander, kein Alkohol, keine Droge war mehr nötig für den Kick. Für Spannung sorgte jetzt das unheimliche Andere. Nein, keine Spannung, grausige Anspannung. Ihre Körper zitterten, diesmal nicht wegen der morgendlichen Kühle oder eines verfliegenden Drogenrausches.
Sie waren von nun an Gejagte, wurden von etwas gejagt, gegen das es keine Therapie gab. Und diese Diskussionslosigkeit, wie sollte man daß, was sie jagte, in Worte fassen?
Das Wissen um das Nichts machte sie doppelt beklommen.
Als Doris und Regine eine leise geführte Unterhaltung begannen, ob dieser Teufel vielleicht ein Feinspitz sei und auch „kleine Mädchen“ in seinem bösen Reigen mit einschloß.
Als Klaus und Martin darüber berieten, ob eine Bewaffnung von Vorteil wäre.
Als ein stoppelbärtiger Penner auf einer Bank plötzlich aus seinem Rausch erwachte, sie alle anstarrte und plötzlich lachte, begann der Boden zu vibrieren.

Hinter ihrem Rücken fackelte die Kokerei in einem riesigen Glutofen ihr überschüssiges Gas ab. Der Himmel hinter der Gruppe flackerte in prächtigem Orangerot.
So öffnet die Hölle ihre Pforten, Regine kam der Gedanke, doch das Böse kam aus dem Dunkel.
Stein auf Stein knirschte, abrupt drehten sich ihre Köpfe in Richtung der Laute. Etwas war anders an der Skulptur.
Der alte Mann ganz in Schwarz, der sonst den linken Arm in ewiger Pose erhob und mit der Hand die toten Augen beschürzte, um über die Stadt zu blicken, hatte seine Position verändert.
Er schaute nicht mehr über die Stadt, er sah sie an, und er senkte jetzt langsam den Arm, ein steinerner Finger zeigte auf sie alle.
> Müßt ihr nicht bezahlen? < In seinem Mund war nur schmutzig grauer Stein, seine Augen leuchteten bernsteinfarben.
> Jemand hat mich beauftragt, seinen Tribut einzufordern, und ihr habt den Preis noch nicht gezahlt! <
Regine kippte einfach zur Seite, ohne das sie jemand auffing, Martins rechter Schuh schimmerte naß.
> Ich bring euch in des Teufels Arschloch, aber vorher tue ich euch weh! < Stampfend setzte die Figur einen Schritt auf die Clique zu, ein Schritt, der den Boden noch einmal mehr erzittern ließ; dazwischen schrie Martin auf: > Wer bist du? <
> Ich bin der Schuldeneintreiber und ihr habt zu bezahlen! < Martin schreckte zusammen und trat dann mit hängendem Kopf einen Schritt zurück. Die Furcht vor diesem steinernen Riesen verbot ihnen weiter nach dem Grund dieser Aussage zu fragen.
Eigentlich wußten sie alle, warum!
Allein der Stadtstreicher, dessen ständig schnapsumspültes Hirn den Golem ihm als einen neuen Erlöser vorgaukelte, torkelte vor seinen Füssen und kniete lachend und lallend vor ihm nieder.
Sein neuer Erlöser stampfte mit dem Fuß auf seinen fauligen Körper. Der Penner schrie nicht mal, bevor er starb.
> Das habe ich mit euch vor! Aber zunächst wollen wir was zu lachen haben. Rennt, ich hole euch dann einen nach dem anderen! < Nicht ein Entsetzensschrei entrang sich ihren Kehlen, als er sein Mordopfer aufnahm und wie einen nassen Sack über eine seiner breiten Schultern warf.
In den Bernsteinaugen des Felsenriesen blitze es einmal auf und bevor er sich zum Gehen umwandte, sprach er zu ihnen: > Bis zum Morgengrauen! <

Douglas erkannte, es war keine Nacht nur der bösen Omen. Ruth’s Rache war längs angebrochen. Die Frage war: Sollte ihr Herold bis zum Anbruch des Morgens ihre Vergeltung erfüllt haben oder ging von da an die Jagd erst wirklich los? Er fragte sich weiter, was konnten sie anrichten, wenn sie dieser unheimliche Mörder fand, der gerade mit Riesenschritten hinter einer Hügelkuppe verschwunden war
Resigniert hockte er auf einer Bank.
Schluß mit der Duckmäuserei, mit dem ewigen Verdrängen. Auch vor Thomas wollte er nicht mehr kuschen. Zu lange war sein Freund verändert. Mit Sicherheit nagte diese eine Nacht genauso an ihn wie an Douglas. Nur, während Douglas Zweifel an seinem Tun hegte, versuchte es Thomas auf die harte Tour; die Sache mit Ruth zu bewältigen.
Das Leben ist eben hart, nimm es wie es ist und sieh drüber weg, das vermutete Douglas, war Thomas Einstellung.
Sein Freund war davor anders gewesen!
Im folgenden berieten sie, was sie jetzt zu ihrem Schutz tun konnten.
Alle waren sich einig. Trennen und auf verschiedenen Wegen flüchten.
Raus aus der Stadt.

Martin und Regine passierten das Ortsschild. Mit dem Auto auf der schmalen Landstrasse unterwegs, kam ihnen eine Nebelwand entgegen. Ein Block gepreßter Schwaden, der kurz über der Fahrbahn hing, beim näherkommen zog sie sich zu einer Schriftzeile auseinander.

ICH HOLE EUCH ALLE​
Die weißen Buchstaben schwebten über ihrer Sicht. Martin bremste das Fahrzeug ab, sie hatten die Möglichkeit, an einer Kreuzung den weiteren Weg zu wählen. > Links oder rechts, links oder rechts? < Er schrie Regine an, die ihm in gleicher Lautstärke antwortete, > fahr hindurch, er will uns doch nur vor sich her treiben. < Martin ließ die Kupplung springen, Reifen quietschten und das Paar raste für kurze Zeit blind durch den Nebel. Es konnte nicht lange gut gehen. Der junge Mann besaß jetzt nicht die Ruhe für solch ein Manöver, er zappelte so lange am Lenkrad herum, bis sie im Straßengraben landeten. Bis auf eine Schürfwunde an Martins Kopf ging alles ohne weitere Verletzungen ab. Das Paar setzte seine Flucht zu Fuß in den Wald fort, der rechts der Strasse begann. Mit einem raschen Seitenblick sah Regine, das der abgegrenzte Nebelblock waagerecht in den Wald gesogen wurde.
Was bleibt uns anderes übrig, als zwischen den Bäumen unser Glück zu versuchen, dachte sie. Martin sagte sie nichts davon. Sie rannten, Zweige schlugen ihre Gesichter blutig. Regine lief hinter ihrem Freund und sah sich oftmals um. Noch war nichts vom Nebel zu sehen, der den Wald doch vereinnahmen müßte. Weiter ging ihre Flucht, sie mußten darauf achten, wo sie hintraten. Einige Male sah Regine nach hinten. Nichts zu sehen.
Aber zu hören!
Zwischen ihren keuchenden Atemzügen nahm ein Geräusch wie das immer lauter werdende Rascheln von Blättern und Ästen Form an.
Sie sah den Golem. Und sie sah ihn nicht. Welche Form gefiel ihm nun: ein Wirbelsturm, ein starker, knorriger Ast, der ihnen den Weg versperrte und sie zu Fall brachte. Oder ein Gemisch aus Waldtorf und Laub?
Tief sogen beide die so dringend benötigte Atemluft ein. Tiefe und verlangende Atemzüge, Sauerstoff für ihre Lungen. Vor Erschöpfung und vor Angst!
Aufgewirbeltes Laub und ein pfeifender Sturm trieben rasch in ihre Richtung.
> Renn, Martin, renn! < Sie stieß ihren Freund vorwärts, wollten sie leben, mußten sie alle Energien von ihren Körpern fordern.
Während Regines Herz und Lunge Leistungsgrenzen durch Sport gewohnt waren, geriet Martin außer Atem. > Ich kann nicht mehr <, japste er, machte einen Buckel und stützte sich mit Händen an seinen Knien ab. > Bleib nur so stehen, die Bäume werden einfach umfallen und dich zermalmen. Sieh dich doch mal um. < Er sah die schwankenden Stämme mit ihren hektisch schlagenden Ästen. Sie winkten ihm zu und der Sturm um ihn herum schrie: > Komm her zu uns, dann ist es vorbei! <
Martin quälte seinen Körper vorwärts, mit schleifenden Füssen erreichte er einen Bach. Regine zeigte auf einen umgestürzten Baum, der quer das Flüßchen überspannte, ein Ufer mit dem anderen verbindend.
> Dort hinüber! < Sie tastete mit den Füssen über den Stamm, ging dann mit schnellen Schritten über den gefallenen Baum zum anderen Ufer, sie wich dabei den stabilen Ästen aus. Sicher auf der anderen Seite angekommen schaute Regine nach Martin und ihren Verfolger, der Wirbelsturm verharrte und stand am gegenüberliegenden Ufer. Ihr Freund setzte den nächsten vorsichtigen Schritt, Martin war erst kurz vor der Mitte des Stammes.
> Hier herüber kann er uns nicht folgen! Über das Wasser zu wandeln ist einzig das Recht des Herrn. < Martin hörte sie, er keuchte, bekam kaum Atem und setzte den nächsten Schritt.
Er versank.
Erst mit einem Bein. Dann brach die Borke des Stammes weiter auf und er fiel hinein in das hölzerne Fleisch. Bevor ihn sein seltsames Grab verschlang, schrie er, > du hast mich belogen! < Das Mädchen fiel kraftlos auf die Knie, > Herrgott, was sollte ich dir noch anderes sagen. Wie sollte ich dir noch helfen? < Dann versuchte sie sich mit einem Sprung in die Fluten zu retten. Sie verhedderte sich in Äste und Zweige, die im steinigen Grund des Baches hakten.

Du mußt die... .
Ruth wußte nicht, ob sie wieder einschlief oder wachte. Sie befand sich in einem paralysierten Zustand, der sie unbarmherzig an den Ort zurück brachte, den sie niemals mehr aufsuchen wollte. Das Mädchen sah vom schwarzen Asphalt auf, Stricke waren um ihre Fußgelenke stramm gebunden. Die Wölfe waren um sie herum, die Clique. Douglas wollte als einziger ihr helfen und konnte nicht. Sie hielten ihn fest. Abermals Schreie, aufheulende, tierische Laute und Motoren.
Ruth wurde über den Straßenbelag gezogen, zunächst langsam... .

Irgendwo klingelte immer ein Telefon. Allgemein herrschte Ruhe in der Stadt, in den Räumen der Hauptwache schimmerte gedämpftes Licht der Notbeleuchtung. Jemand kippelte mit einem Stuhl, das Geräusch hallte monoton durch die Flure. Von weit her hörte man einen leise laufenden Fernseher.
Seltene Idylle, dachte Hauptwachtmeister Ewald Brandt, und er hoffte, das würde so bleiben bis Dienstschluß.
Vor einer Stunde löste er einen Kollegen ab und seit dem saß er in der Notrufzentrale vor den Telefonen und der grauen Funkrufapparatur. Ab und zu kamen knackende Geräusche aus dem Gerät. Ansonsten blieb es still, er hatte es geschafft und seine stämmigen Beine auf das Bord vor ihm gelegt. Gelangweilt blickte er aus dem Fenster, dann schreckte ihn das Geräusch der sich öffnenden Bürotür hoch.
> Thomas ist da und will dich sprechen <, sagte ihm ein Kollege. Ewald Brandt stand auf, empfing seinen Sohn und Douglas und ging mit ihnen in sein Büro. Sie berichteten ihm von dem Anruf Ruth’s, den Tod Carls und der Begegnung mit der Steinskulptur. Für den Polizisten klang das nach einem unglaublichen Märchen, also schlugen sie ihm vor, den Park aufzusuchen.

Sie standen vor Carls Grab. Ewald Brandt schaute stumm. Douglas sagte, > Ruth hat ein Faible für die Mystik! Ich glaube daran, sie hat etwas erschaffen, was nicht aufzuhalten ist wie ein Vampir oder Werwolf in den Geschichten und Filmen. Er ist aus Stein, aus Natur. Ein Golem! <
> Was sollen wir tun <, fragte Thomas.
> Nur derjenige, welcher die Kreatur rief, kann sie vernichten! <
> Ruth! < Thomas sagte ihren Namen.
> Ich glaube, wenn sie wirklich wieder in der Stadt ist, hat sie ihre Bleibe in den Industrieruinen <, vermutete Douglas.
> Dann nichts wie hin. < Thomas Vater ging mit schnellen Schritten zum Wagen.

Der Ungestaltete wußte, sie verrieten ihn in diesem Augenblick auf der Polizeiwache. Aber laut den Anweisungen, die auf Papier geschrieben unter seiner sandigen Zunge lagen, kam nach Carl und Martin Klaus an die Reihe.
Der Golem folgte seinen neuen Opfern in die Katakomben. Thomas und Douglas blieben dann übrig; und noch jemand, doch der sollte seine Rache als letzter spüren.
Die Kreatur formte sich erneut aus einem Wirbel von Staub und altem, faulen Laub. Dann stieg sie hinab zu dem Paar, unter die Stadt.

Das Abwassersystem war inzwischen erneuert, doch die alten Gänge ließ man stehen, sie wurden niemals verfüllt. Klaus und Doris hasteten durch die dunklen Schlünde. Vage, nur verwackelt sahen sie im Schein der Taschenlampe die ausgewaschenen Fugen der gemauerten Sohle vor sich auftauchen.
An einer Gabel verhielten sie kurz, aus der linken Röhre hörten sie ein Scharren wie von Pfoten. Beide entschieden sich einstimmig für den rechten Gang.
Der Golem spürte, das er nicht mehr viel Zeit besaß, seine Beute zu stellen. Etwas geschah rund um das Versteck seiner Herrin. Er mußte seine Jagd auf das Paar vorantreiben. Er mußte es beenden: sniff, sniff, sniff... , er roch das junge Leben der beiden flüchtigen und das kranke eines alten Köters. Er materialisierte sich neben dem Tier, das zum Sterben hierher kam. Seine Pranke griff ins Fell, hob das winselnde Geschöpf an. Steinernes Gebiß brach Knochen.
Schnell, nur schnell, er bog an einer Gabel nach links ab.

> Doris! Warte! < Atemlos hielt Klaus inne, faßte seiner Freundin an die Schulter. Er keuchte, > da oben, das Kreuz. < Klaus leuchtete nach oben. Im sterbenden Schein der Lampe sahen sie einen Deckel mit eingemeißeltem Kreuz am Ende eines aufsteigenden Schachtes. Die Katakomben waren früher Ort ihrer Mutproben – bist du kein mutiger Indianer, gehörst du nicht zu uns. Sie kannten viele Wege, auch diesen.
> Er führt in die Räume der Muttergotteskirche. Meinst du, dort haben wir Schutz vor dem Wesen? <
> Die Gänge sind zu lang. Doris, das Licht geht aus und ich kann ihn schon hören. < Doris verstand auch ohne weitere Erklärungen. Sie faßte nach dem ersten Steigeisen, die so verrottet, das sie dünn wie Drähte waren. Das Licht ging aus.

Der Golem lauschte. Ihm blieb keine Zeit. Sollte er nun abbrechen und seine Herrin schützen. Überlegen war nicht seine Stärke, er hielt sich an Befehle. Und der jetzige war noch nicht ausgeführt. Wieder horchte er hinein in die Schlünde.
Ja, da ist ein Geräusch, doch es kommt nicht aus diesem Kanal. Ein Abzweig, er mußte einen Abzweig suchen.
Angelangt an einer Kreuzung konnte er die Richtung der Laute orten. Sein ungeschickter Fuß rutschte in die glatte Sohle. Fast wäre er gefallen, das brachte ihn auf eine Idee. Er mußte sich entmaterialisieren, aber nicht ganz. Er mußte zu Staub werden, dann konnte er die Gänge schneller entlang eilen. Es blieb keine Zeit.

Doris hing über Klaus. Vorsichtig erklomm sie die dünnen Eisen. Ein morscher Laut, unter Doris linkem Fuß brach eine der Steighilfen, krampfhaft umschloß ihre rechte Hand das Eisen über ihr, für den Moment hielt es. Ihr suchender Fuß traf Klaus am Kopf, Rost flog ihm in die Augen. Er schob blind ihren Fuß nach oben, versuchte, mit ihr zusammen neuen Halt zu finden. Sie hingen an brüchigen Stahl sechs Meter über der Sohle. Ein Freiticket für einen Genickbruch.
Sollten die letzten Eisen doch noch halten? Fast glaubten sie nicht mehr daran. Und was ist mit dem Deckel?
Läßt er sich überhaupt bewegen?

Die Kreatur war der Erfüllung ihrer Aufgabe so nahe. Jedoch die Sorge um die Herrin ließ ein aufmerksames Suchen nicht mehr zu. Die Schlinge zog sich zusammen.
Da, ein Lichtstrahl, weit vorn in einer dieser gottlosen Gänge. Der Golem wollte diesem Licht nachgehen, er kam heran an einem Schacht und sah nach oben. Ein verschobener Deckel. In seiner staubigen Form schnellte er hinauf. Ein Blick rundum, doch hier wuchsen nur graue Büsche, ein paar Frösche quakten, nichts weiter. Von hier aus könnte er starten zu seiner Herrin. Ihr zu helfen, wäre jetzt oberstes Gebot. Doch ein Auftrag ist ein Auftrag.

> Sind wir ihm entkommen? < Doris fragte, während Klaus den Deckel zuschob. > Weiß nicht. Wir werden sehen. < Doris sah sich um in dem Kellerraum und erblickte eine restaurierte, aus Holz geschnitzte Muttergottesfigur.
Heilige Mutter Gottes, bete für uns, sie sagte es nicht, aber sie dachte es.
Bete für uns.
Sie waren noch nicht hinaus aus dem Kellerraum, da blies Staub aus den Fugen des Schachtdeckels. Wie in einer Windhose gefangen wirbelten Staubflocken um sie herum. Klaus packte die Klinke, riß daran, die Tür war verschlossen.
> Das kann einfach nicht sein, sie war doch sonst immer offen. <
> Hierher, du Trottel! Das ist doch der Ausgang. < Doris behielt in dem Staubwirbel den besseren Überblick. Klaus geriet in Panik, kopflos lief er den langen Flur entlang, die Kellertreppe nach oben und seiner Freundin davon.
Wir werden es niemals schaffen, er ist viel zu schnell, Doris versuchte, einen kühlen Kopf zu bewahren und lief um die Treppe herum, hockte sich ganz unten in der Neige der Holzstiege.
Glockengeläut in der Nacht. Aber die Glocken klangen nicht hell, sie trugen ihren Ton nicht weit wie sonst, sie bellten. Sie bellten wie die Hunde der Jäger, die ihre Beute gestellt und ihren Herrn meldeten – die Jagd ist vorüber. Doris wagt sich heraus aus ihrem Versteck, stieg vorsichtig die Treppe hinauf und suchte ihren Freund. Immer höher und höher ging sie den Kirchturm hinauf. Eine der Glocken schlug noch leise an, bedächtig schwankte ihr Seil, rauf und runter, hin und her. Das junge Mädchen sah hinunter, suchte mit den Augen das Ende des Glockenseiles und schrie.
Der Scharfrichter hatte sein Werk getan, die Schlinge war endgültig zugezogen.

Sie waren angekommen. Während der Fahrt ging es schweigsam zu. Jeder von ihnen hing seinen Gedanken nach, nagte an ihnen herum. Vor ihnen lag das nächtliche Brachgelände einer Industrieruine. Beton und Stahl ragten in den Himmel empor. Verrostete Pipelines verschiedenster Durchmesser, Stahlgerüste und meterdicker, schmutziggrauer Beton. Hoch wie Wolkenkratzer. Sie suchten und brauchten es nicht, das Inferno überraschte sie.
Nicht ein Vorhang machte die Bühne frei für den ersten Akt im Theater des Grauens, sondern eine Mauer von fünfzig mal fünfzig Metern brach vor ihnen mit ohrenbetäubenden Lärm zusammen.
Aus der aufsteigenden Staubwolke rollte eine eiserne Abrißbirne von gut dreißig Metern Umfang. Behäbig schwankend lief sie vor den dreien aus. Hinter der Birne füllte dicker, gelber Rauch die entstandene Maueröffnung, der sich rasend schnell auf dem Boden und um ihre Füße ausbreitete.

> Der Stahl kocht <, Erich Brandt schrie plötzlich und wies mit dem Finger auf die geborstene Mauer. Im nächsten Moment sahen alle drei das fließende, graublaue Magma, der Nebel über der Masse ist nicht nur Rauch, sondern der giftige Dampf der Gichtgase. Aus dem flüssigen Stahl erwuchs ein Gesicht, „EMT“ steht auf seiner Stirn geschrieben.
> Siehst du die Buchstaben, Polizeihauptwachtmeister Erich Brandt. Das M steht für Wahrheit. Du hast damals aus einem Versteck heraus zugesehen und nichts getan und nichts gemeldet. Aus Angst, das sie deinen Sohn ins Gefängnis stecken und du deinen Job verlierst. < Ruth schrie es heraus, sie stand hoch oben auf einer Wolke rostigen Staubs, > du hast zugesehen, wie sie mich mit einem Auto über den Asphalt zogen! <
Überall dort, wo der glühende Strom auf Eisen und Beton traf, begann es zu knirschen, zerrende Laute, welche die Ruinen zum Singen brachten. Schuppen, alte Kräne stürzten ein. Einer der Drehkräne drehte sich nach den Dreien um. Das Zahnrad am Drehturm barst, es krachte im Getriebe und mit sirrendem Laut schwang der Greifer auf sie zu. Das Maul öffnete sich und zeigte seine Eisenzähne. Schon erreichte es Thomas Vater, er hob ein Kantholz vom Boden und steckte es quer zwischen die Backen des Greifers. Das Holz bog sich durch und brach. Der Kübel erfaßte von oben herab Brandt, der in Verzweiflung durch die stählernen Kiefer hindurch sprang. Gänzlich aufgenommen stand er in den Backen und fuhr nach oben wie in einem Fahrstuhl des Grauens.
> Ich habe es gesehen <, schreit der Mann, > ja, ich habe es gesehen, aber ich konnte mir nicht vorstellen, das sie so etwas tun können. Ihr alle wart für mich immer noch Kinder! <
> Du hast doch zugeschaut und mir nicht geholfen. E und das M und das T. Das ist die Wahrheit! <
> Ja, verdammt noch mal, das ist die Wahrheit! < Der Greifer fuhr auf und nieder, schwang hin und her, der Polizist bekam das Seil zu fassen, an dem der Greifer hing. Er versuchte, sich daran hoch zu ziehen, um den relativ starren Ausleger zu erreichen. Der Golem fuhr heraus aus dem Kran, Blut regnete auf Douglas und Thomas, sie schmeckten es auf ihren Zungen. Doch es war nur die morsche, rote Menningfarbe. Rostschutz, der auf sie herab regnete.
> Erst sollst du deinen Sohn und Douglas leiden sehen, bevor du stirbst! < ,schrie der Golem. Seine Worte wie ein Wüstensturm, sein Atem so heiß, daß er den Metallstrom zur Weißglut brachte. In der Hitze der Nacht, in dem Getöse von singendem Eisen, das sich durchbog und brechendem Beton, fiel Thomas auf die Knie, > wir sind ja mitten drin. Keine Chance auf einen Freispruch. Wir sind ja mitten drin. <

Douglas rüttelte Thomas an der Schulter.
> Du weißt, sie gehörte nie zu uns! Du warst der einzigste, der sich um sie kümmerte. < Douglas wußte, was sein Freund meinte und mit diesem Wissen fing ihn das Grauen ein über die Erkenntnis, was sie dem Mädchen antaten, daß doch nur zu ihnen gehören wollte. Er wußte, sie hatten sie immer abgelehnt. Sie stammte aus der Unterstadt, war ein „Schmuddelkind“.
Douglas schaute auf zu Ruth. Schreiende Vögel, die in Panik aufflogen, gerieten in die heiße Luft, die über den Ruinen waberte. Sie verloren im Flug erst ihre Federn, dann ihr Fleisch. Vogelskelette flogen über ihre Köpfe, bevor die Knochen ganz in Asche übergingen.

> Altes Unrecht kann niemand mehr in Recht umwandeln! Das ist Wahrheit. Du bist nicht besser als wir, wenn du vergangenes Unrecht mit neuem Unrecht vergelten willst <, schrie der Polizeibeamte durch den Lärm.
> Aber ich kann Rache nehmen, dafür hab ich die letzten Jahre in der Psychiatrie gelebt. Sieh her <, Ruth zeigt auf ihre Schuhe. Blut rann über die weißen Sportschuhe, färbten sie rot.
> Immer dann, wenn ich an die Nacht denke, an der ihr mich über den Asphalt geschliffen habt, bis meine Kleidung zerfetzt und meine Haut wund war bis auf die Knochen... . < Sie redete nicht mehr weiter, sondern hob ein Hosenbein an und sie sahen den blutigen Ring um ihren Fußknöchel. Da, wo sie Ruth mit einem Strick fesselten, so fest, das daß rauhe Seil ihre Haut zerschnitt.
Douglas faßte Thomas am Arm und zog ihn mit Gewalt hoch, als von den letzten freien Seiten etwas auf sie zukam. > In den Keller der alten Gießerei, los <, schrie er Thomas an. Er drehte sich mit seinem Freund, der wie ein willfähriges Opfer in seinen Armen hing herum und beide erstarrten. Eine riesige Planierraupe fuhr mit ratternden Laufketten auf sie zu.
Blaues Glimmen drang links und rechts aus den Fenstern der Fahrerkabine, vorn am Schild öffnete sich das Maul des Golems und lachte. Zu beiden Seiten waren sie eingeschlossen von Mauerwerk und hinter ihnen lauerte der Kübel des Drehkranes. Die Raupe schob alles vor sich her, was das Schild erhaschen konnte. Rohre, Maschinenteile und Kohlenstaub. Douglas lief auf den Caterpillar zu, zerrte kurz vor dem Fahrzeug Thomas eine Treppe hinunter.
> Wasser <, sagt er zu seinem Freund, > Wasser kann uns retten! < Sie tauchten ab, die Stufen hinunter. Nur fort von der dröhnenden Welt da oben, wo der grimme Schnitter ihr Leben forderte.

Erich Brandt fand nicht viel Halt im Ausleger des Kranes. Mit Schwung schaffte er es, mit einer Hand Halt zu finden am Sims eines hohlen Fensters des hölzernen Aufbaues. Schnell stieg er hinein, lief am Seilrad vorbei zum hinteren Teil, dort war eine Tür. Vorsichtig spähte er hinaus und sah, wie Douglas mit seinem Sohn eine Treppe hinunter lief. Vor ihm drehte ein riesiges Windrad aus Metall seine Runden. Er sprang auf einen der Windfänge, der ihn nach einer halben Runde zu Boden trug. Er wollte auf jeden Fall den Treppenabgang erreichen, doch das Schild der Raupe war kurz davor, die Öffnung zu zu schieben.
Von weit her hörten die beiden ein dumpfes Poltern, wie von herab fallenden Gesteinsbrocken erzeugt, dann herrschte vorerst Ruhe. Nur das Tropfen von Wasser, das aus den Ritzen des zerfressenen Betongewölbes über ihnen rann, durchbrach die Stille.
Braune Linien zogen ihre Bahn längs der Decke, den Wänden und der Fundamente. Rostendes Moniereisen ließ den Beton platzen.
Wasser bekämpft Feuer, dieser Gedanke von Douglas brachte sie hierher. Die tieferen Gänge standen unter Wasser. Sporttaucher stiegen hier öfter hinunter und suchten die Geschichte des Ruhrgebietes auf, das wußte Douglas. Nur ein Feuerzeug und ein paar Löcher zur Entlüftung spendeten ein wenig Licht. Vorbei an stummen Maschinen ertasteten sie ihren Weg.
Es roch nach Schlamm und Moder. Der Geruch stieg vom Grund her aus dem Wasser auf. Oft traten sie in Pfützen, das platschen ließ sie jedes mal zusammen zucken.
Thomas, der vormals so mutig, ließ sich nun hängen, auch aus Sorge um seinen Vater. Plötzlich sah er auf, > warum hast du uns vergeben <, fragte er Douglas in der Dunkelheit.
> Weil ich mir nicht vergeben konnte. Und weil wir zusammen gehören und uns diese Schuld gemeinsam aufgeladen haben. Darum! <

Diese Gänge können endlos sein, daran dachte Douglas bei jedem vorsichtigen Schritt in dieser Finsternis. Zumindest brauchte er Thomas nicht mehr mit sich schleifen, er fing sich soweit, das er von selbst Douglas folgte. Immer wieder sah er zurück, als könne sein Vater sie von hinten erreichen. Ein steter Luftzug war ihr ständiger Begleiter, und dann die vielen kleinen Geräusche.
Wasser, das von Rohren tropfte, das Schlagen seichter Wellen an die Ränder der Betonbecken, eine schwimmende Ratte und dann das hohle Pfeifen des Luftstromes.
In den nächsten Minuten gewöhnten sie sich an die verschiedenen Laute, doch plötzlich ein Scharren, lauter, noch lauter.
Und noch lauter. Sie suchten Schutz hinter einer mit Hebeln gespickten Wand. Ein dünner Lichtstrahl wanderte an ihnen vorbei, dann folgte ein Gesicht.
> Vater <, flüsterte Thomas. Brandt, jetzt erkannten sie ihn, > ihr seid es! < Er erklärte ihnen, das er einen Einstieg fand, etwas weiter vor ihnen. > Kommt, ich führe euch. < Gemeinsam gingen sie den Weg des Polizisten zurück, Brandt marschierte eilig voraus, zerteilte dabei die faulige Luft, die an Douglas und Thomas Nasen vorbeiwehte.
Ist es das modernde Wasser im Becken, oder? Douglas beschlich ein Verdacht. Etwas streifte ihn, nein, keine Spinnenweben, etwas kleines krabbelte auf ihn herum.
> Nein <, schrie Thomas, > es hat versucht, in meinem Mund zu kommen! < Douglas sah seinen Freund, wie er mit den Armen um sich schlug und ein unsichtbares Ding vertreiben wollte. An seinem eigenen Schienbein spürte er das Krabbeln unzähliger Beinpaare. Das war nicht alles, von irgend woher erklang das dünne Läuten einer Totenglocke, von weit her und dumpf; aus dem Herzen der Hölle. Rotglühender Schein ließ Brandts Körper bersten. Endlich war genügend Licht vorhanden, und mit dem Licht versammelten sich Myriaden von Schaben um sie herum, gefolgt von Ruth.
> Endlich hab ich euch! <
Die Heimchen bildeten die Gestalt des Golems, erhoben sich zu einer Form, welche vor ihnen stand als hektisches, krabbelndes Getier. Während Douglas nur starrte, brach Thomas abermals zusammen. > Vater <, schluchzt er, > Vater! <
> Du warst unartig, Sohn. Sehr unartig. < Der Golem sprach mit bröselndem Mund. Immer wieder fielen Schaben herab zu Boden, versammelten sich dort und vereinten sich wieder mit dem wabernden Körper. Das Totenglöckchen mit dem dünnen Klang zweier Eisen, die vom Luftstrom bewegt gegeneinander schlugen, gaben keine Ruhe, als der Golem sprach. Gedehnt und dumpf seine Stimme, >Ssseeeehhhhrrr uunnnnaaarrrrrrtttiiiigg! <
> Nimm du nun, was das deine ist. Ich will sehen, wie du sie frißt. Ich will endlich meine Rache! <
> Stop! < Der wahre Erich Brandt schrie. Er hatte sie endlich erreicht. > Nimm mich. Laß die Jungen, sie standen damals unter Drogen! <
> Dich hebe ich mich für zuletzt auf! Sieh zu, wie dein Sohn stirbt <, schrie Ruth zurück.
Niemand bemerkte es, plötzlich war Douglas vor Ruth und zog sie an sich. > Altes Unrecht kann man nicht mit neuem Unrecht vergelten <, sagte er atemlos. Tränen rannen über seine Wangen, berührten ihr Haupt.
> Warum hast du es zugelassen. Zugelassen, was sie mir angetan haben? < Ruth flüsterte ihre Frage.
> Ich war zu schwach, als du mich am dringendsten brauchtest. Das ist für mich keine Entschuldigung. Aber ich habe den anderen vergeben. Ich will nicht mit meiner Schuld leben, doch ich muß es! <
Der Golem formte sich zu einem Kegel und fiel in einem Scherbenhaufen auseinander, Ruth wollte wissen, > warum hast du dich wieder mit ihnen zusammen getan? < Sie konnte seiner Umarmung nicht entfliehen, mochte es ein letztes Fünkchen Seele sein, die sie einhalten ließ.
> In dieser Stadt! In unserer Gesellschaft, wem hätte ich mich sonst anschließen können. Welche neuen Freunde hätte ich finden können? <
> Alle möglichen. Vielleicht diesmal richtige Freunde! < Doch ihre Stimme zitterte, sie war sich nicht mehr sicher und das ließ den Scherbenhaufengolem für einen Moment ruhen.
Ruth fragte den Polizisten, > warum haben sie zugesehen? <
> Heute weiß ich, es war die Ohnmacht vor dem Ausschluß aus der Gesellschaft. Ich wollte einzig meinen Sohn vor dem Gefängnis bewahren. Doch wenn du uns läßt, sobald wir wieder oben sind, wird es Zeit für ein paar Wahrheiten. So bitter sie auch sind. Und welche Folgen sie auch haben werden. Das ist ein Versprechen. <
Die Scherben erhoben sich und während das Mädchen zu Douglas sagte, > weil ich dich immer gern hatte, habt ihr euer Leben gewonnen! <; wurden sie zu Glühwürmchen und umfingen Ruth mit ihrem Licht.
Und mit dem Licht verschwand Ruth, sie hatte noch etwas zu erledigen.

Der Staub legte sich, der Stahl erkaltete und verlor seine Glut, die Rauchwolken zogen über den nächtlichen Himmel der Stadt.
> Wo wird sie hin gehen <, Douglas senkt seinen Kopf. > Wo immer sie auch hingeht, du wirst sie nicht mehr sehen und niemand wird sie finden. < Erich Brandt sprach das aus, was Douglas längs schon wußte.
Drei Menschen blieben in den Ruinen zurück, die wußten, das sich ihr Leben von nun an änderte. Sie würden der Wahrheit den obersten Platz darin einräumen.
e M e t – was Wahrheit bedeutet. So schwer sie auch manchmal wiegt.

Beenden! Du mußt die Sache beenden!
Nun war er ihr ganz klar, der Gedanke, und damit floß in ihrer restlichen Seele neues Leben.
Ruth fiel nur eine Möglichkeit ein, diesen Dämon in ihrem Kopf zu vernichten.
Sie nahm das Buch der Beschwörungen und las daraus die vorgegebenen Zeilen, den Golem zu rufen.

Ein Berg aus Wasser erhob sich inmitten des Flusses, in einer hohen Welle schwappte er auf sie zu, brach sich am Ufer zu einer sekundenlangen Flut, die sie bis zu den Knöcheln umspülte. Als das Wasser zurück floß in sein natürliches Bett, formte sich angeschwemmter Schlick auf den klobigen Steinen zu einer menschenähnlichen Gestalt. Der Golem war ihrem Befehl gefolgt.
> Verneige dich! < Und der schlammige Riese beugte sich hinab zu ihr. Er öffnete bereitwillig sein Maul, graue und schwarze Basaltzähne wurden sichtbar, dahinter hob sich die lehmgelbe Zunge.
Sie nahm die Notiz ihrer Rache hervor und legte einen neuen Zettel hinein.
Der zu unheiligen Zwecken Erschaffene richtete seinen gewaltigen Körper auf und verwandelte sein Dasein augenblicklich in einen stürmischen Sog, der alles mit sich zog. Sand, Schlick, Steine.
... und auch Ruth.

Sie hatte Gott versucht, ein Wesen erschaffen und wußte am Ende immer noch nicht, wie! Am Ende war sie nicht klüger als einst der Maharal aus Prag und seine Helfer.




Epilog​

Still ruht der See
Das Wasser flach wie ein Spiegel.
Nicht ein Windhauch.
Millionen Frösche geben ein Konzert.
Eine Entenmutter führt ihre Jungen aus dem Dickicht des Schilfs heraus.
Die Spitzen des Grases bewegen sich hin und her, als ein letztes Entenküken das Versteck verläßt.

... da ist noch etwas.


Im Westen - Juli 2002 bis April 2004​
 



 
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