Der Ursprung der Kraft

Veronika

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Der Ursprung der Kraft

„Du wirst sehen, wenn wir oben sind, werden wir dem Ursprung unserer Kraft viel näher sein!”
Mit diesen Worten stiefelte mein Vater voran, bedächtig, in jeden Schritt eine unermessliche Kraft hineinlegend, die den Berg vor uns in die Knie gehen lassen müsste. Aber der Felsen ragte in ohnmächtiger Höhe vor uns auf – wahrscheinlich hat er mich, die kleine Maus hinter dem groß gewachsenen Mann gesehen, den stöhnenden Jungen, der die Nase bis oben hin gestrichen voll hatte.
„Vermutlich sehe ich oben nur die vielen Blasen an den Füßen”, seufzte ich halblaut. Wir hatten gerade einmal die Hälfte der Strecke hinter uns, als mir die Schuhe nicht mehr passten. Meine Füße waren angeschwollen und die Waden fühlten sich an wie die Protektoren einer Motorradjacke.
„Jede Mühe wird einmal belohnt!”, erwiderte mein Vater auf mein schmerzverzerrtes Gesicht hin. „Hinter jeder Kraft steckt eine Weisheit.”
„Nach meiner Meinung steckt da meistens eine kräftige Faust hinter.” Ich stöhnte und dachte an die letzte Auseinandersetzung mit meinem Klassenkameraden Max. Ich hatte natürlich den Kürzeren gezogen, weil meine Eltern mir beigebracht hatten, Probleme nicht mit Gewalt zu lösen. Leider haben sie mir auch nicht erklärt, wie man sich dennoch erfolgreich wehren kann. Von Weisheit hatte ich jedenfalls nirgendwo etwas gesehen.
„Wenn der Berg dich ruft, dann musst du ihm folgen”, sinnierte mein Vater und sah zur Spitze hinauf. „Nimm jede Herausforderung an, die dir das Leben stellt. Du wächst mit ihr, und später kannst du die Erfahrung deinen eigenen Kindern mitteilen!”
Kinder wollte ich sowieso keine haben, und die Stimme, die mich heute aus einem schönen Traum gerissen hatte, war nicht der Berg, sondern die meines Vaters gewesen.
„Was tust du denn, wenn dir jemand eine in die Fresse gibt und behauptet, du hättest ihm die Freundin ausgespannt?”, fragte ich.
Vorwurfsvoll schaute mich mein Vater an. Das Wort ‚Fresse’ schien ihm nicht zu gefallen, auch wenn es die heutige Sprache der Jugend war. „Natürlich würde ich mit ihm reden! Unter Männern wird das auf eine Art geregelt, die nichts mit roher Gewalt zu tun hat.”
Vermutlich würde ich nie ein Mann werden.
„Du musst deine Energien nicht in eine Abwehrhaltung hineinstecken”, fuhr er fort, „sondern dein Gehirn anstrengen. Allein aus diesem Grund ist es wichtig, dass du lernst, diesen Berg als Herausforderung anzuerkennen. Wenn du ihn dir zum Feind machst und über ihn spottest, wird er es dir heimzahlen. Und genauso ist es mit deinem Feind, der dir gegenübersteht.”
Ich sagte nichts. Natürlich kam ich mir vor wie eine kleine, dumme Maus, die sich wehrte, weil man ihr den Käse vor der Nase wegschnappen wollte. So wie ich ihn verstanden habe, würde manche Situation erst gar nicht geschehen, wenn ich eins mit dem Berg und der Natur wurde.
Mein Vater betrachtete stirnrunzelnd eine kleine Steilwand, in der ein paar Haken steckten. „Wir nehmen den Weg um diese Wand”, beschloss er ohne mich zu fragen. Jetzt, wo ich gerade dabei war, die Herausforderung anzunehmen, flüchtete er sich in eine Ausrede: „Die Sonne scheint unablässig, der Felsen ist heiß und ich habe meinen Hut vergessen.”
„Aber sie würde mich schneller zur Urkraft bringen, die ich brauche, um Max zu besiegen”, gab ich dann doch zu bedenken.
Ein wenig irritiert schaute er mich nun doch an. „Es gibt viele Wege, die zum Erfolg führen. Vertrau auf deine innere Stimme, erkenne, welcher der bessere Weg ist!”
Meine innere Stimme sagte mir deutlich, dass sie mir genau die Kraft geben würde, um Max’ Faustschlag zu erwidern. Aber ich blieb stumm, folgte ihm den zweistündigen Umweg bis zu der Stelle, die wir erreicht hätten, wenn wir zwanzig Minuten Steilwand auf uns genommen hätten. Meine Zunge schleifte inzwischen auf dem Boden und mein Magen knurrte, als wenn ein wilder Bär hinter uns wäre. Das gehörte scheinbar auch zur Urkraft der Natur: Zu spüren, wie weit die Kräfte an uns zehren, damit ich nicht leichtsinnig über sie lästere.
Wahrscheinlich hätte ich noch stundenlang seinem Vortrag lauschen müssen, wenn sein Ischiasnerv nicht plötzlich eingeklemmt wäre. Mit gequältem Gesicht schleppte mein Vater sich den restlichen Weg hinauf und mir schien, als hätte er sich den Berg zum Feind gemacht. Seltsamerweise wurde ich mit jedem Schritt fröhlicher; ja ich spürte sogar die Energie, die in meine Glieder floss und mein Herz fröhlich zu schlagen begann.
Am Gipfelkreuz angekommen sank mein Vater völlig erschöpft zusammen, während ich die unendliche Weite der Natur in mich hineinsog. Es war tatsächlich die Urkraft, die mich hier oben erwartet hatte. Ich war froh, nun doch bis zuletzt durchgehalten zu haben. Allerdings durfte ich mich nicht umdrehen, denn da kam gerade ein Bus mit Touristen herangerollt, die ebenso fröhlich die wunderbare Landschaft genießen wollten.
Mein Vater verschaffte uns zwei Sitzplätze im Bus, der uns bis ins Dorf zurückbrachte. Zu Hause ließ ich mich in den Sessel fallen. Mein Blick fiel auf die Play-Station. Ich schnappte mir den Joystick und stöpselte den Stecker in die Steckdose. Dann musste ich grinsen. Zumindest eines hatte ich wahrhaftig erkannt: Der wahre Ursprung der Energie kommt aus der Steckdose, denn meine Play-Station hätte ich da oben auf der Spitze des Berges überhaupt nicht gebrauchen können!
 

Ralf Langer

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hallo veronika,
ein herzliches willkommen hier auf der ll.

die geschichte von vater und - ich denke Sohn -
ist flüssig erzählt.
ich kann dem weg auf den gipfel gut folgen.
nun gut, es ist als metapher schon ein wenig angestaubt,
aber es funktioniert.

was mich irritiert:
die sprechweise des vaters, ein bischen viel "konfutius sagt",
wenn du weißt was ich meine.
Mich stoßen die worte immer ein wenig aus der geschichte,
weil ich schwierigkeiten habe mir vorzustellen, das ein "europäer" wirklich so spricht.
Ist halt ein wenig "dicke".
ich würde vielleicht darüber nachdenken, ob es das ende mit der playstation braucht.
das bild mit den touristen bussen ist doch ein knackiger bruch
mit des vaters suche nach der inneren kraft.
denk mal drüber nach!

viel spass hier noch
man liest sich
ralf
 



 
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