Der Untergang des Hauses Seidler

Chinasky

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Der Untergang des Hauses Seidler
Da war dieses Flimmern. Nicht über die gesamte Fläche, nur unmerklich, an den Seiten ein bißchen. Trotzdem verschluckte sich Mama Seidler an ihrem Diätleberwurstbrötchen vor Schreck ganz kräftig, als bei der Tagesschau plötzlich die Bildränder sich anlösten wie ein Stück Zucker, das man vorsichtig und nicht zu weit in die Kaffeetasse tunkt.
- ?Huch!?, hustete sie, ?Was ist das? Kann man das nicht wegkriegen, Wolfram??
So direkt war die Frage für Papa nicht beantwortbar, er bewahrte aber zuerst einmal kühlen Kopf: ?Das ham wir gleich!?
Ganz souveränes Familienoberhaupt, drückte er sich gewichtig ächzend aus dem guten alten Ohrensessel und schlurfte gemächlich zum Apparat, um den Fehler zu beheben. Nach einigem Fummeln hatte er die nötige Kuhle für den Fingernagel gefunden, um die kleine Klappe zu öffenen. Und da waren sie, die Drehknöpfe. Sechzehn an der Zahl, für jeden Empfangskanal einer. Mit einem Zweipfennigstück oder langen Fingernagel konnte man die Kanäle fein justieren. Das schickte Papa Seidler sich auch an zu tun. Aber die Nachrichtensprecherin verwirbelte sich nur noch mehr zu einem kunterbunten Schneehaufen, rieselte nach links und rechts, war mal zwei- mal dreigetreilt, besaß bald einen lila Schatten, bald ein gelbgepunktetes Spiegelbild. Einmal sagte sie: ?Komm Baby, zier dich nicht so!? oder gab ein Eidechsenzischen von sich. Besser als mit den Zuckerrändern war die Tagesschau nicht reinzukriegen.
- ?Is nix zu machen.?, stellte Papa fest, ?Morgen geh ich mal hoch auf den Boden, um nach der Antenne zu sehen.? Ein klein wenig besorgt klang seine Stimme. Probehalber griff er sich die Fernbedienung und flippte durch alle Programme. Aber siehe, die anderen liefen einwandfrei. Nur Erstes und Drittes litten unter dem rätselhaften Verflüchtigungssyndrom.
- ?Vielleicht liegt?s ja auch an der Sendeanstalt. Weil bei denen der Funkturm nicht in Ordnung ist.?, schlug Boris, der ältere und verständige Sohn vor. Damit mochte er recht haben. Die ganze Familie Seidler atmete auf.
- ?Ja, und was ist mit meinem Thriller heute abend??, wollte Sonja wissen, ?Der mit Brad Pitt! So kann ich den doch unmöglich auf Video aufnehmen mit diesen Zuckerrändern, und dabei hatte ich es meiner Freundin Renate versprochen!?
- ?Ach wo, es laufen immer wieder Thriller im Fernsehen!?, tröstete Mama. Ein schwacher Trost.
Am folgenden Morgen allerdings bekam Mama Seidler selbst einen leichten Schock, als sie vom RTL-Frühstücksfernsehen auf das Erste umschaltete: Es war nahezu gänzlich verschwunden, anstelle der Spielfilmwiederholung tauchten nur bruchstückhafte Schemen auf und ein Stimmenchaos machte das rein akkustische Verfolgen der Handlung auch unmöglich. Böses ahnend drückte sie auf den Kopf für das zweite Programm. Und richtig: Auch hier begannen sich die Ränder aufzulösen, Richard Chamberlain flirtete in einem milchigen Strahlenkranz, der vielleicht dem Film angemessen, aber sicher vom Regisseur nicht beabsichtigt war. Ängstlich harrte Mama der Heimkehr Papas von der Arbeit. Hier waren Technikkentnisse, mithin ein Mann gefordert.
Papa hatte wiederum mich mitgebracht, nachdem wir uns während der Schicht ausführlich über die rätselhaften Macken seines Fernsehers ausgetauscht hatten. Von mir hatte er erfahren müssen, daß bei mir zuhause das Erste am vorigen Abend erstklassig funktioniert hatte.
Nun sollte ich unten am Apparat bleiben und aufpassen, wie das Bild sich vehalten werde, während Papa oben im Dachboden an der Antenne rummanipulierte. Wir verständigten uns rufend, durch das ganze Haus, fortissimo.
- ?Jetzt besser?!?
- ?Nein, es rauscht wie gehabt!?
- ?Und jetzt!?
- ?Was - und jetzt!? Kein Bild!?
- ?Wird?s so besser?!?
- ?Waas?!?
- ?Ob es so besser wird??
- ?Neihein!!?
- ?Und so?!?
- ?Auch nicht!!?
- ?Scheiße, verdammte!?

Papa kaute ratlos auf den Fingernägeln. Wir standen vor dem Fernseher, dem nun nach dem Ersten und Dritten wohl demnächst auf das Zweite amputiert werden würde. Wir flüsterten, wie in Gegenwart eines kranken Kindes.
- ?Ob es an dem Apparat liegt?? ? Papa sah mich flehentlich an.
- ?Schon möglich. Vielleicht aber auch an dem Haus, diesem Wolkenkratzer, den sie nebenan bauen.?
- ?Ja, das könnte schon sein, nicht??
- ?Hhm, möglich. Wie laufen die anderen Apparate denn??
- ?Ach ja, richtig, die anderen. Laß uns nachschauen!?
Wir gingen ins Kinderzimmer der vierjährigen Elke.
- ?Tut mir leid?, entschuldigte Papa sich, ?Wir müssen deine Teletubbies kurz unterbrechen.? Er ging zu Elkes rosafarbenen Fernseher und schaltete um auf das Erste. Elke bekam einen Schreikrampf. Das Erste rauschte gleichmäßig und unbekümmert vor sich hin.
- ?Das ist bedenklich!?, gab Papa zu bedenken. Ich stimmte zu und regte an, wieder auf die Teletubbies umzuschalten. Papa tat?s und Elke verstummte prompt.
Die gleichen Mängel auch beim Küchenfernseher, bei Boris und Sonja auf den Zimmern.
- ?Lieg wohl doch an der Antenne?, urteilte ich fachkundig und schlug vor, einen Fachmann vom Reparaturdienst zu bestellen. Der jedoch konnte auch nicht sagen, woran die Programmausfälle lagen. Meine Idee mit dem Hochhaus verwarf er. Nein, nein, das Gebäude liege viel zu weit entfernt und stehe übrigens als Rohbau schon seit zwei Monaten, da hätten sich die Bildstörungen doch schon viel früher einstellen müssen.
Er wechselte die Antenne aus, installierte probehalber eine Satelitenschüssel. Ohne merkbaren Erfolg. Sein abschließender Kommentar, Seidlers hätten sich eben verkabeln lassen sollen, offenbarte sein Scheitern.
- ?Kabelanschluß!?, brummte Papa Seidler auffallend lakonisch.
Er setzte Himmel und Hölle in Bewegung. Da die Nachbarn schon verkabelt waren, ging es schneller, als man hätte denken sollen. Innerhalb von fünf Tagen hatten Seidlers ihren Kabelanschluß. Jetzt bekamen sie 1 Plus, 3 Sat, Eurosport, Super RTL und zwei Dutzend anderer Kanäle rein, mit dem unbestreitbaren Vorteil, die Wettervorhersagen auf Französisch und Niederländisch zu empfangen. Klein Elke hätte rund um die Uhr drei Kinderserien gleichzeitig sehen können, Boris konzentrierte sich auf Catch-Übertragungen, um seine Englischkenntnisse zu erweitern.
Nur Erstes, Zweites und Drittes ? die rauschten und flimmerten wie gehabt. Eine düstere Wolke hing über Seidlers Fernsehabenden.
Papa erzählte mir auf Schicht, er habe sogar einen neuen Fernseher angeschafft, mit größerer Bildröhre, fähig, wesentlich mehr Bildpunkte auf wesentlich mehr Bildzeilen abzubilden. Fraglos eine technisch bedeutende Errungenschaft, aber auch eine beträchtliche finanzielle Belastung. Allein, auch diese habe nicht den gewünschten oder doch erhofften Effekt gehabt. Im Gegenteil! Das Rauschen weitete sich statt dessen aus, es metastasierte hinüber auf Sat1 und Pro Sieben, auch Kabel1 begann zu bröckeln. Wie Ameisen, sagte Papa, wie wenn Ameisen an den Rändern knabberten und sich immer weiter ins Zentrum vorarbeiteten, so scheine es ihm. Ja, wenn ihn nicht alles täusche, sei selbst RTL schon leicht in Mitleidenschaft gezogen. Wie Bakterienkulturen, sagte Papa, wie Schimmelpilz, wie Neurodermitis, wie angelöster Zucker...
Aus der Schule hörte man neuerdings Klagen. Alexander, der jüngere Sohn, habe einem Klassenkameraden zwei Schneidezähne augeschlagen, weil dieser begeistert von einer Miami-Vice-Folge erzählte. Zwar hatte es sich nur um ohnehin bereits wackelige Milchzähne gehandelt ? immerhin... Sonja brachte schlechtere Noten heim. Sie, die einstige Musterschülerin! Boris schwänzte, um in einer griechischen Imbißbude nahe der Schule fernzusehen. Giros, Pommes und Cola waren Stimulanzien für seine dankbaren Pickel. Kurz ? die Seidlerkinder entwickelten sich zu Klassenkaspern und Einzelgängern. Sie waren uninformiert und einfach nicht mehr auf dem Stand der Zeit. Ihre Wissensdefizite im Bereich des Marienhofes waren beispielsweise erschreckend, und wer nicht wußte, wie es um Verlobungen, Verliebungen, Heiraten, Trennungen und Schwangerschaftsabbrüche in GZSZ stand, der wurde von gleichaltrigen Kindern selbstredend ausgegrenzt. Die Seidlerkinder waren bemüht, den Schaden dadurch gering zu halten, daß sie bei Bekannten wenigstens die obligaten Freitagabendkrimis und die samstägliche Spielshow verfolgten. Aber die Einladungen wurden spärlicher...
Mama Seidler war jetzt oft zu beobachten, wie sie ratlos vor den Einkaufsregalen der Supermärkte verharrte. Seit sie nur noch selten störungsfreie Werbesendungen mitbekam, stand sie dem Warenangebot hilflos und unwissend gegenüber. Wie erniedrigend, sich von anderen Hausfrauen beraten lassen zu müssen: ?Nehmen sie das neue Super-doppelrosa-dreifachlagige Toilettenpapier mit ph-neutraler Gleitschicht und keimfreien Sterilistaionsemulsionen in den feinen, holzfreien Ultra-Poren von Arschiclean im praktischen, quadratischen Fünferpack mit Tragehenkel und wiederverwendbarer Hartplastikverpackung sowie ökologischer Selbstreinigung! Das soll ganz besonders gut sein und man bekommt Treuepunkte...?
Um nicht aufzufallen, mußte Mama dann lügen: ?Jaja, ich war nur am Überlegen, ob wir noch genug davon zuhause haben.?
Obgleich Arschiclean ihr ein böhmisches Dorf war. Wer kennt schon Arschiclean? Ihr etwa? Oh, es war erniedrigend!
Eine ernstliche Katastrophe kündigte sich an, als der Videorekorder seinen Dienst aufkündigte. Kurz danach wurde selbst Alexanders Computerbildschirm von der unheimlichen Zuckerrandkrankheit heimgesucht. Eine Diskette, von einem Freund entliehen, ward vom Computer ruiniert, eine unersetzliche Raubkopie! Zum Dank waren eines Morgens die Reifen seines Fahrrades aufgeschlitzt. Alexander begann, Rambo-Poster über seinem Bett aufzuhängen.
Mit der Seidlerfamilie ging es bergab. Als Papa Seidler zwei Tage unentschuldigt bei der Arbeit gefehlt hatte, wurde ich vorbeigeschickt, um mich nach seinem Befinden zu erkundigen. Denn ans Telefon ging bei Seidlers niemand mehr.
Ich trat durch die offenstehende Haustür und konnte die dramatisch zugespitzte Situation förmlich riechen. Schon gleich zu Anfang gellte mir aus Elkes Zimmer ein nadelspitzer Schrei, ein selten unterbrochener Dauerton wie schrilles Telefonklingeln entgegen: ?Teletubbiiiiiiiies!?
Im Wohnzimmer, das von Jalousien verdunkelt war, saß Papa Seidler, das speckige Hamd halb nur und verkehrt zugeknöpft, vor fünf nebeneinander traulich rauschenden Fernsehapparaten. Nur auf dem einen waren noch schemenhafte Schatten zu erahnen. Es handelte sich vielleicht um den Sportkanal, wobei allerdings schwer zu entscheiden war, ob nun ein Boxkampf oder eine Tanzveranstaltung übertragen wurde. Das graue Gestöber auf allen Kanälen hatte im ersten Programm einen neuen Höhepunkt erreicht. Dort blieb der Bildschirm völlig leer, als sei der Apparat überhaupt nicht eingeschaltet. Auf meinen Gruß hin murmelte Papa undeutlich etwas von Länderspielübertragung am kommenden Mittwoch und wies einladend auf den Fußboden, wo Unmengen an Bierdosen herumlagen. Ich zog es vor zu stehen. Papas Augen waren bläulichrot unterlaufen, ein fortgeschrittener Stoppelbart und fahrige Handbewegungen sprachen deutlich und unmißverständlich. Seit vier Tagen hatte Papa nicht mehr geschlafen.
- ?Was haben wir nur getan?!?, jammerte er mit gebrochener Stimme, seine Lippen klebten zwischen den einzelnen Silben aneinander. ?Es ist mir unerklärlich! Im Geschäft liefen sie tadellos!? Er deutete auf die Fernseher. ?Warum tut man uns das an??
Geschlagen und besiegt, ein gebrochener Mann, saß er in seinem Ohrensessel und schaute mir fragend in die Augen. In den Seinen konnte ich über die Ungerechtigkeit und Grausamkeit der Welt lesen.
- ?Und wenn ihr alle, du und deine Familie, wenn ihr mich besucht??, schlug ich aufmunternd vor, ?Meine Glotze läuft doch einwandfrei, da könnt ihr euch zumindest das Länderspiel ansehen!?
Papa winkte resigniert ab: ?Nein, nein, wir sind verflucht. Boris hat schon angerufen. Er war ja zu seiner Freundin gezogen, nun zeigen sich auf ihrem Bildschirm die ersten Symptome. Deswegen fängt sie an, andern Jungs schöne Augen zu machen. Unsere Freundschaft will ich nicht auf?s Spiel setzen.?
Ich wollte gerade zu einer längeren Trostrede ansetzen, da drang aus der Küche ein Krachen und Scheppern, gefolgt von einem langgezogenen Quietschen. Das Schlimmste befürchtend, eilte ich dorthin. Mama Seidler hatte den Küchenfernseher ausgeschlachtet und in das halbleere Gehäuse den Familendackel eingesperrt. Der zerschnitt sich an den scharfen Kanten und pieksenden Drähten Kopf, Bauch und Läufe und jaulte zum Steinerweichen. Mama saß gebannt vor diesm spannenden Programm. Als ich entrüstet ob solcher Tierquälerei das arme Viech befreien wollte, ging sie mit Steakbeil und Tomatenmesser auf mich los. Mir blieb nur der ungeordnete Rückzug.
In der Hoffnung, daß Sonja und Alex noch zurechnungsfähig seien, setzte ich die Treppe hoch zu den Kinderzimmern. Alex saß vor seinem Computerbildschirm, gespenstisch blau von dem rauschenden Rechteck beleuchtet, und hielt krampfhaft einen Joy-Stick umklammert. Er gab nur Pieps- und Tutlaute von sich, ab und an unterbrochen von einem martialischen Kampflaut, wie er in Egoshooter-Spielen vorkam. Ich ließ ihn tuten und versuchte es bei Sonja.
Die hatte sich eingeschlossen. Ob sie sich etwas angetan hatte? Sorgenvoll und in Panik brach ich die Tür zu ihrem Zimmer auf. Ich überraschte sie, wie sie gerade das achtzehnte Testbild mit Ölkreiden an die Wand malte. Das einst so hübsche Mädchen hatte gewiß zehn Kilo abgenommen, seine Haare waren zerzaust und klebten ungepflegt im Gesicht. Die Wangen waren eingefallen, das Kleid hing verdorben an ihr herab wie ein Lumpen. Dabei summte sie monoton vor sich hin: ?Hier sind der Westdeutsche Rundfunk und der Sender Freies Berlin mit dem ersten Progamm. Hier sind der Westdeutsche Rundfunk und der Sender Freies Berlin mit dem...?
Ich riß sie von ihrem Kunstwerk fort, gab ihr, um sie zu sich zu bringen, zwei kräftige Ohrfeigen und zwang sie, mich anzuschauen. Sie grinste apathisch und ihre Augen blickten weit offen durch mich hindurch.
?He, was ist los mit euch allen??, schrie ich und schüttelte sie verzweifelt. ?So schlimm kann doch die ganze Sache nicht sein. Es handelt sich doch nur um Fernsehen! Komm endlich zu dir!?
?Guten Abend, meine Damen und Herren! Wir begrüßen Sie zu unserem heutigen Abendprogramm, das wieder einmal eine unterhaltsame Mischung von Spannung und Information verspricht. Nach der Tagesschau können Sie bei uns - ...?
Ich hörte sie nur noch wie von fern reden. Hier waren alle Hilfsversuche zwecklos.

Ich ging heim und zerschlug meinen Fernseher. Vorsichtshalber warf ich auch mein Radio auf den Müll.
Als ich am nächsten Morgen beim Frühstück die Zeitung aufschlug, waren dort die Überschriften ganz verschmiert und ausgefranst.
 



 
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