Der Verlierer

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Jarolep

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Eine schäbige Gestalt betrat den wöchentlichen Markt im Hafen. An solchen Tagen füllte sich dieser Ort mit seltsamen Menschen. Heruntergekommene Kaufleute, Matrosen mit verzotteltem Haar und ausgeblichenen Augen, Marktfrauen, deren reich verzierte Kleider mit Fischblut und Öl befleckt waren, verwahrloste Kinder, alles traf sich hier. Die neuesten Gerüchte wurden ausgetauscht, man feilschte um die frisch eingetroffene Ware, es wurde gesoffen, gefeiert und geprügelt. Keiner interessierte sich für den Mann im breiten zerfetzten Mantel.
Dieser Mann hieß Jakob. Manche nannten ihn „Jakob der Penner“. Er besaß eine alte Barke, womit er und noch ein paar wortkarge und missmutige Kerle ab und zu die küstennahen Gewässer durchstreiften, auf der Suche nach arglosen Schiffen, die sich in diesem Reich der Gesetzlosen verirrt hatten. Seit ein paar Monaten sah man Jakob öfter in den Kneipen als im Hafen. Dort saß er, in Gedanken versunken, vor dem einzigen Bierkrug, den er für den ganzen Abend bestellte. Jakob war am Ende.
An diesem Tag schlenderte er scheinbar ohne bestimmtes Ziel durch die Marktreihen, erreichte anschließend den Pier und blickte sehnsüchtig auf das Meer. Auf den Kisten neben ihm schlief ein Matrose. Einen Moment lang beobachtete Jakob den Schlafenden, dann ging er zu ihm und stieß ihn von den Kisten. Fluchend wachte der Seemann auf.
„Such die Männer zusammen, wir legen morgen ab“, sagte Jakob.
Der Seemann stierte auf seinen zerlumpten Kapitän.
„Dieses Mal ist die Sache sicher“, Jakob versuchte zu lächeln.

Im Schiffsinneren stank es nach verfaultem Essen. Seit Tagen futterten sie den widerlichen Brei, und niemand mehr fragte, was genau der düstere Koch ihnen in die Teller schmiss.
Angeekelt warf Jakob, der die ganze Nacht auf der Seekarte Pfeile und Kreise gemalt hatte, die Feder auf den grob gehämmerten Tisch, trank die letzten Tropfen der trüben Flüssigkeit aus seinem Becher. Dann kletterte er die Leiter hinauf und stieg auf das Deck.
Der neue Tag fing mit dem heulenden Geschrei der Möwen und gemächlichen Krächzen der Mäste an. Die Sonne ging auf, die ersten schüchternen Strahlen berührten den Horizont, tauchten das bleierne Blau des Meeres und das seidene Blau des Himmels in Karminrot und ließen Wasser und Luft eins werden. Der warme salzige Wind erwachte aus seinem Schlaf.
Jakob ließ sich auf den Deck nieder. Er, der eiserne Kapitän der „Fatima“, saß erschöpft auf dem nackten Holz und starrte ins Leere. Sechs Wochen. Sechs Wochen ließ sich die „Fatima“ Sargassosee treiben. Ihre Vorräte gingen zuneige, die Mannschaft brütete in dumpfer Apathie.
Wo bleibt der Konvoi? Die Engländer werden über die Sargasso fahren. Jakob hatte das von seiner sichersten Quelle erfahren. Sie hatte wunderschöne weiche Brüste und tiefe blaue Augen, die nicht lügen konnten. Oder doch? Was, wenn der Konvoi südlicher an ihnen vorbei schlich? Nein, undenkbar. Im Süden geht der Spanier wie eine hungrige Hyäne auf und ab. Die haarsträubenden Geschichten über sein neues Schiff erreichten bereits die entferntesten Ecken der Bermudas. Wie ein dämonischer Schatten tauchte es aus dem Nichts auf, verschlang die ganzen Flotten und wehte davon. Einst segelte dieses Schiff unter der englischen Krone. In einer stürmischen Nacht, so erzählte man, gingen die Spanier an Bord und meuchelten die Mannschaft nieder.
Die Engländer müssen diesen Weg nehmen, die feigen Schweine. Ihre Arroganz lässt sie nicht einmal vermuten, dass hier, in dieser gottvergessenen stinkenden Wüste, ein Deutscher namens Jakob der Penner lauert. Die schwer beladenen Schiffe schleppen sich mühevoll durch die grüne Brühe, Jakob mit seiner Barke fliegt heran, kapert und verschwindet genauso schnell und lautlos, wie er gekommen war. So sah sein Plan aus. Das war ein genialer Plan, der nichts taugte. Seine Männer werden es ihm nicht vergessen. Er musste sich entscheiden. Heute.
Eine Möwe landete auf der Mast und legte ihr Federkleid zurecht. Der Steuermann lehnte sich geistesabwesend an die Steuer und gähnte. Stille und Leere ergriffen die Macht über dieser Welt.
Jakob sprang auf und donnerte in seine Kajüte. Sekunde später erschien er wieder auf dem Deck. Schweißperlen standen ihm im Gesicht, der Gestank unten wurde unerträglich. Mit der Karte in der Hand schritt er zum Steuermann. Der Matrose wich erschrocken zurück.
„So!“, Jakob peitschte mit der Karte auf das Steuerrad, ein Ruck ging durch das Schiff „Wir fahren nach Süden“.
Der Seemann blickte ihm grimmig in die Augen, schniefte, ging zur Steuer und legte die „Fatima“ auf neuen Kurs.

Zwei Tage später trafen sie auf den Konvoi. Jakob holte sein Fernrohr heraus. Alles stimmte: die Schiffe waren schwer beladen mit Gewürzen, Stoffen und Schmuck, mit Munition und frischem Wasser. „Fatima“ wurde entdeckt. Die Mannschaften, im Fernrohr nur winzig kleine Männlein, hasteten über die Schiffe, flogen von den Masten und hissten die Segel. Die Kanonen wurden herauf gefahren. Die Engländer bereiteten sich auf einen Kampf vor.
Verwirrt ließ Jakob sein Fernrohr sinken. Die Menschen da drüben hatten Angst, das hat er deutlich gesehen. Sie erstarrten auf ihren Decks und Mästen und deuteten auf Etwas, was vor ihnen lag. Dieses Etwas war aber nicht die „Fatima“, denn alle Blicke waren über die kleine schief liegende Barke gerichtet. Sein Leutnant zog ihn am Ärmel und zeigte stumm auf das Heck.
Jakob fuhr um. Eine riesige schwarze Fregatte näherte sich mit unglaublicher Geschwindigkeit. Der Spanier! Wie ein Raubvogel stürzte er sich auf seine Beute, gierig, blutrünstig und siegessicher. Das ungeheuerliche Schiff wuchs mit jeder Sekunde. Die auf seinem Bug geschnitzte Fratze eines Monsters bleckte die Zähne, in seinen Augen klaffte die Dunkelheit.
„Abdrehen!“ flüsterte Jakob. Er löste sich von dem hasserfüllten Blick des Monsters und schrie mit heiserer Stimme: „Abdrehen! Abdrehen! Zum Teufel, wir drehen ab“.
Es war zu spät. Der Spanier fegte die „Fatima“ wie ein Stück Treibholz zur Seite. Die Barke stöhnte gequält auf und zerbarst.
Der Ozean breitete seine weichen Arme aus und empfing Jakob mit sanftem Lächeln. Er versank in einer Welt, die fern von Farben und Geräuschen lag. Jakob kämpfte gegen dieses friedliche, alles umschließende Vakuum und strebte mit aller Kraft zu dem leuchtenden Fleck über seinem Kopf, zur Sonne, wo er atmen konnte. Er tauchte auf, zum ersten Mal in seinem Leben begriff er den herrlichen Geschmack von Luft, die seine schmerzenden Lungen füllte.
Ein spitzer Schatten legte sich über das Wasser. Jakob blickte hoch. Das Letzte, was er sah, war, wie vom englischen Schiff die Mast auf ihn fiel.
 
E

Enza ost

Gast
Hallo Jarolep!

Interessanter Name und interessante Geschichte...
Herzlich willkommen in der Lupe! Ich hoffe, Du findest hier Anregung und Inspiration...
Deine Geschichte gefällt mir, vielleicht endet sie etwas abrupt, ist aber gut zu lesen und versetzt einen sehr in die gewünschte Stimmung! Viel Erfolg weiterhin...

Lieber Gruß von Enza ost
 

knychen

Mitglied
genauigkeit

hallo jarolep,
das thema 'piraten' und 'seeschlachten' ist es wert, ein wenig breiter erzählt zu werden. und vor allem lohnt sich ab und an ein blick ins lexikon oder fremdwörterbuch. die möwe, die sich ihr federkleid zurecht zupft, müßte nämlich eigentlich dabei wie ein stein auf die morschen planken fallen, denn eine barke hat keinen mast. und da sie sogar in den tagträumereien ihres kapitäns 'heranfliegt', gehe ich davon aus, daß die fatima mehrere masten hat; ergibt sich auch zwingend aus der gefahrenen route.
auch den beinamen 'penner' finde ich ein bißchen daneben. ich glaube oder habe das gefühl, daß diese bezeichnung in der zeit deiner geschichte noch nicht gebräuchlich war. ist aber nur so ein bauchgefühl, fachbücher geben keine genaue auskunft.
glücklose piraten und untergehende schiffe gab es sicher schon viele, du müsstest also deinem protagonisten oder der story irgendwas verpassen, dass ihn oder sie unverwechselbar macht. wahrscheinlich wird es aber dann eine erzählung.
viel spass weiterhin und gruß aus berlin von knychen
 

Jarolep

Mitglied
Hallo Enza ost,

Vielen Dank für deine Antwort. Ermutigende Worte habe ich gebraucht. Sonst fragt man sich nämlich: "Was tu ich eigentlich hier mit meinem Blödsinn?". Es freut mich immer, wenn jemand die Geschichte mehr oder weniger gut gefunden hat.

Frohe Weihnachten!


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Hallo Knychen,

Ich danke Dir für Deinen Beitrag. Du hast völlig recht, wenn du schreibst, man sollte mehr und besser recherschieren. Allerdings war die Geschichte nicht als wissenschaftliche entdeckung gedacht, sondern ist meiner Fantasie nur so entsprungen.
Ich habe im "Brockhaus" nachgeschaut. Das Wort "Barke" habe ich vom "Bark" abgeleitet. Und unter "Bark" steht nun mal "ein Dreimastsegler".
Im Übrigen gebe ich zu, die Geschichte ist frei erfunden. Beim nächsten Mal schlage ich öfters in Lexica nach, versprochen.

Auch Dir wünsche ich frohe Weihnachten!

Grüße aus der Eifel!
 



 
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