Der Unsterbliche ?

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Ich traf ihn auf einer Party. Er saß im Hintergrund und schaute leicht amüsiert auf das Geschehen. Es war seine besondere Ausstrahlung, die mich anzog. Aber zunächst beobachtete ich ihn nur. Eigentlich war ich gut darin, das Alter von jemandem zu schätzen. Doch hier tat ich mich schwer. Einerseits besaß er etwas Jugendliches, Frisches, aber auf der anderen Seite kam er mir irgendwie uralt vor. Seine Haare waren blond-graumeliert, aber das hatte natürlich nichts zu sagen.

Ich setzte mich an seinen Tisch: „Darf ich fragen, von wo Sie kommen?“
Er schaute mich an und meinte in ironischem Ton: „In meinem Fall wäre die Frage wohl, von wann ich komme. Aber lassen wir das.“
„Nein“, hakte ich nach, „das interessiert mich.”
„Ach, wissen Sie, ich rede manchmal einfach zu viel. Es ist nicht wichtig.“
„Doch bitte“, drängte ich, „das interessiert mich wirklich sehr. Also von wann kommen Sie?“
Er blickte mir tief in die Augen. „Nun gut, ich komme aus der Vergangenheit, genau genommen aus dem 15. Jahrhundert.“
Ich schaute ihn zweifelnd an. Machte er einen Joke? Aber er schien es durchaus ernst zu meinen. „Wollen Sie sagen, dass Sie 600 Jahre alt sind?“
„So ungefähr.“
Jetzt schien mir die Zeit für eine ironische Antwort gekommen zu sein. „Dafür haben Sie sich aber gut gehalten.“
„Ja, nicht wahr“, ging er auf meinen launigen Spruch ein, „und das liegt nur an gutem Schlaf und viel Wasser, bestimmt keine Schönheits-Ops, versprochen.“
Aber so schnell ließ ich ihn nicht entkommen. „Haben Sie den Jungbrunnen gefunden? Oder das Kraut des ewigen Lebens? Oder schlafen Sie jede Nacht mit einer Jungfrau? Verraten Sie mir ihr Geheimnis!“
Er schaute mich wieder mit seinen blauen Augen eindringlich an. „Sie gefallen mir, Sie erinnern mich an meinen jüngeren Bruder, daher erzähle ich Ihnen etwas, das eigentlich geheim bleiben sollte. Aber Sie werden es ohnehin nicht glauben.“

Er hielt nachdenklich einen Moment inne und fuhr dann fort: „Mein Weg zur Langlebigkeit, ja zur Unsterblichkeit ist viel leichter, aber auch viel schwieriger, als eine alchemistische Formel für die Überwindung des Todes zu finden. Ich war im 15. Jahrhundert Mitglied einer agnostischen Geheimgesellschaft, die von der kirchlichen Inquisition verfolgt wurde. Unser Führer war ein begnadeter, hochspiritueller Weiser. Er lehrte uns: Der Tod ist nur eine Suggestion. Seit Jahrhunderten wird uns – von der Gesellschaft, der Wissenschaft und der Religion – suggestiv eingeredet, dass der Mensch sterblich ist und daher jeder Mensch sterben muss. Und wir trichtern uns mittels Autosuggestion diesen Irrglauben noch tiefer ein. Die Todes-Suggestion ist so mächtig, dass sie unseren Körper, unsere Zellen, ja sogar unser Erbgut steuert, sie auf Tod programmiert, denn der Geist beherrscht die Materie.
Manche Lehren sagen zwar, dass man nach dem Tod in ein anderes Leben übergeht oder in unsere Welt wiedergeboren wird. Manche Menschen versuchen, mit obskuren Methoden ihr Leben zu verlängern. Aber keiner zweifelt daran, dass in diesem Leben der Tod unvermeidlich ist. Immer heißt es: Der Tod gehört zum Leben. Doch die Menschen sterben nur deshalb, weil sie vollkommen überzeugt sind, dass sie sterben müssen. Und sie altern auch nur deshalb, weil sie überzeugt sind, dass sie altern müssen.“

Wieder zögerte er und blickte mich prüfend an, er schien sich unsicher, ob man mir wirklich dieses unglaubliche Geheimnis verraten durfte, doch er fuhr fort: „Folglich gibt es auch einen Weg, Altern und Tod zu verhindern, wie mich mein spiritueller Lehrer unterrichtete. Du musst dich frei machen von der Todes-Suggestion, ja, auch von der Suggestion, dass du überhaupt alterst; du musst ganz tief in dir die Überzeugung verankern, dass du immer jung bleiben und niemals sterben wirst. Allerdings ist es extrem schwer, die Todes-Suggestion zu überwinden, die Menschen sind wie hypnotisiert vom Tod, also muss man sich davon dehypnotisieren. Das erfordert große geistige und seelische Disziplin, man benötigt dafür sehr viel mentale Übung. Und der Kampf ist nie gewonnen. Wenn ich heute plötzlich meine Unsterblichkeits-Überzeugung verlieren würde, dann müsste ich in Sekundenschnelle altern und sterben.“
Ich schaute ihn ungläubig an. War er ein Spinner? Ein Verrückter? Wollte er mir etwas verkaufen? „Wirklich, eine gute Geschichte für eine Party“, sagte ich schließlich.
„Nicht wahr“, meinte er lächelnd, „das sagte mein Freund Leonardo auch immer.“
„Leonardo da Vinci? Meinen Sie wirklich den?“
„Ich kenne nur diesen Leonardo.“

Ich überlegte: Gab es denn damals überhaupt schon so etwas wie Partys? Als ich wieder aufguckte, war er aufgestanden und sprach mit anderen Leuten. Ich stellte mich unauffällig daneben, um zu hören, ob er ihnen die gleiche Geschichte erzählte. Aber er sprach nur vom Wetter. Leider verlor ich ihn dann im Gedränge der Party aus den Augen. Dabei hätte ich ihn gerne noch so vieles gefragt. Doch eins weiß ich: Morgen gehe ich in die Buchhandlung und kaufe mir alle Bücher über Suggestion, die ich bekommen kann.
 

Ji Rina

Mitglied
Haha, und sag mir dann in fünf Jahren Bescheid!

Also der Erzähler (in der Geschichte) ist in seiner Naivität etwas “doof” - und der ältere Herr, ein Witzbold, der sich ins Fäustchen lacht. Der Erzähler ist jedoch so schnell im Kopf, dass ihm von allen Leonardos, gleich Da Vinci einfällt. Die letzte Zeile bestätigt noch einmal seine Doofheit, (falls man noch Zweifel hatte). Ansonsten: Eine originelle Idee für eine Geschichte.
 
G

Gelöschtes Mitglied 17359

Gast
Hallo Stefan!

Was für eine abgefahrene Idee: Der Tod und das Altern nur eine Suggestion! Da drängt sich die Frage auf: Wer war so gemein und hat uns diese Vorstellung suggeriert???
Die Geschichte hat mir sehr gefallen. Sie ist originell und regt zum Nachdenken an. Leider finde ich das Ende unbefriedigend. Ich hatte den Eindruck, da muss jetzt noch was kommen...
Ich mag deinen ruhigen sachlichen Schreibstil.

Gruß, Hyazinthe
 
Hallo Ji Rina,

wie heißt es doch? Seelig sind die geistig Armen. Vielleicht braucht man eine Art von Naivität, um sich über den gesunden Menschenverstand, über kollektive Überzeugungen, über langjährige Traditionen und wissenschaftliche Rituale und Zwänge hinwegzusetzen - und sich dem (fast) Unmöglichen zu öffnen. Besuch „mich“ doch einmal in der Unendlichkeit, dann diskutieren wir weiter …

Gruß Stefan
 
Hallo Hyazinthe !

Übrigens ein schöner Name. Danke für deine Zustimmung. Du willst wissen, wie es weitergegangen ist?! Leider habe „ich“ den Unsterblichen (?) nicht mehr getroffen. Aber „ich“ besitze inzwischen ein ganzes Regal mit Büchern über Suggestion, Autosuggestion, Hypnose und Selbsthypnose - neben CDs, Mindmachines u.v.m. Täglich versetze „ich“ mich mehrfach in Trance und versuche, die Todes-Suggestion zu schwächen und mir Langlebigkeit, ja Unsterblichkeit zu suggerieren, in meinem Unterbewusstsein zu verankern. Ob es funktioniert? Gut, Freunde sagen mir, ich sähe jünger aus. Aber eigentlich kann „ich“ noch nichts sagen, frag mich in 500 Jahren noch einmal!

Viele Grüße Stefan
 

Ji Rina

Mitglied
Lieber Stefan,

Von der Unendlichkeit bin ich vollkommen überzeugt. Sonst liesse sich das doch alles garnicht ertragen.
Mein Kommentar war humorvoll gemeint. Ich entschuldige mich, falls es daneben war.
Lieben Gruss,
Ji
 
Ich traf ihn auf einer Party. Er saß im Hintergrund und schaute leicht amüsiert auf das Geschehen. Es war seine besondere Ausstrahlung, die mich anzog. Aber zunächst beobachtete ich ihn nur. Eigentlich war ich gut darin, das Alter von jemandem zu schätzen. Doch hier tat ich mich schwer. Einerseits besaß er etwas Jugendliches, Frisches, aber auf der anderen Seite kam er mir irgendwie uralt vor. Seine Haare waren blond-graumeliert, aber das hatte natürlich nichts zu sagen.

Ich setzte mich an seinen Tisch: „Darf ich fragen, von wo Sie kommen?“
Er schaute mich an und meinte in ironischem Ton: „In meinem Fall wäre die Frage wohl, von wann ich komme. Aber lassen wir das.“
„Nein“, hakte ich nach, „das interessiert mich.”
„Ach, wissen Sie, ich rede manchmal einfach zu viel. Es ist nicht wichtig.“
„Doch bitte“, drängte ich, „das interessiert mich wirklich sehr. Also von wann kommen Sie?“
Er blickte mir tief in die Augen. „Nun gut, ich komme aus der Vergangenheit, genau genommen aus dem 15. Jahrhundert.“
Ich schaute ihn zweifelnd an. Machte er einen Joke? Aber er schien es durchaus ernst zu meinen. „Wollen Sie sagen, dass Sie 600 Jahre alt sind?“
„So ungefähr.“
Jetzt schien mir die Zeit für eine ironische Antwort gekommen zu sein. „Dafür haben Sie sich aber gut gehalten.“
„Ja, nicht wahr“, ging er auf meinen launigen Spruch ein, „und das liegt nur an gutem Schlaf und viel Wasser, bestimmt keine Schönheits-Ops, versprochen.“
Aber so schnell ließ ich ihn nicht entkommen. „Haben Sie den Jungbrunnen gefunden? Oder das Kraut des ewigen Lebens? Oder schlafen Sie jede Nacht mit einer Jungfrau? Verraten Sie mir ihr Geheimnis!“
Er schaute mich wieder mit seinen blauen Augen eindringlich an. „Sie gefallen mir, Sie erinnern mich an meinen jüngeren Bruder, daher erzähle ich Ihnen etwas, das eigentlich geheim bleiben sollte. Aber Sie werden es ohnehin nicht glauben.“

Er hielt nachdenklich einen Moment inne und fuhr dann fort: „Mein Weg zur Langlebigkeit, ja zur Unsterblichkeit ist viel leichter, aber auch viel schwieriger, als eine alchemistische Formel für die Überwindung des Todes zu finden. Ich war im 15. Jahrhundert Mitglied einer agnostischen Geheimgesellschaft, die von der kirchlichen Inquisition verfolgt wurde. Unser Führer war ein begnadeter, hochspiritueller Weiser. Er lehrte uns: Der Tod ist nur eine Suggestion. Seit Jahrhunderten wird uns – von der Gesellschaft, der Wissenschaft und der Religion – suggestiv eingeredet, dass der Mensch sterblich ist und daher jeder Mensch sterben muss. Und wir trichtern uns mittels Autosuggestion diesen Irrglauben noch tiefer ein. Die Todes-Suggestion ist so mächtig, dass sie unseren Körper, unsere Zellen, ja sogar unser Erbgut steuert, sie auf Tod programmiert, denn der Geist beherrscht die Materie.
Manche Lehren sagen zwar, dass man nach dem Tod in ein anderes Leben übergeht oder in unsere Welt wiedergeboren wird. Manche Menschen versuchen, mit obskuren Methoden ihr Leben zu verlängern. Aber keiner zweifelt daran, dass in diesem Leben der Tod unvermeidlich ist. Immer heißt es: Der Tod gehört zum Leben. Doch die Menschen sterben nur deshalb, weil sie vollkommen überzeugt sind, dass sie sterben müssen. Und sie altern auch nur deshalb, weil sie überzeugt sind, dass sie altern müssen.“

Wieder zögerte er und blickte mich prüfend an, er schien sich unsicher, ob man mir wirklich dieses unglaubliche Geheimnis verraten durfte, doch er fuhr fort: „Folglich gibt es auch einen Weg, Altern und Tod zu verhindern, wie mich mein spiritueller Lehrer unterrichtete. Du musst dich frei machen von der Todes-Suggestion, ja, auch von der Suggestion, dass du überhaupt alterst; du musst ganz tief in dir die Überzeugung verankern, dass du immer jung bleiben und niemals sterben wirst. Allerdings ist es extrem schwer, die Todes-Suggestion zu überwinden, wir Menschen sind wie hypnotisiert vom Tod, also muss man sich davon dehypnotisieren. Das erfordert große geistige und seelische Disziplin, man benötigt dafür sehr viel mentale Übung. Von den wenigen Menschen, die überhaupt von diesem Anti-Todes-Programm erfahren, schaffen nur einige, es auch erfolgreich durchzuführen. Und der Kampf ist nie gewonnen. Wenn ich heute plötzlich meine Unsterblichkeits-Überzeugung verlieren würde, dann müsste ich in Sekundenschnelle altern und sterben.“

Ich schaute ihn ungläubig an. War er ein Spinner? Ein Verrückter? Wollte er mir etwas verkaufen? „Wirklich, eine gute Geschichte für eine Party“, sagte ich schließlich.
„Nicht wahr“, meinte er lächelnd, „das sagte mein Freund Leonardo auch immer.“
„Leonardo da Vinci? Meinen Sie wirklich den?“
„Ich kenne nur diesen Leonardo.“

Ich überlegte: Gab es denn damals überhaupt schon so etwas wie Partys? Als ich wieder aufguckte, war er aufgestanden und sprach mit anderen Leuten. Ich stellte mich unauffällig daneben, um zu hören, ob er ihnen die gleiche Geschichte erzählte. Aber er sprach nur vom Wetter. Leider verlor ich ihn dann im Gedränge der Party aus den Augen. Dabei hätte ich ihn gerne noch so vieles gefragt. Doch eins weiß ich: Morgen gehe ich in die Buchhandlung und kaufe mir alle Bücher über Suggestion, die ich bekommen kann.
 

ThomasQu

Mitglied
Hallo Stefan,
eine absurde Geschichte, die mir gut gefällt und wie immer sehr schön geschrieben ist. Ein kleiner Widerspruch taucht im ersten Absatz auf, er altert nicht, trotzdem kommt er dir aber irgendwie uralt vor.
Wäre der “Ich-Erzähler“ geistesgegenwärtiger gewesen, hätte er den Unsterblichen fragen können, wie das die Tiere wohl mit dem sterben hinbekommen.
Da wäre ich auf seine Antwort gespannt gewesen.
Mit augenzwinkerndem Gruß
Thomas
 
Liebe Ji,

dein Kommentar war völlig in Ordnung. Ich wollte nur meinen Protagonisten etwas verteidigen, dass er nicht als allzu einfältig gesehen wird. Ich bin mir nicht sicher, wie mich verhalten würde, wenn mir so ein „Unsterblicher“ begegnen würde. Aber wahrscheinlich wäre ich zu skeptisch, um die „Unsterblichkeits-Suggestion“ zu üben. Was vielleicht ein Fehler ist …

Liebe Grüße
Stefan
 
Hallo Thomas,

Kennst du das nicht, dass jemand gleichzeitig jung und alt aussehen kann? Also, wenn ich morgens in den Spiegel gucke … dann sehe ich nach mancher Nacht 500 Jahre JUNG aus.

Der Einwand mit den Tieren ist berechtigt. Da müsste ich mal darüber nachdenken – oder besser den Unsterblichen fragen, falls ich ihm noch einmal begegne. Vielleicht gibt es auch bei den Tieren ein Art unbewusster Todes-Suggestion. Vielleicht hat die Todes-Suggestion sogar eine gesamt-biologische Dimension, so dass alle Lebewesen altern und untergehen, weil ihnen das „eingeredet“ wurde. Es kann ja ein rudimentäres, durch Suggestionen beeinflussbares Bewusstsein schon auf der Ebene der Zellen geben. Vielleicht hat Gott seiner Schöpfung mit dem Leben auch die Sterblichkeits-Suggestion eingehaucht, weil er gar nicht wollte, dass wir alle unendlich lange leben. Oder es ist ein Trick der Evolution, für die es wesentlich ist, dass Altes stirbt, damit Neues entstehen kann.

Ich weiß es doch auch nicht! Am besten würde man Gott selbst mal fragen, wenn man nur wüsste, wo er wohnt.

Viele Grüße
Stefan
 



 
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