Der Vorleser seiner selbst

Am Vortag hatte er mit Stefan telefonisch abgemacht, dass er einen Text mitbringen würde. Manfred versetzte sich schon in der U-Bahn in die Rolle eines Vorlesers eigener Werke. Was versprach er sich davon - eine authentischere Reaktion des Zuhörers, als er sie von einem Leser erhalten würde. Man konnte außerdem den Text durch die Vortragsweise, die Betonung noch unterstützen. Vielleicht hätte er es zu Hause bereits üben sollen? Diese Vorstellung war nicht frei von Komik. Was lag schließlich daran, ob seine Impressionen dem Freund zusagten oder nicht?

Er musste am Hauptbahnhof in den Bus umsteigen. Während er die langen Rolltreppen hinauffuhr, erinnerte er sich auf einmal: Auch ihm war vorgelesen worden, und zwar von der Großmutter. Es war um die Zeit seiner Einschulung. Um ihn zum Lesenlernen zu bringen, las sie ihm Emil und die Detektive von Kästner vor. Ja, er sah es bald ein: Lesen war eine Kunst, die ihn lockte. Geschichten wie diese spielten sich bei ihnen in Neustadt nicht ab. Glücklich, wer nach Berlin fahren durfte, glücklich schon, wer davon lesen konnte. Von Berlin lesen oder nach Berlin fahren, das war so für ihn von Anfang an beinahe dasselbe.

Später erzählte die Großmutter (wehmütig lächelnd, wie es Großmütterart ist), er, der Enkel, habe ihr damals versprochen: Schau, wenn du selbst einmal ganz alt bist und nicht mehr lesen kannst, dann lese ich dir vor … Er war sich nicht sicher, ob er das wirklich gesagt hatte. Nehmen Kinder den späteren Verfall der Großen um sie herum tatsächlich vorweg? Der Tod ist für ein Kind etwas unsagbar Fremdes. Die Großmutter erinnerte sich oft in der Weise an Gesagtes, dass sie es entstellte, wenn sie es nicht überhaupt erst erfand. Immer lief es darauf hinaus, dass es mit der Familie wieder aufwärtsging, dass sie einer schöneren Zukunft entgegengingen und dass etwas Glanz auch auf sie fiel.

Zu der Zeit, als die Großmutter schon sehr leidend war, saß er mit Pauli am Strand von Sylt und las ihm vor. Pauli war ungefähr fünfzehn Jahre älter als Manfred und hatte schon einiges veröffentlicht. Er ließ sich von ihm die ersten Seiten aus Blochs Prinzip Hoffnung vorlesen. Er war so zufrieden mit ihm, dass er erklärte, er würde ihm das Amt eines besoldeten Vorlesers übertragen, wenn er einmal sehr reich sein sollte. All diese Erinnerungen hatten einen Zug ins Märchenhafte. Manfred war für zwei Tage von Berlin zu ihm nach Sylt gefahren. Ja, er selbst war endlich in Berlin angekommen, und rund um den Nollendorfplatz sah es noch beinahe so aus wie zu Kästners Zeit. Das Gefühl für die Atmosphäre einer Vergangenheit war in Manfred zeitweise stärker als das für Eindrücke der Gegenwart. Jetzt war auch wieder so eine Zeit der Entrückung.

Er verließ den Bus und ging auf das Haus mit der Jugendstilfassade zu, in dem Stefan seit einigen Jahren wohnte. Es war eines der Häuser, deren Inneres nicht hält, was das ziemlich prachtvolle Äußere verspricht. Stefans Wohnung war so um einen Hof herum angeordnet, dass man lange Wege zwischen den entferntesten Räumen in Kauf nehmen musste. Der Einfachheit halber servierte er deshalb das Essen in einem neben der Küche gelegenen und nur halb eingerichteten Arbeitszimmer. Es gab gebackene Champignons und etwas Gemüse, mit Sauerrahm angerichtet.

Stefan erzählte, er habe vor, sich im kommenden Jahr für einen Wettbewerb homosexueller Läufer in Vancouver anzumelden. Zu diesem Zweck habe er jetzt wieder mit dem Lauftraining begonnen. War das nicht bezeichnend für ihn und auch für die Transformation der Visionen der zurückliegenden Jahrzehnte? Vielleicht gab es ja bald schwule Bäcker, die schwule Vollwertbrötchen buken, und um sie zu genießen, muss man dann vielleicht nach Melbourne fliegen. Aber so etwas durfte man nicht sagen. Außerdem erfuhr er von ihm von einer Massenorgie in Unterhosen und Socken, die er Jack-off-Party nannte und die, wie er sagte, sein Weltbild vollständig revolutioniert habe.

Manfred hatte es einfach vergessen: Er war von ihm nicht nur zum Abendessen und nachherigen Vorlesen eingeladen, sondern er sollte ihn (nämlich seinen Körper) gründlich vermessen. Stefan wollte sich auf seiner kommenden Amerikareise in Portland neue Ledersachen schneidern lassen, und es war in Oregon so üblich, dass man seine Maße selbst mitbrachte. Vom Vorlesen war zunächst noch nicht die Rede.

Sie mussten sich ins Zeug legen. Für Jacke und Hose waren vierzig Einzelmaße zu nehmen. Die Bestellung in Portland war ein Tausend-Dollar-Auftrag, und sie würden dort nicht einmal nachmessen. Also gingen sie alles zweimal durch, abweichende Werte wurden noch weitere Male überprüft, und über jede Unstimmigkeit debattierten sie intensiv. Einmal verwechselten sie die englischen Wörter für Hüfte und Taille und bemerkten den Fehler erst bei der allerletzten Kontrolle. Es dauerte zweieinhalb Stunden, und als sie um eins zum Nachtbus hasteten, waren sie beide erschöpft wie sonst nur nach einer langen Nacht in St. Georg.

Wofür das alles? Wo lassen arbeiten, hieß es im alten Wien. Nur darauf kam es ihm an, sagen zu können: in Portland, bei Amerikas erstem Lederschneider. Auf der Fahrt in die Stadt deutete Stefan an, er werde es doch bei einer Jacke belassen. Wofür sie dann aber die Maße auch für die Hose genommen hätten? – Damit er (der Schneider in Oregon) die Maße schon einmal habe.

Stefan stieg unterwegs aus. Manfred ließ ihn allein ins Village gehen. Er selbst war zu müde, vom Hauptbahnhof nahm er ein Taxi nach Hause. Er befühlte die Bögen in der Innentasche seiner Jacke: Der Text war noch da. Stefan hatte vielleicht nicht einmal mehr ans Vorlesen gedacht.

Es war dumm von ihm, sich über den Verlauf des Abends zu ärgern. Natürlich war Stefan ein Snob – keine neue Erkenntnis. Im Grunde wusste er seit längerem, dass Stefan die Verbindung zu ihm nur genau so lange aufrechterhalten würde, wie er sich noch in den Bars und Cafés zeigte. Für Stefan gab es das nämlich wirklich: den gesellschaftlichen Tod.

Sie rollten über die Lombardsbrücke. Für die nächtliche Kulisse der Geschäftsstadt drüben hatte er kaum einen Blick übrig, er hatte sie zu oft gesehen, aus der Distanz wie aus der Nähe. Ihre illuminierte Silhouette schien über dem Wasser zu schweben wie das sommerliche Bühnenbild von Seefestspielen, in Bregenz oder Mörbisch zum Beispiel. Nur fehlte der Feuerwerkszauber, und die Proportionen stimmten auch nicht. Zu viel Bebauung für so wenig Wasser. Dass so viel Masse nicht einfach im Marschboden versank: Wunder der Technik.

Es war das Problem der Masse. Im Besonderen seines Abends war das Allgemeine enthalten: Überproduktion, wohin der Blick fiel. Es herrschte jetzt in der Literatur eben kein Mangel an Fruchtbarkeit. Es gab viel zu viele, die schrieben, und zu wenige, die lasen. Unendlich viel schwieriger als einen Roman zu schreiben, war es, einen Verlag für ihn zu finden. Es war nur scheinbar paradox, dass der Querschnitt des Publizierten dabei so dürftig ausfiel. Es war wie mit einem Gartenbeet, in dem zu dicht ausgesät wurde. Die Sämlinge schossen lichthungrig in die Höhe, litten Mangel an Nahrung, Wasser und vor allem an Raum zur Entfaltung. Dass die Lektoren, diese modernen Zensoren, rigoros ausdünnten, half auch nicht mehr viel. Den verschonten Exemplaren, blass und vergeilt, wie sie waren, fehlte die Kraft, noch in die Breite zu gehen. Nun hatte zwar das eigene Samenkorn weitab vom fruchtbaren Mutterboden gekeimt, fern der dichten Konkurrenz, doch was aus Kulturpflanzen auf Ödland noch werden kann, man weiß es ja … In seinem Fall half auch die alte, formelhafte Wendung nicht weiter: XY liest aus unveröffentlichten Werken. Bei einem Manfred H. war das eben keine Empfehlung.

Es war nur eine Spielerei, er hatte bisher nicht einmal einen Roman zustande gebracht. Es fiel weiter gar nicht ins Gewicht. Im Übrigen war es jetzt nicht das erste Mal, dass er mangelnder Resonanz begegnete. Gerade hatte er einen anderen Text aus München zurückbekommen. Unter den zweihundertsechsundzwanzig Teilnehmern jenes Wettbewerbs war ihm der einzige Preis also nicht zuerkannt worden. Er möge sich dadurch nicht entmutigen lassen und weiter produzieren, das schrieben sie ihm, wie vermutlich auch allen übrigen, den Gewinner ausgenommen, dessen Namen sie ihm nicht einmal mitteilten. Die Verlage verbanden mit ihrer Ablehnung – er hatte auch das schon erfahren – die Versicherung, ein Werturteil sei damit nicht verbunden; und das nahm er ihnen sogar ab, wenn er an die Programme ihrer Häuser dachte oder an die Sortimente der Buchsupermärkte oder an die Kassenschlager von heute, die alle nach drei bis fünf Jahren unwiderruflich im Orkus verschwanden. Der Ramsch triumphierte, doch musste er sehr bald neuem Schamass Platz machen.

Und einer wie Bernhard Milbe heimst jetzt Preise und Stipendien ein, sieht seine rasch hingeworfenen Essays in großen und kleinen Blättern gedruckt. Es sind Versuche im ursprünglichen Sinn, schülerhafte Bekenntnisse, die nur auf einem einzigen unüberprüften Geistes- oder Gedankenblitz beruhen. Man sieht gewissermaßen beim Lesen etwas kurz aufleuchten, schwach genug, man zählt, um zu ermitteln, wie weit entfernt der Einschlag erfolgt ist: einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig … Nichts, der Donner bleibt aus. Vielleicht nur Wetterleuchten? Aber der Blitz kommt zurück, mehrmals, wie herbeizitiert. Es ist immer derselbe, man erkennt ihn daran, dass Milbe seinen einzigen Gedanken nie neu einkleidet. Alles Messbare kommt mir irgendwie minderwertig vor, sagt er am Anfang, und dann liest man vom Minderwert des Messbaren, vom Unsinn des Messens und auch von der messbaren Verdummung der Menschheit. Messen ist also dumm: blitzartige Erkenntnis, irgendwie einleuchtend. Aber wo bleibt die Analyse? Und: Kann Wetterleuchten aus Faulgas entstehen?

Gewöhnlich produziert Milbe Kunstprosa von hochprozentiger Banalität. Seine Geschichten sind vorgeblich die hinter den Balken der Schlagzeilen. Tatsächlich sind seine Figuren selbst nur fette Überschriften, die er allerdings einer speziellen Diät unterworfen hat. Seine Methode besteht darin, die aufgeblasene Geschichte durch eine bis aufs Skelett abgemagerte Sprache auf ihren dürftigen Kern zu reduzieren. Das heißt dann, dickes Eigenlob, authentisch.

Die Methode Milbe ist darin besonders erfolgreich, der Realität bei deren Widerspiegelung den letzten Rest an Komik auszutreiben. Das Authentische ist nie komisch, ist auch nie tragisch. Es ist banal, monoton, so kunstvoll wie eine millionenfach hergestellte preiswerte Dosensuppe. Dies klar zu erkennen und konsequent anzuwenden, ist nicht nur Milbes Kunst - es ist eine, die heutzutage ankommt.

Eine Schauspielerin vergaß auf dem Weg ins Theater ihr Vampirgebiss in einem Taxi. Durchsagen im Radio brachten es ihr nicht zurück. Eine Abendvorstellung fiel deshalb aus. Das Massenblatt brachte anderntags Fotos der Schauspielerin (mit der Hand vor dem Mund) und der inzwischen ermittelten Taxifahrerin. GEBT IHR DIE ZÄHNE ZURÜCK!

In der gleichen Stadt betrat am Erscheinungstag als eine moderne Epiphanie eine junge Frau mit jenem Vampirgebiss die Schalterhalle einer Bank und verlangte mit gezogenem Revolver Geld vom Kassierer. Dieser hielt ihr (instinktiv, wie es später hieß) das Blatt mit der Schlagzeile und den Fotos zweier Frauen entgegen. Zumindest stellte es das Massenblatt einen Tag später so dar. Es titelte: SO SCHLUG ICH DEN GELDVAMPIR IN DIE FLUCHT und deutete ein intimes Verhältnis zwischen der Räuberin und der Taxifahrerin an. Dazu ein unscharfes, unsympathisch berührendes Foto des Geldvampirs, von der Überwachungskamera aufgenommen. Die Wahrheit wird man trotzdem nie erfahren.

Bei Milbe beginnt die Geschichte damit, dass die Räuberin bis drei zählt, ehe sie den Revolver zieht; sehr berechnend von ihr, um nicht zu sagen kaltschnäuzig. Und wir täten es vielleicht auch so. Der Kassierer lacht erst, dann vergeht es ihm wie uns, er wird noch ärgerlich und hat dann ein bisschen Angst, nicht zu viel. Dann Rückblende: Sie hat das Gebiss am Vortag per Zufall in einer Taxe gefunden. Nun hat sie diesen Mittwoch ohnehin eine Bank überfallen wollen, der Fund passt ihr in den Kram. Als sie das Gebiss an sich nimmt, empfindet sie – nichts. Warum sollte sie etwas empfinden? Im Übrigen liest sie das Massenblatt nie. Sie bricht den Überfall ab, da sie nicht auch noch in die Zeitung kommen will. Das ist so verständlich wie das Ganze von Milbe vollkommen reizlos erzählt. Aber preiswürdig.

Stefan hatte sich nur den Anschein von Interesse an einem fremden Text gegeben. Unendlich viel wichtiger war es ihm, seinen Körper vermessen zu lassen. Dabei konnte es ihm passieren, dass er auch geistig vermessen wurde. Neigte er, Manfred, dabei zum Abrechnen? War die Grundeinstellung zu seinen Gestalten vielleicht sadistisch? Übertrug er also die Mechanismen von Village und Bronx auf die Literatur? Führte er seine Figuren vor, um ihnen die Instrumente zu zeigen? Von einem noch jungen Stammgast in den Bars war ihm berichtet worden, er fessele seine Partner, in denen er nur seine Opfer sehen wollte, und nähere sich ihnen drohend mit einer Rasierklinge, um ihnen dann – nichts anzutun, jedenfalls sie nicht physisch zu verletzen. Er hat sich an meiner Angst geweidet, sagte ihm ein Student, der auch noch religiös veranlagt war. Er war ahnungslos, wie er behauptete, mit ihm gegangen und hatte den Eindruck noch nicht verwunden. Wollte Stefan sich, instinktiv womöglich, nicht fesseln lassen?

Er verließ das Taxi an der Ecke seiner Straße, wie er es meistens tat, und ging die letzten Meter zu Fuß. Eimsbüttel war jetzt eine stille, gotisch steinerne Stadt, und sein Haus, seine Wohnung waren ebenfalls still, wie er sie wachend seit langem nicht mehr erlebt hatte. Er sollte öfter um halb zwei in der Nacht mit einem ungelesenen eigenen Text nach Hause kommen. Wie schön war die Nachtstille, wie großartig die Einsamkeit des Autors, den niemand liest, dem niemand zuhört.

Die stille, leere Wohnung war wie ein aufnahmebereites Gefäß. Er setzte sich in sein Wohnzimmer und begann laut vorzulesen: Dschingis Khan in der Kantine ---
 

rothsten

Mitglied
Hallo Arno,

sauber geschrieben, aber es will mich nicht einfangen. Die Beziehung Deines Prots mit Milbe ist mir zu leblos, die Figuren sind unscharf. Dass Milbe ein überschätzter Autor ist, mag stimmen, aber warum macht es Deinen Prot so fertig? Hier müsste mehr Stoff kommen, z.B. sein verschmähter Text, der brillant ist ... Du verstehst. So plätschert es öfter vor sich hin. Ich will hier nicht zuviel sagen, denn es änderte komplett Deine Geschichte.

Meiner Meinung nach könnte man auch straffen.

Ganz ehrlich: Schreib bitte die Geschichte mit Dschingis Khan in der Kantine. Das verspricht einiges! :)

lg
 
Danke, rothsten, für die Meinungsäußerung. Das mit dem Hinplätschern sollte ich mir wohl zu Herzen nehmen. Im Übrigen hast du eine Schwäche richtig erfasst: den fehlenden Anschlusstext. Damit verhält es sich so: Ursprünglich folgt hier einer, der schon isoliert in der Leselupe veröffentlicht ist. Nun wollte ich dem Vorwurf der Eigenreklame oder Doppelveröffentlichung entgehen und bin auf einen anderen Titel ausgewichen, der kaum Bezug zum Stoff hier hat. Der Dschinghis-Khan-Text ist längst fertig und wird irgendwann unter Erotisches eingestellt.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 



 
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