Der Wechsel

4,00 Stern(e) 1 Stimme

Feder

Mitglied
Es war Montagmorgen. Gerade aufgestanden, ging Franka ins Badezimmer, geradewegs zum Waschbecken und ließ kaltes Wasser über ihre Hände laufen. Das tat gut! Noch ein Schwung davon ins Gesicht, könnte Abhilfe schaffen von den Gedanken in der letzten Nacht! „Aaah!“ Ein tropfnasses Spiegelbild blickte ihr entgegen. Doch nicht nur das: da stand jemand – genau hinter ihr. „Guten Morgen Franka“, sagte der Mann ohne Namen und strahlte sie an. „Äh mhm ... Mooorgn!“, würgte Franka hervor und fragte sich, welche Flasche Sekt diese grandiose Wirkung hervorgerufen hatte. Sie mußte unbedingt herausfinden, welche Marke und zum Weinhändler ... MOMENT! „Ich schlafe noch!“, philosophierte sie. „Oder ich spinne! ... oder BEIDES?“ Langsam wurde ihr mulmig.
„Die Wirkung habe ich auf alle!“, sagte der Mann ohne Namen lächelnd.
Franka raffte ihr Schlafanzugoberteil zusammen, drückte ihr Kreuz durch, hob den Kopf in seine gewohnte Richtung, beschwor eine indignierte Mine hervor und sagte: „Ich weiß zwar nicht, wie Sie hier hereingekommen sind, aber was um aller Welt wollen Sie, Sie Arroganzling?“
Schmunzelnd ließ sich der Fremde auf dem Badewannenrand nieder. „Ich kam heute Nacht! Wie jedes Jahr! Und wieso beschimpfst du mich?“
Franka rang nach Fassung und hob ihre Stimme. „Also: Erstens habe ich Sie weder hereingelassen noch gebeten zu kommen. Zweitens kenne ich Sie nicht – voriges Jahr waren Sie nicht hier. Drittens bilden Sie sich eine Menge ein bezüglich Ihrer Wirkung auf Frauen und Viertens: Was fällt Ihnen ein, mich zu duzen?“

Der Mann im Bad lachte und eine Reihe blendend weißer Zähne wurden sichtbar. Sie waren nicht das einzig Markante an ihm. Das ganze Erscheinungsbild war außergewöhnlich perfekt, geradezu makellos schön. Seine Augen, von welcher Farbe auch immer, waren durchdringend klar und ohne Falsch, und sie strahlten, wenn sein Lachen sie erreichte. Seine Stimme war angenehm, seine Gegenwart, obwohl dies nicht sein konnte, schien vertraut. Franka fragte sich, welchem Trugbild sie im Begriff war, zu erliegen.

„Ich frage nicht, ob ich hereinkommen darf. Ich komme, ohne zu fragen, jedes Jahr erneut. Ich bringe Ruhe mit und Kraft und biete alle Möglichkeiten, zum Beispiel die Hoffnung. Du kennst mich gut! Ich begleite dich, seit du auf der Welt bist, an jedem Tag und durch das Jahr hindurch. Also: Warum sollte ich dich siezen? Beim Weg Franka, eine Frage hätte ich schon: Warum fragst du nicht nach meinem Namen, wenn du nicht weißt, wer ich bin? Du meinst, ich irritiere nur Frauen. Da liegst du falsch! Ich irritiere Frauen wie Männer und beide lieben und fürchten mich in gleicher Weise!“
„Nun schlägt es aber dreizehn!“ Franka, mittlerweile beim Zähneputzen angelangt, fuchtelte wild, Pastaspritzer auf dem schwarz gefliesten Badezimmerboden verteilend, um sich.
„Erst halten Sie sich für unwiderstehlich und über alle positiven Eigenschaften verfügend, dann sagen Sie, sie kennen mich schon lange und bezichtigen mich im Gleichzug der Amnesie und zu guter Letzt sind Sie auch noch so anmaßend zu glauben, keines der Geschlechter könnte Ihnen nicht erliegen! Was interessiert mich Ihr Name? Verschwinden Sie, auf der Stelle!“
Drohend die Zahnbürste auf ihn gerichtet, ging Franka ihm entgegen.

„Das geht nicht!“, sagte der Mann ohne Namen mit weicher, verständnisvoller Stimme. „Wieso?“ fragte Franka. „Ich bin der Erste!“ „Wie?“ „Der Erste!“ „Bei mir nicht, das wüßte ich!“ Franka schrie es fast heraus. Nun ließ auch sie sich auf dem Badewannenrand nieder. „Was soll das heißen?“ fragte sie mit matter Stimme.
„Man nennt mich „der Erste, Neujahr, Jahresbeginn! Ich wollte dich begrüßen und sehen, was aus dir geworden ist und dir zum neuen Jahr sagen, dass du Hoffnung haben sollst, Mut aufbringen. Es lohnt sich! Immer!“

Franka brauchte eine Weile, bis sie begriff. „Daher wirkst du so schön, so unverbraucht, so vollkommen!“ stieß sie hervor. „Ja, so wirke ich und so kann ich bleiben, 365 Tage lang, wenn du dafür sorgst! Ich gehe jetzt! Mach das Beste aus mir und bring dir damit Glück!“
„Noch eine Frage“, bat Franka. „Wieso habe ich dich nicht erkannt?“ „Weil ich jedes Jahr neu geboren werde, mit allen Möglichkeiten für 365 Tage!“

Der Fremde verschwand, wie er gekommen war und ließ eine nachdenkliche Franka zurück..
 

Andrea

Mitglied
5 von 10 Punkten

Eine nette Idee, sprachlich solide, an einigen Stellen wirkliche humorig, ABER:

1) Wieso putzt sich deine Protagonistin in Seelenruhe weiter ihre Zähne?

2) Wo sind ihre Reaktionen auf diesen Traummann, nachdem sie ihn zu Beginn beleidigt hat?

3) Woher nimmt sie diese Seelenruhe, ihm zu antworten? Wieder einmal erinnere ich mich an USA-Filme, wenn der Held während der Explosion oder Verfolgungsjagd oder im Kampf noch einen lässigen Spruch auf den Lippen hat..

4) Wieso ist in diesem Jahr ein fremder Kerl im Badezimmer, in den anderen Jahren aber nicht? Wenn sie sich auch nicht an DIESEN Mann erinnert, an die Tatsache erinnerte sie sich bestimmt!

Deine Charaktere überzeugen mich einfach nicht, und die müßten nicht nur die Idee darstellen, sondern die Geschichte tragen! Du hast keine Handlung, die bei dieser Thematik auch nicht nötig oder sinnvoll wäre, aber umso stärker müssen dann die Figuren sein.

Was mich außerdem noch stört, ist diese plakative Hoffnungsbotschaft. Ist einfach zu klischeehaft, zu sehr "alle haben sich lieb"-Stimmung (wird klar, was ich meine? :confused: Ich hoffe es!).
 

Neziri

Mitglied
Ok, meine Ansicht der Dinge:

Die ganze Geschichte ist in ihrer Art so metaphorisch angelegt, daß die Handlung aber auch völlig in den Hintergrund tritt, da sie die Metaphern eigentlich nur trägt wie ein Tablett die Gläser, also kann sie auch gut und gerne im Hintergrund bleiben. Die Versinnbildlichung des 'Ersten' durch einen schönen Mann ist somit auch nur eine Metapher, da 'der Erste' für jeden die Möglichkeiten bietet, die er sich erträumt. Somit ist auch völlig egal, ob sich Franka nun die Zähne putzt oder in der Nase bohrt, wichtig ist nur, daß sie ihre Möglichkeiten nicht gleich erkennt. Vielleicht hat sie diese Möglichkeiten auch in den Jahren zuvor gar nicht gesehen, somit wäre auch die Unkenntnis des 'Ersten' erklärt. Die Kritikpunkte der Kommentatorin vor mir kann ich beim besten Willen nicht erkennen, zumindest nicht, wenn ich die Geschichte von meinem Blickpunkt aus analysiere. Ich hoffe, ich habe sie richtig verstanden.
 

Andrea

Mitglied
Eine Handlung wollte ich ja auch nicht. Aber wenn ich deiner Analyse richtig folge, dann diskutiert die Protagonistin metaphorisch mit sich selbst? Hält sich selbst für arrogant? Beschimpft sich? :confused:

Wenn ja, kapiere ich es dennoch nicht.
 

Feder

Mitglied
Hallo Andrea,

danke für das eingangs gemachte „halbe“ Kompliment zur ersten Kurzgeschichte in meinem Leben.

Zu deinen Anmerkungen:
1) Weil sie den „Mann im Bad“ nicht ernsthaft für einen „Mann im Bad“ hält. Sie hält ihn für einen Gestalt angenommenen Gedanken.

2) Die Reaktion von Franka auf den „Mann im Bad“ ihren „Gestalt angenommenen Gedanken“ liegt schon eingangs. Sie fühlt sich von einem aufkommenden Gedanken GESTÖRT – in Wirklichkeit ist es nicht nur der eine Gedanke, denn Franka hat ein Problem, dass sie nicht nach außen dringen lassen will. Die so berühmte Angst und Erwartungshaltung am ersten Tag im Jahr, nachdem Silvester alle Gedanken zur Mitternachtsstunde auf einmal im Kopf toben. Gleichzeitig aber erkennt sie „als Frau/als Mensch“ das andere Geschlecht auf angenehme Weise. Angenehm und unangenehm berührt zugleich zieht sie an ihrem Schlafanzugoberteil – eine Verlegenheitsgeste.

3) Sie fühlt sich wie in Trance, mit „ihrem Gedanken“ sprechen zu können.

4) Sie hat das erste Mal in ihrem Leben zu Silvester/Neujahr über Grundlegendes nachgedacht. Sie fühlt sich matt, von der Tragweite dieser Gedanken, die so übermächtig erscheinen, deshalb die Schönheit dieses Mannes. Dieser ist stark, er zeigt ihr in allem, dass er nichts Böses will.

Die „liebe Stimmung“ fußt auf der Erkenntnis, dass jedes Jahr im Grunde nichts Schlechtes mit sich bringt. Sicher, Schicksalsschläge können schlimm sein, aber es kommt immer darauf an, was macht daraus macht, wie man damit umgeht für sich selbst, auch wenn man nichts ändern kann, was durch „höhere Gewalt“ entsteht.

Hier geht es um die Darstellerin, die ihr Leben überdenkt und ein Gedanke, den sie verdrängt hat, ist die Hoffnung, es zu meistern, der Wunsch, etwas zu ändern. Bisher hat sie diesen Gedanken noch nie „an sich heran gelassen“.


Hallo Neziri,
danke für deinen Beitrag, dem nicht mehr viel hinzuzufügen ist. Es freut mich, dass ich mit meiner ersten Kurzgeschichte – ich schreibe sonst eher Gedichte – direkt so gut verstanden wurde.

Was die Arroganz von Franka anbetrifft: Sie hält sich für hochmütig gegen sich selbst. Hat im bisherigen Leben alles verdrängt und erkennt das. Jetzt sinnt sie darüber nach, was sie anders machen kann und sitzt am Ende der Geschichte nachdenklich auf dem Badewannenrand.


Lieben Gruß an euch beide,
Feder
 



 
Oben Unten