Der Vogel und der Tod
Resigniert klappt sie den Laptop zu. Ihre Nachrichten sind als gesehen markiert – und trotzdem antwortet er nicht.
Bestimmt zum zehnten Mal an diesem Tag der Griff zum Smartphone. Im Chat der Hinweis, wann er zuletzt online war: vor nicht einmal zehn Minuten! Ein schneller Wechsel in den Chat ihrer besten Freundin – auch diese war um die selbe Zeit on, ohne auf ihre Nachrichten zu reagieren.
Tanja ist nicht blöd, Eifersucht erfüllt ihr Herz. Wütend und frustriert schleudert sie das Telefon an die Wand. Erschrocken flattert ein gelber Kanarienvogel in seinem runden Käfig umher, ohne die geringste Chance auf eine Fluchtmöglichkeit. Zwanzig Zentimeter weiter links, und Tanja hätte wohl den Käfig von dem weißen runden Stehtisch hinunter geschleudert.
Schnell eilt sie reumütig zu dem unschuldigen Vogel. „Es tut mir leid, Pietie, das wollte ich nicht“, schluchzt sie in Tränen, „du bist schließlich mein einziger Freud!“ Am liebsten würde sie ihn in den Arm nehmen und trösten, wie sie es sich immer als Kind von ihrer Mutter erhofft hatte. Aber Vögel sind für solche Gefühlsbezeugungen nicht geeignet, genauso wenig, wie es ihre Mutter war.
Trotzdem öffnet Tanja den Käfig, um ganz sachte das kleine zerbrechliche Wesen herauszuholen. Wild und unregelmäßig spürt sie Pieties Herz schlagen. Sanft drückt sie ihre Lippen auf die flauschigen Kopffedern und haucht ihm zarte Küsschen drauf, doch dadurch wird der Herzschlag nur noch rasender.
Tanja schließt ihre Augen und sieht ein kleines Mädchen, das neben einer Frau im Sessel auf dem Boden kniet. Mit größter Vorsicht entnimmt das Kind der scheinbar schlafenden Frau eine glimmende Zigarette aus der rechten Hand und legt sie geschickt ausbalanciert auf den Zigaretten-Stummel-Berg im großen gläsernen Aschenbecher. Dann schmiegt sie sich an die Hand, reibt sie an ihrer Wange und bedeckt sie anschließend mit kleinen Küsschen. „Alles Gute zum Geburtstag, Mama“, flüstert das Mädchen zaghaft, worauf sich die große Hand mit einem Schubser befreit, um sogleich nach dem Glas mit der goldgelben Flüssigkeit zu greifen.
Dicke Tränen finden ihren Weg durch die geschlossenen Lider, und Tanja öffnet die Augen. Sie betrachtet das gelbe Federknäuel in ihrer Hand und weiß, was zu tun ist. Beinahe feierlich schreitet sie zum Fenster, öffnet es und hält die Hand mit dem Vogel nach draußen. „Flieg Pietie! Ich schenke dir heute die Freiheit!“ Lachend entlässt sie ihn aus ihrer Hand und beobachtet seinen hektischen Jungfernflug.
Er steuert den Baum gegenüber an und lässt sich erschöpft auf einem Ast nieder. Nach jahrelanger Gefangenschaft hat dieser Flug schon enorm an seinen Kräften gezehrt. Die Sonne sendet ihre letzten Strahlen für diesen Tag, und Tanja saugt diese idyllische Szenerie förmlich in sich auf. Glücklich betrachtet sie ihren Pietie, dessen gelbes Gefieder durch das Abendrot verfärbt wird. Doch plötzlich wird Tanja unheimlich zumute. Wie ein Pfeil aus Eis bohrt sich eine böse Vorahnung in ihr Herz. Und da geschieht es auch schon: Eine große getigerte Katze hat sich angeschlichen und ist bereits im Sprung. Pietie hat keine Chance – nur kurz währte sein neues Leben in Freiheit.
Die Katze liegt selbstzufrieden auf dem Ast und leckt sich die Pfoten sauber...
Ein anderer Sonnenuntergang vor vielen Jahren: Ihr Vater sagt es sei ein Familienausflug. Er sitzt am Steuer und zwinkert ihr durch den Rückspiegel zu. Auf dem Beifahrersitz die Mutter, still, abwesend. Dieser Ausflug solle die Familie für immer vereinen, meint ihr Vater, während er das Tempo stetig steigert. Das Mädchen fühlt sich geborgen, der Vater ist Lkw-Fahrer und in ganz Europa unterwegs. Sein lächelndes Gesicht, das Abendrot, der Baum... Erst alles blutrot, dann schwarz.
Der Ausflug vereint die Familie nicht – er macht ein kleines Mädchen zur Waise.
Sie hat Pietie getötet! Starr vor Entsetzen fixiert sie immer noch die Stelle, auf der der kleine Kanarienvogel zuletzt saß. Die Katze ist längst verschwunden, wahrscheinlich auf dem Weg zu Frauchen, die gerade eine feine Dose Katzenfutter mit Truthahn-Geschmack öffnet.
Sie hat alles falsch gemacht. Sie hat Pietie eine ungewollte Freiheit aufgezwungen. Sie hat von ihrem Vater eine „normale“ Familie gefordert. Sie hat schon vor Wochen ihren Freund immer wieder mit ihrem heutigen Geburtstag bedrängt.
Sie hat schon immer alles fasch gemacht. Sie war ein verkorkstes Kind und ist nun unfähig für zwischenmenschliche Beziehungen – die Heimleiterin hatte dies schon vorhergesagt.
Das Fenster ist vom Wasserdampf beschlagen. Sie liegt in der Badewanne, die Augen weit geöffnet, den Blick ins Jenseits gerichtet. Ihre schwarzen Haare, deren Spitzen auf dem Wasser treiben, lassen ihr Gesicht gespenstisch bleich erscheinen. Der rechte Arm hängt aus der Wanne heraus, und die Hand deutet anklagend auf die Pfütze in rot.
Es Klingelt an der Tür – mehrmals. Freudige Stimmen rufen: „Überraschung!“ und „Happy Birthday!“, doch aus der Wohnung dingt kein Laut nach draußen. Hin und wieder fällt noch ein einzelner Tropfen Lebenssaft und imitiert das Geräusch eines undichten Wasserhahns.
Resigniert klappt sie den Laptop zu. Ihre Nachrichten sind als gesehen markiert – und trotzdem antwortet er nicht.
Bestimmt zum zehnten Mal an diesem Tag der Griff zum Smartphone. Im Chat der Hinweis, wann er zuletzt online war: vor nicht einmal zehn Minuten! Ein schneller Wechsel in den Chat ihrer besten Freundin – auch diese war um die selbe Zeit on, ohne auf ihre Nachrichten zu reagieren.
Tanja ist nicht blöd, Eifersucht erfüllt ihr Herz. Wütend und frustriert schleudert sie das Telefon an die Wand. Erschrocken flattert ein gelber Kanarienvogel in seinem runden Käfig umher, ohne die geringste Chance auf eine Fluchtmöglichkeit. Zwanzig Zentimeter weiter links, und Tanja hätte wohl den Käfig von dem weißen runden Stehtisch hinunter geschleudert.
Schnell eilt sie reumütig zu dem unschuldigen Vogel. „Es tut mir leid, Pietie, das wollte ich nicht“, schluchzt sie in Tränen, „du bist schließlich mein einziger Freud!“ Am liebsten würde sie ihn in den Arm nehmen und trösten, wie sie es sich immer als Kind von ihrer Mutter erhofft hatte. Aber Vögel sind für solche Gefühlsbezeugungen nicht geeignet, genauso wenig, wie es ihre Mutter war.
Trotzdem öffnet Tanja den Käfig, um ganz sachte das kleine zerbrechliche Wesen herauszuholen. Wild und unregelmäßig spürt sie Pieties Herz schlagen. Sanft drückt sie ihre Lippen auf die flauschigen Kopffedern und haucht ihm zarte Küsschen drauf, doch dadurch wird der Herzschlag nur noch rasender.
Tanja schließt ihre Augen und sieht ein kleines Mädchen, das neben einer Frau im Sessel auf dem Boden kniet. Mit größter Vorsicht entnimmt das Kind der scheinbar schlafenden Frau eine glimmende Zigarette aus der rechten Hand und legt sie geschickt ausbalanciert auf den Zigaretten-Stummel-Berg im großen gläsernen Aschenbecher. Dann schmiegt sie sich an die Hand, reibt sie an ihrer Wange und bedeckt sie anschließend mit kleinen Küsschen. „Alles Gute zum Geburtstag, Mama“, flüstert das Mädchen zaghaft, worauf sich die große Hand mit einem Schubser befreit, um sogleich nach dem Glas mit der goldgelben Flüssigkeit zu greifen.
Dicke Tränen finden ihren Weg durch die geschlossenen Lider, und Tanja öffnet die Augen. Sie betrachtet das gelbe Federknäuel in ihrer Hand und weiß, was zu tun ist. Beinahe feierlich schreitet sie zum Fenster, öffnet es und hält die Hand mit dem Vogel nach draußen. „Flieg Pietie! Ich schenke dir heute die Freiheit!“ Lachend entlässt sie ihn aus ihrer Hand und beobachtet seinen hektischen Jungfernflug.
Er steuert den Baum gegenüber an und lässt sich erschöpft auf einem Ast nieder. Nach jahrelanger Gefangenschaft hat dieser Flug schon enorm an seinen Kräften gezehrt. Die Sonne sendet ihre letzten Strahlen für diesen Tag, und Tanja saugt diese idyllische Szenerie förmlich in sich auf. Glücklich betrachtet sie ihren Pietie, dessen gelbes Gefieder durch das Abendrot verfärbt wird. Doch plötzlich wird Tanja unheimlich zumute. Wie ein Pfeil aus Eis bohrt sich eine böse Vorahnung in ihr Herz. Und da geschieht es auch schon: Eine große getigerte Katze hat sich angeschlichen und ist bereits im Sprung. Pietie hat keine Chance – nur kurz währte sein neues Leben in Freiheit.
Die Katze liegt selbstzufrieden auf dem Ast und leckt sich die Pfoten sauber...
Ein anderer Sonnenuntergang vor vielen Jahren: Ihr Vater sagt es sei ein Familienausflug. Er sitzt am Steuer und zwinkert ihr durch den Rückspiegel zu. Auf dem Beifahrersitz die Mutter, still, abwesend. Dieser Ausflug solle die Familie für immer vereinen, meint ihr Vater, während er das Tempo stetig steigert. Das Mädchen fühlt sich geborgen, der Vater ist Lkw-Fahrer und in ganz Europa unterwegs. Sein lächelndes Gesicht, das Abendrot, der Baum... Erst alles blutrot, dann schwarz.
Der Ausflug vereint die Familie nicht – er macht ein kleines Mädchen zur Waise.
Sie hat Pietie getötet! Starr vor Entsetzen fixiert sie immer noch die Stelle, auf der der kleine Kanarienvogel zuletzt saß. Die Katze ist längst verschwunden, wahrscheinlich auf dem Weg zu Frauchen, die gerade eine feine Dose Katzenfutter mit Truthahn-Geschmack öffnet.
Sie hat alles falsch gemacht. Sie hat Pietie eine ungewollte Freiheit aufgezwungen. Sie hat von ihrem Vater eine „normale“ Familie gefordert. Sie hat schon vor Wochen ihren Freund immer wieder mit ihrem heutigen Geburtstag bedrängt.
Sie hat schon immer alles fasch gemacht. Sie war ein verkorkstes Kind und ist nun unfähig für zwischenmenschliche Beziehungen – die Heimleiterin hatte dies schon vorhergesagt.
Das Fenster ist vom Wasserdampf beschlagen. Sie liegt in der Badewanne, die Augen weit geöffnet, den Blick ins Jenseits gerichtet. Ihre schwarzen Haare, deren Spitzen auf dem Wasser treiben, lassen ihr Gesicht gespenstisch bleich erscheinen. Der rechte Arm hängt aus der Wanne heraus, und die Hand deutet anklagend auf die Pfütze in rot.
Es Klingelt an der Tür – mehrmals. Freudige Stimmen rufen: „Überraschung!“ und „Happy Birthday!“, doch aus der Wohnung dingt kein Laut nach draußen. Hin und wieder fällt noch ein einzelner Tropfen Lebenssaft und imitiert das Geräusch eines undichten Wasserhahns.