Der Verschlag

Kyra

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Der Verschlag

Sie saß neben ihrer Matratze auf den Steinfliesen und legte mit den durchweichten Resten ihrer Cornflakes eine seltsame Form auf den Boden. Was sie dort sorgfältig auslegte ähnelte entfernt einem Tier, hatte allerdings nur drei Beine und einen winzigen Kopf. Immer wieder schob sie einzelne Teile etwas zu Recht, bis sie mit dem Ergebnis zufrieden war. Ihr Oberkörper pendelte zufrieden zu einer unhörbaren Melodie, während sie mit schief gelegtem Kopf ihr Werk betrachtete. Dann wischte sie mit beiden Händen die nassen Flocken zu einem Häuflein zusammen, steckte das ausgelöschte Bild in den Mund und kroch auf ihre Bettstadt zurück. Hier umschlang sie die dreckige Wolldecke mit Armen und Beinen, legte den Kopf auf den rauen Stoff und begann leise einen hohen Ton zu singen - es war keine Melodie, nur dieser eine klagende Ton, den sie lediglich unterbrach, um keuchend neue Luft einzusaugen.
In die dämmrige Kammer fiel das Tageslicht durch eine einzelne Reihe Glasbausteine in zwei Wänden, diese lagen so hoch, dass sie nicht hindurch sehen konnte.
Später, als das Mittagslicht in der Kammer bis auf den Boden fiel, erhob sie sich wieder von ihrem Bett und ging, die Wolldecke hinter sich herschleifend, in die Ecke in der außer einem Blecheimer mit Deckel noch ein Haufen alter Wäsche, Flicken, Bretter, ein Christbaumständer und eine abgeschabte Nussknackerfigur lagen. Dort breitete sie unbeholfen die Decke aus, setzte sich breitbeinig hin und zog den Nussknacker zu sich. Vorsichtig öffnete sie den riesigen Mund der Figur und steckte ihren abgemagerten Zeigefinger hinein. Langsam schloss sie den Mechanismus, ließ den Finger bis zum letzten Augenblick darin, um ihn dann mit einem höhnischen Lachen wieder herauszureißen. Schließlich packte sie die Holzfigur an den Beinen und hieb deren Kopf heftig auf den kalten Boden. Dieses Spiel wiederholte sie einige Male, bis ihr vor Kälte die Zähne aufeinander schlugen und sie sich mit der Decke wieder auf ihr Lager zurückzog. Eingehüllt hockte sie sich hin und starre mit weit zurückgelegtem Kopf nach oben auf den Lichtstreifen. Sie wiegte sich sachte, ihren nassen Mund geöffnet, die Zunge rammte in monotonem Rhythmus gegen die beiden letzten, bereits lockeren Schneidezähne. Von draußen drangen Geräusche, Lachen und vereinzelte Worte in ihren Kerker, sie achtete nicht auf die vertrauten Laute die keinen Sinn für sie hatten. So blieb sie lange Zeit sitzen, bis nahes Kindergeschrei ihre Aufmerksamkeit erregte.

„… das geeehöhhrt miiiir….daaas geheeehöört miiiiiiir….“

Sie versuchte die Laute zu formen…

„… das geeehööhhrrrt miiiirrr….daaasss geheeehöörrrt miirrrr….

Ihre Stimme war etwas heiser, unmelodisch - kippte manchmal wie bei einer Taubstummen. Sie wiederholte die Worte immer wieder, bis die Töne aufhörten kehlig zu klingen, geschmeidig wurden,

„… das geeehöhhrt miiiir….daaas geheeehöört miiiiiiir….“

Ein weites Lachen brach aus ihrem mageren Körper. Plötzlich sah sie zur Decke empor, verstummte, beugte ihren Kopf nach vorne und schlug sich mit den Fäusten auf den Schädel, zerrte an ihrem dünnen gelblichen Haar und biss sich schließlich grausam in die Unterarme, bis der Schmerz ihr schließlich einen Laut entlockte, der keine Worte mehr kannte. Erschöpft ließ sie sich nach hinten sinken und fiel in einen leichten Schlaf.
Jetzt, wo ihre Gesichtszüge entspannt waren, erkannte man das Antlitz eines Mädchens - Ruhe ließ die Zartheit wieder in ihre Züge fließen. Auf dem Körper einer Fünfjährigen trug sie den Kopf eines doppelt so alten Kindes. Ihr Schädel war an einigen Stellen kahl und grindig, an anderen stand ihr filziges Haar vom Kopf ab, darunter ein völlig verschmutztes, blasses Gesicht. Der kleine Körper schien sich in seiner Entwicklung vom Kopf getrennt zu haben, dem er alleine das Wachstum überlassen hatte. Ausgezehrt, grade noch stark genug sich aufrecht zu halten, lag sie nackt auf der schmutzstarren Matratze.
Als sie erwachte, wollte das stumpfe Licht im Raum keine Farben mehr preisgeben und sie vernahm Schritte vor der Tür, eine bekannte Stimme schrie wütend etwas, dann wurde der Schlüssel im Schloss umgedreht und eine wuchtige Frau betrat den Raum. Einen Augenblick blieb sie in der Dämmerung stehen, tastete nach dem Lichtschalter über dem Türrahmen – plötzlich wurde der Raum von einer Deckenlampe erhellt, so gleißend, dass das Kind auf der Matratze sich mit einem Kauzenschrei unter der Wolldecke verkroch. Durch den fadenscheinigen Stoff beobachtete sie ängstlich die Frau, als diese mit angewidertem Gesicht den Eimer aus der Ecke nahm, hinausging und wenig später mit dem nassen Gefäß zurückkehrte. Scheppernd stellte sie den Blecheimer ab, beugte sich über das verschmutzte Lager und befühlte die Matratze, als sie eine feuchte Stelle fand, schlug sie wortlos auf das zugedeckte Mädchen ein. Wimmernd versuchte das Kind mitsamt der Wolldecke auf allen Vieren vor der niederfahrenden Hand zurückzuweichen, ein kopfloses Tier auf der Flucht. In der entferntesten Ecke blieb sie zitternd kauern, sah mit qualvollem Entsetzten die Frau an, die einen Augenblick Anstalten machte, sie zu verfolgen, dann aber von ihr abließ, um sich ärgerlich ihr wirres Haar wieder aufzustecken. In diesem Augeblick sah ein neugieriges Kindergesicht in die Zelle, ein hübscher Junge von ungefähr fünf Jahren sonnenblond und fröhlich. Wütend sprang die Frau zur Tür und schlug diese so heftig zu, dass loser Mörtel am Rahmen herunterrieselte, während sie schrie,
„Tausendmal habe ich euch gesagt, dass ihr hier nichts zu suchen habt… sie ist krank, wie oft soll ich das noch sagen…wollt ihr auch krank werden, oder was?“
Das Kind verstand die Worte nicht, zu lange war es her, dass jemand mit ihr gesprochen hatte. Ihre Erinnerung an früher verblasste immer mehr, sie wusste zwar noch, dass sie die Frau einst Mama nennen durfte, aber dies war ihr schon seit langem verboten, zudem hatte sie vergessen was dieses Wort bedeutete.
Schweigend stellte die Frau eine Schüssel mit Nahrung vor sie hin, kleine braune Kugeln und einen Plastikkrug mit Wasser. Dann löschte sie das Licht und verließ den Raum.
Draußen schüttelte die Frau angewidert den Kopf, wollte das Elend schnell aus ihren Gedanken scheuchen. Durch einen schmalen Hof kam sie von dem kleinen Anbau in die Küche, dort wartete nicht nur der blonde Junge an einem gedeckten Tisch auf sie, sondern noch drei ältere Buben und ein kleines Mädchen auf einem Kinderstühlchen. Ein schmaler Mann stand am Herd und rührte in einer riesigen Pfanne mit Speck und Kartoffeln, zu seinen Füßen fraß ein alter Jagdhund das gleiche Futter aus einem Napf, welches sie eben dem Kind gebracht hatte. Seufzend setzte sich die Frau an den Tisch und ließ sich mit einem Nicken den Teller auffüllen. Nachdem der Mann allen etwas aufgetan hatte, setzte er sich still neben sie. Er war wohl etwas jünger als sie, aber Gram schien seine Jugend vorzeitig aufgezehrt zu haben. Die Kinder beachteten das elterliche Schweigen nicht, zankten sich, schrieen und balgten sich. Allein an der dumpfen Stille der beiden Erwachsenen zerschellte schließlich auch ihr Übermut und sie aßen beinahe leise zu Ende.
Als alle schon schliefen, starrte die Frau mit ebenso leeren Augen zu der Decke wie das Mädchen in seinem Verschlag. Sie hatte Angst, Angst vor der Entdeckung, die einmal kommen würde, da war sie sich sicher. Fünf Jahren hielt sie das Kind schon dort unten eingesperrt, seit sie mit jenem Mann zusammen war, der jetzt leise neben ihr atmete. Dieses Mädchen war immer schon etwas schwierig, empfindsamer als die drei Jungen, aber als sie wieder schwanger wurde, war es einfach nicht mehr auszuhalten gewesen. Ihr ging es damals auch nicht gut in der Schwangerschaft, ihr neuer Mann kam nicht mit den Kindern zu Recht, vor allem nicht mit ihr. So sperrte sie die Kleine einmal für einen Tag in die Kammer – so einfach war das gewesen. Sofort war zu merken, wie viel unbeschwerter sich alle fühlten, vor allem sie und dieser liebe Mann der sie genommen hatte, trotz ihrer vier Kinder. Ohne dass sie jemals darüber sprachen, blieb das Kind immer länger eingesperrt, bis sie nach einigen Monaten ihren Kerker nicht mehr verlassen durfte. Zu Beginn hatte die Frau immer wieder daran gedacht, dass man sie wieder einmal herauslassen müsse, aber diese Gedanken verschwanden mit der Zeit. Heute verdarb ihr das Mädchen von ihrem Gefängnis aus das Leben, immer stärker wurde ihre Angst vor Entdeckung, der folgende Schande, die sie alle in einen Abgrund reißen würde. Als könnte dieses entsetzliche Kind sich noch aus der Tiefe an ihnen rächen. Dabei hatte sie die Kleine früher geliebt, mehr geliebt als die Söhne, was konnte sie dafür, dass sie plötzlich so schwierig wurde…
Zwei Monate später geschah im frühen Morgenlicht genau das, wovor sich die Frau so gefürchtet hatte. Sie wurde mit ihrem Mann und den Kindern von der Polizei unter den Augen aller Nachbarn weggebracht. Aber zuvor hatten sie den Verschlag geöffnet und das verängstigte Mädchen auf einer Trage hinausgebracht. Kraftlos weinend lag sie darauf, ihr schmerzen die Augen von dem grellen Licht der aufgehenden Sonne als sie zum Krankenwagen getragen wurde, sie hielt die abgemagerten Arme schützend vor das Gesicht.
Der Ruf einer Kinderstimme ließ sie aufhorchen - ein Wort dessen vertrauten Klang sie längst vergesse hatte
„Sarah… Sarah….“
Sie öffnete die Augen und lächelte verzerrt – plötzlich wusste sie wieder, dass sie, sie selber, Sarah war.
 

slyfly

Mitglied
Hallo Kyra,

faszinierende Geschichte, die mich sowohl inhaltlich, als auch sprachlich gefesselt hat. Nur von dem Ende war ich etwas enttäuscht. Um genau zu sein, ab der Stelle:
"Dabei hatte sie die Kleine früher geliebt, mehr geliebt als die Söhne, was konnte sie dafür, dass sie plötzlich so schwierig wurde… "
Ab da wirkt der letzte Absatz auf mich ein wenig so, als ob Du die Geschichte auf "Zwang" abschliessen wolltest...

Liebe Grüße

slyfly

P.S. Gerade fiel mir noch etwas auf:
" Ausgezehrt, grade noch stark genug sich aufrecht zu halten, lag sie nackt auf der schmutzstarren Matratze."
Ähm, aufrecht haltend und liegend? ;-)
 

Kyra

Mitglied
Du hast Recht

Hallo slyfly

Du schreibst:
Nur von dem Ende war ich etwas enttäuscht. Um genau zu sein, ab der Stelle...
Du hast völlig Recht, ich habe mich im ersten Teil wohl verausgabt :(
Aber ich werde nachbessern
Danke für Deine Meinung

Kyra
 
Du musst

Ein Buch machen! Sammele deine Geschichten auf in einem Buch, ich bitt dich, vielleicht nur für dich selbst vorerst, aber SAMMELE! Einfach zusammen stellen umd drucken lassen.festhalten. organisieren. delegieren. manövrieren. +++ Ich mag sie, deine Geschichten, ich kauf sie auch. Katrin
 
K

Kadra

Gast
Hallo Kyra!

Dies ist nun die zweite Geschichte von dir, die ich mit viel Faszination gelesen habe. Sehr stimmungsvoll und fesselnd erzählt. Übrigens die zweite mit einem ungeliebten, ungewollten, abgeschobenem Kind.

Stilistisch habe ich allerdings eine Kleinigkeit zu bemängeln:

Das Kind verstand die Worte nicht, zu lange war es her, dass jemand mit ihr gesprochen hatte. Ihre Erinnerung an früher verblasste immer mehr, sie wusste zwar noch, dass sie die Frau einst Mama nennen durfte, aber dies war ihr schon seit langem verboten, zudem hatte sie vergessen was dieses Wort bedeutete.
Schweigend stellte die Frau eine Schüssel mit Nahrung vor sie hin, kleine braune Kugeln und einen Plastikkrug mit Wasser. Dann löschte sie das Licht und verließ den Raum.
Draußen schüttelte die Frau angewidert den Kopf, wollte das Elend schnell aus ihren Gedanken scheuchen.


Bis zum vorletzten Satz passt die Perspektive noch, dann jedoch wechselt sie zur Mutter, das ist in meinen Augen so nicht möglich. Es ist immer eine Schwierigkeit beim Erzählen, aus wessen Sicht erzählt wird. Vielleicht kannst du hier einen klareren Schnitt einbauen.

Ansonsten sehr gelungen.

Lieben Gruss von

Kadra
 



 
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