Der Weg

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initium

Als sie ihn bemerkte, war es schon zu spät. Erst im letzten Moment versuchte sie sich zu bremsen, prallte letztendlich doch gegen ihn. Ihr Samsung Galaxy S4 viel zu Boden, ohne dass sie darauf reagieren konnte. Sie selbst verlor das Gleichgewicht, verlor den Halt, den ihr der vereiste Boden kaum geben konnte. Alles ging zu schnell, im Bruchteil von Sekunden sprang er vor, fing sie auf, hievte sie wieder auf die Beine. Ihre Blicke trafen sich, seine Augen waren schwarz, so dunkel das sich nichts in ihnen spiegelte. Licht wurde von ihnen absorbiert. Eine Ewigkeit verging, in der sie nichts als das Schwarz seiner Augen sah.
"Kommen sie, treten sie ein, lassen sie sich verführen in die wundervolle Welt des Weihnachtsshoppings. Das Schloss hat heute nur für sie bis kurz vor Mitternacht geöffnet, damit sie ihre Liebsten reich beschenken können!“, trällerte eine fröhliche Stimme die vom Einkaufscenter zu ihrer Rechten ausging.

Noch immer hielt er ihre Hand. Seine Augen schienen ihr die Sprache genommen zu haben. "Danke, tut mir leid, ich hatte sie nicht gesehen", brachte sie endlich ein wenig zögerlich hervor. Er zuckte kurz mit den Schultern und lächelte ein zahnloses, hässliches Lächeln. Instinktiv wollte sie ihre Hände wegziehen, doch sie konnte es nicht . Wie konnte sie bisher nicht bemerkt haben, wie alt und hässlich er war? Sein Geischt war von Narben und Falten übersäht, seine Hände runzlig, die Nägel vergilbt. Auf dem Kopf trug er einen altmodischen Zylinder. Er schien dies gespürt zu haben, ließ sie los und sie fühlte sich wieder ein wenig sicherer. Ohne weiter auf eine Antowrt seinerseits zu warten, sagte sie möglichst höflich: "Danke nochmal, aber ich muss jetzt wirklich los, Geschenke kaufen. Frohe Weinachten." Zur Antwort nahm er nur seinen Hut, verbeugte sich kurz und ging dann langsam vorbei in Richtung Park, ohne sich noch einmal umzudrehen. Er lief geradewegs auf einen Schneemann zu, der wie ein Wächter über das Meer wachte.
Der Park lag zu ihrer Linken; Schnee hatte sich auf seine Tore, seine Bäume, Pflanzen und Wiesen gelegt. Ein weißes Meer ergoss sich förmlich vor ihren Augen, vermochte eine sonst so triste Welt glänzen zu lassen.
Doch der Himmel über Berlin war grau, keine weitere Schneeflocke fiel mehr von ihm. Lautes Hupen riss sie zurück auf ihre Seite. Beinahe wäre sie beim Versuch, ihr Smartphone aufzuheben, wieder hingefallen. Zu allem Überfluss hatte das Display einen kleinen Sprung. "Verdammt noch mal!", fluchte sie laut, doch niemand aus dem Strom vorbei laufender Passanten schwamm ihr entgegen. Ein Blick auf die Uhr des Smartphones verriet ihr, das keine Zeit blieb um sich weiter darüber aufzuregen. Sie hatte zu viel Zeit verloren, obendrein hatten sich in der Zeit 35 Nachrichten angesammelt, die es zu beantworten galt. Ihr war kalt.

Ein amerikanischer Weihnachtssong wehte vom Einkaufscenter herüber. Die Aussicht auf Wärme ließ sie beinahe darauf zurennen. Schließlich war dies von Anfang an ihr Ziel gewesen, bevor dieser Zwischenfall passiert war, dachte sie missmutig. Der Ausblick endlich Shoppen gehen zu können, munterte sie auf und so erreichte sie den Eingang voller Vorfreude. Lichter aus dem Kaufhaus stachen ihr grell in die Augen, an den Seiten neben der Tür lag grauer Schneematsch. "...a merry christmas, we wish you a merry christmas and a happy new year..." Schnellen Schrittes betrat sie die Drehtür, quetschte sich mit den Anderen hinein. In der Mitte des Drehkreuzes befand sich ein Schaufenster, an das sie soeben gepresst wurde. Ein kleiner Weihnachtsmann, sitzend auf einem Berg von Geschenken, hielt eine Coca-Cola Flasche in der Hand. Er lächelte.

desarrollo

Endlich gab die Tür den Weg, in die glanzvolle Welt frei. Die Anderen schienen es selbst kaum erwarten zu können, drängten unter Verwendung ihrer Ellenbögen aus der Tür. Die Welt strahlte sie an und sie strahlte zurück. Im Foyer stand ein riesiger Weihnachtsbaum, seine Äste in perfekt symmetrischer Form. Seine Farbe in einem Grün, das schöner kaum sein konnte, erhob er sich in vollkommener Pracht vor ihr. Der Geruch von frischer Tanne zog sie förmlich magisch an; ihre Füße trugen sie wie von selbst. Um das Wunder herum reihten sich verschiedene Stände, die Alles und Nichts anbaten. Voller Staunen umrundete sie den Baum und die Stände. Meter große Weihnachtskugeln hingen an ihm; in rot, Gold, sogar in Silber. Zwischen den Kugeln hingen rechteckige Geschenke, eingewickelt in grünes Geschenkpapier, gespickt mit weihnachtlichen Mustern. Sterne, Kerze, Hirten, Könige und sogar ein Nussknacker waren nur einige der Motive. Noch immer gebannt von seiner Schönheit wurde ihre Nase von dem Geruch an einem der Stände angelockt. Es duftete köstlich nach gerösteten Mandeln, Zimtsternen und Schokolade. Gezielt bahnte sie sich den Weg durch die Menge, erreichte ihr Ziel alsbald und kaufte sofort eine Tüte voller Mandeln, einen Weihnachtsmann aus weißer Schokolade, zehn Tüten Marzipankugeln - sie liebte Marzipan - und 1kg Zimtsterne. "Das macht dann 20,59 Euro, junge Dame", sagte die freundlich lächelnde Verkäuferin höflich zu ihr. Sie kramte in ihrer Handtasche, fand das Portemonnaie, zog einen 50 Euroschein herraus und überreichte ihn ihr. Kurze Zeit später, hielt sie eine vollgepackte Tüte mit Leckereien und ihr Rückgeld in den Händen. "Danke das sie bei Hussel eingekauft haben und frohe Weihnachten." Ihr war auf einmal grundlos unbehaglich zumute. Die Verkäuferin lächelte weiterhin. Ihre Augen waren grün. Ihre Augen, lächelten nicht.

Geld und Tüten in ihrer Tasche verstaut, drehte sie sich weg, blickte ziellos umher, auf der Suche nach dem vor wenigen grünen Momenten verlorenen Gefühl der Weinacht. Grün war es Sekunden später auch, welches ihre Suche beendete. Zwei kleine Kobolde, auf den Köpfen grüne Mützen, gekleidet in grüne Kleider, mit langen Nasen in ihren dunkelgrünen Gesichtern, hüpften in grünen Spitzschuhen zwischen staunenden Kindern und genervten Müttern umher. Sie sprangen auf den mächtigen Baum zu. Der kleinere von beiden trug eine grüne Leiter in der Hand. Ähnlich begeistert wie die Kinder reihte sie sich in den Halbkreis der Staunenden ein; stellte ihre Tasche auf den grauen Boden.

Grüne Händchen griffen in grüne Tannenzweige - zupften ein rotes, mit goldenen Schleifchen verziertes Geschenk vom Baum. Tollpatschige Hände ließen das perfekte Geschenk fallen, doch der größere Kobold stand zum Glück neben der Leiter und fing es auf. Erschrockenen Gesichtern, folgten Erleichterte, mündeten in aufgeregte Freude. Die Augen des Kindes glänzten, als die Beiden ihm das perfekte Geschenk überreichten. Ungeduldig war es bereits dabei, die goldene Schleife zu öffnen, als seine Mutte, die plötzlich hinter ihm stand, ihm etwas ins Ohr zischte. Widerwillig ließ das Kind von seinem perfekten Rot ab und sagte mit hoher, unschuldiger Stimme: "Danke, liebe Helferlein und lieber Weihnachtsmann für mein Geschenk. Darf ich es jetzt aufmachen Mama?" Mütter und Kobolde lachten, Kinder blickten gespannt, als der kleinere Kobold mit quikender Stimme sagte: "Natürlich darfst du das Großer, der Weinachtsmann hat es für dich ausgesucht." Glücklich ging das Kind, das perfekte Rot in der einen, die Hand seiner Mutter in der anderen Hand haltend, zur nächstgelegenen Bank. Sie selbst und die anderen Kinder blickten ihm nach. Mütter wendeten sich bereits zum gehen, doch plötzlich riefen beide Kobolde im Chor: "Jeder von euch kann mit etwas Glück ein Geschenk vom Weihnachtsmann bekommen. Er wartet am anderen Ende des "Schlosses" auf jeden von euch! Frohe Weihnachten und einen angenehmen Aufenthalt wünscht ihnen "Das Schloss"“. Zappelnde Kinder zogen nun an den Mänteln ihrer gehetzt wirkenden Eltern. Eilig zogen sie von dannen, zurück blieben die Kobolde und sie selbst. Die beiden liefen zurück zum Baum um ihre Leiter zu holen. Neben der Leiter lagen von Baum gefallene grüne Nadeln auf grauem Boden. Die Stimmen und das Auftreten der grünen Kobolde hatten sie in den Bann gezogen, doch im nachhinein fielen ihr die blauen Augen der beiden auf. Ihre Augen, glänzten nicht.
Schlagartig fühlte sie sich beklommen und hob schnell ihre Tasche vom grauen Boden. Wie viel Zeit hatte sie schon wieder nutzlos verplempert?, dachte sie. Sie wollte es erst gar nicht wissen, schaute dann aber doch auf ihr Smartphone und zog dann ruhelos fort.

Ihre Tasche geschultert, zwei Tüten vollgepackt mit Geschenken in den Händen tragend, lief sie mehere Stunden später erleichtert und glücklich dem Ausgang entgegen. Endlich waren die Verwandten und Freunde versorgt, dachte sie beruhigt. Kugelschreiber, Ketten, Kerzen, Kalender, Karten, Klamotten und andere Dinge deren Namen sie vergessen hatte, befanden sich darunter. Auch die gefühlt 100 Nachrichten von Freunden hatten sie beantwortet. Unzählige Weihnachtsgrüße waren zwischen entfernten Orten, hin und her gesendet worden.

"Ho, Ho, Ho, kommt her und lasst euch von mir beschenken", rief eine tiefe, alles ausfüllende Stimme. Das musste er sein - der Weihnachtsmann, von dem die Kobolde gesprochen hatten. Dieses Foyer glich äußerlich dem Anderen, nur das sich hier Stände um ein großes Podest, auf dem der Weihnachtsmann und eine große, nach oben offene Kugel voller Weiß, ringten. Seine Mütze war rot, wie auch sein Mantel und seine Schuhe. Sein langer weißer Bart hing ihm fast bis zu den Beinen. Er sah ebenso aus, wie sie sich den Weihnachtsmann als Kind jedes Mal vorgestellt hatte. Sie konnte garnicht anders, als die Tüten und ihre Tasche auf dem grauen Boden zu parken und ihn, wie auch andere in der Nähe anzublicken.

"Jeder darf nach vorn kommen und eine Schneeflocke aus der Kugel ziehen. Mit etwas Glückt zieht ihr eine Schneeflocke, die zu einem Geschenk gehört." Ihre Füße hatten sie bereits wie von selbst in Richtung Kugel getragen, die Tüten hinter sich her schleifend. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor bis sie endlich an die Reihe kam, doch schlussendlich ging das letzte Kind vor ihr vom Podest und sie stand vor ihm; dem Weinachtsmann. Er kratzte sich in seinem ellenlangen Bart und nickte ihr freundlich zu. Glücklich, erwartend, fast schon gierig griff sie in die Kugel. Sekunden der Spannung folgte große Freude und Erwartung. Auf ihrer weißen Schneeflocke stand tatsächlich eine schwarze Zahl. Ihre Nummer war 36. Der Weihnachtsmann sagte strahlend: "Wie heißt du, junge Dame?" "M-melina." "Melina, einen schönen Namen hast du. Sag mir wie alt bist du und was trägst du in diesen schweren Tüten?" "Ich bin 17 und ich..äh in den Tüten sind Weihnachtsgeschenke f-für meine Familie und meine Freunde.", stotterte sie - aufgeregt wie ein kleines Kind. "Oho, das scheinen aber viele Geschenke zu sein, die du für andere gekauft hast. Ich denke, du hast dir ein Geschenkt von mir mehr als verdient, sprach der Weihnachtsmann gütig und weise. "Gehe nun mit deiner Schneeflocke zum anderen Ende des Schlosses und lass dir dein Geschenk von meinen Helferlein überreichen. Es hängt an meinem riesigen Weihnachtsbaum, den du sofort erkennen wirst." "D-Danke" "Nichts zu danken, junge Dame. Coca-Cola, das Schloss und natürlich ich wünschen dir frohe Weihnachten", rief er feierlich. Der Weihnachtsmann lächelte sie an und sie lächelte zurück. Ihr Blick wanderte von seinen braunen Augen nach unten zum Boden des Podestes auf dem sie standen. Das Podest, war rot.
Neidische Blicke aus großen Augen waren auf sie gerichtet, als sie vom Podest schritt. Unsinn! Kinder sind unschuldig. Außerdem lächelten ihre Münder sie an. Es war bestimmt nur Sehnsucht und Vorfreude, welche aus ihren Augen sprach, dachte und hoffte sie. Trotzdem lief sie schneller als beabsichtigt vom Podest weg, die Stimme von Rot und Weiß im Nacken, die mit dem nächsten Auserwählten sprach.

Grauer Boden erstreckte sich endlos vor ihr. Er hatte ihr grünes Licht für ihr Ziel gegeben und doch war es lange nicht in Sicht. Ihre Füße trugen sie voran, vorbei an endlosen Farben die sie laut ansprachen, Farben die sie zu locken versuchten. Ein Labyrinth voller Gänge, das ihr die Sicht auf ihr Grün versperrte. Am Himmel glänzten grelle Sterne, Sterne die den Farben überhaupt erst ihr Leben gaben. Die Sterne, die Gänge, die Farben, verwirrten sie. Fast drohte sie in diesem Meer zu ertrinken, weil sie vergaß weiter zu schwimmen. Ein besonders schöner Seitengang zog sie nach unten. Laute Farben und bunte Stimmen drangen aus ihm, verlangten ihre Aufmerksamkeit, zogen sie mit sich. Erst als sie ein Stück ihrer Farbe mit sich nahm, ließ er sie gehen. Erschreckt stellt sie fest das sie den Grund des Meeres fast erreicht hatte. Doch an der Oberfläche sah sie es, das grüne Licht und mit aller Kraft schwamm sie weiter ihrem Ziel entgegen.
Das Abenteuer war vorbei, das Ziel erreicht. Nun stand sie vor ihm, dem mächtigsten aller grünen Wesen. Irgendwo hoch oben befand sich das Schloss, zu dem nur sie den Schlüssel hatte. Seine Nummer war 36. Hüpfendes Grün kam ihr entgegen, verlangte nach dem Schlüssel, mit dem Versprechen, dass Schloss zu öffnen und zu überreichen was nur ihr gehörte. Widerwillig gab sie den Schlüssel aus der Hand und wartete inmitten von Farben, die sie anstarrten.

Sie selbst war es, die ihnen jetzt ihre Farbe gab; der Mittelpunkt für wenige Momente. Gelbe Spannung und blaue Vorfreude lieferten sich gerade einen Duell in ihr, als plötzlich das mächtigste Grün zu schwanken begann. Etwas lief schief, die Farben wandten sich von ihr ab, fingen an zu schreien. Ihr wurde Angst und Bange, doch nichts und niemand in diesem Raum vermochte das Schauspiel aufzuhalten, welches sich ihnen nun bot. Langsam, wie in Zeitlupe und doch viel zu schnell, fiel mächtiges Grün auf grauen Boden. Die Farben, die Stimmen und der Raum explodierten um sie herum. Sie wollte rennen, doch ihre Füße bewegten sich nicht. Sie wollte schwimmen, doch sie wusste nicht wohin.
Auf dem gefallenen Grün stand nun eine Frau. Es blitzte - ihre Blicken trafen sich. In ihren Augen spiegelte sich alles um sie herum, alle Töne und Farben konzentriert auf einen Punkt. Schlussendlich sah sie sich selbst in ihren Augen, ihr verängstigtes, verlorenes Selbst. Die Frau schrie. Sie Schrie, schrie sie an, doch sie konnte die Frau nicht verstehen. Die Worte erreichten sie nicht, als wäre eine unsichtbare Wand zwischen ihnen, welche klare Worte in dumpfes Brummen verwandelte. "Ich verstehe sie nicht, kommen sie doch näher heran, bitte!, schrie sie nun selbst. Doch entweder verstand die Frau sie auch nicht oder sie wollte sie nicht verstehen, denn sie schrie nur selbst weiter. Melina drohte zu explodieren, das Dröhnen ihrer Worte, den Spiegel ihres Blickes konnte sie nicht länger ertragen. Ihr ganzer Körper stand schockstill dar, gehorchte ihr längst nicht mehr. Endlich wandte die Frau den Blick ab, schrie noch ein letztes Wort und rannte dann dem Licht am Ende des Tunnels entgegen. Erstaunlicherweise konnte Melina sich wieder bewegen. Doch es war zu spät. Ihr Körper löste sich bereits wie alles um sie herum auf. Sie würde ihr perfektes Geschenk niemals bekommen, nur ihr Schlüssel bleib zurück.
Kinder und Frauen schrien, Menschen stürmten eiligst an ihr vorbei in Richtung Ausgang. "Bitte bewahren sie Ruhe und verlassen sie geordnet das Gebäude.",sagte eine monotone Stimme aus dem Lautsprecher. Schon wieder hatte sie kostbare Zeit verloren. Wenn sie die Kirche noch rechtzeitig erreichen wollte, musste sie rennen, dachte sie verärgert und drängte sich mit den Anderen in die Drehtür. Dieses Mal stand sie am äußeren Rand, doch sie spürte den Blick des Weihnachtsmannes im Drehkreuz. Ohne sich umzudrehen wusste sie es. Er lächelte.

degrado

Die Glocken läuteten. Ihr Klang drang vom Kirchturm herab, füllte alles in seinem Umkreis. Der Beginn von etwas altem wurde eingeläutet, was doch jedes Jahr neu ist. Melina hatte es noch rechtzeitig geschafft, die Kirche zu erreichen. Einige Menschen rauchten, andere schienen auf jemanden zu warten. Wo war ihre Familie? Wahrscheinlich würden sie wie immer alle erst im letzten Moment ankommen, dachte sie. Der Zeiger der Kirchturmuhr verriet ihr, dass der Gottesdienst sehr bald anfangen würde. Auf den Dachzinnen der Kirche schwebten drei Engel, doch ihr Weiß war im Laufe der Zeit grau geworden. Die Sonne war bereits untergegangen. Sie sah keinen Mond und keine Sterne am Himmel. Der Himmel über Berlin, war grau.

Die Kirche selbst war Ockerfarben und für eine Kirche eher bescheiden gehalten. Sie wirkte nicht pompös, wie berühmte Kirchen in Reiseführern. Trotz dessen mochte sie diese Kirche, ohne Worte dafür zu finden. Ihre Eltern, ihre Großeltern und sie selbst kamen jedes Jahr einmal an diesen Ort: An diesem einen Tag. An Weihnachten war die Kirche stets überfüllt, oft hatten sie stehen müssen, weil alle Sitzplätze schon besetzt waren. Als Kind hatte sie geglaubt die Kirche wäre jeden Tag ähnlich, aber Freunde hatten ihr erzählt, das an einem normalen Sonntag kaum und nur alte Leute in der Kirche waren. Der Platz vor der Kirche leerte sich. Die meisten Menschen saßen bereits in der warmen Kirche. Ihr war kalt.

Der schwarze Mercedes ihres Vaters glitt an ihrem Auge vorbei. Sie winkte, doch niemand winkte zurück. Wahrscheinlich suchte er gerade einen Parkplatz und bemerkte sie deshalb nicht, hoffte sie ein wenig traurig. Endlich hielt der Mercedes in einer Seitenstraße zwischen einem Lkw und einem Smart. Sie freute sich immer, Opa und Oma zu sehen, denn sie sah die Beiden nur zwei mal im Jahr: an Weinachten und in den Sommerferien. Ihr Vater war der Erste, der die Tür öffnete und ausstieg. Sein Blick fixierte irgendeinen Punkt am Horizont, seine Stirn lag in Falten. Er war mal wieder in einer anderen Welt, dachte sie und lief ihm entgegen. Auch ihre Mutter trat jetzt aus dem Auto, während er den Kofferraum öffnete. "Hey Mama, das seid ihr ja endlich. Ich warte schon ewig auf euch“, rief sie absichtlich so enttäuscht wie möglich und machte einen Schmollmund. " Ihre Mutter umarmte sie kurz und sagte dann tonlos: "Hallo Kind, dein Vater hielt es nicht für nötig sich zu beeilen, deswegen sind wir erst jetzt hier." "Hätte deine Mutter nicht eine Ewigkeit vor dem Spiegel verbracht, wären wir ohne Probleme pünktlich hier gewesen. Warum stehst du hier draußen rum, anstatt uns drinnen Plätze frei zu halten.", sagte ihr Vater genervt. "T-tut mir leid ich...",stammelte Melina und wechselte dann lieber das Thema, weil sie wusste das er sie sowieso nicht verstehen würde. "Wo sind eigentlich Oma und Opa? Kommen sie mit der Bahn?" "Jedes Jahr das gleiche mit ihr...",grummelte ihr Vater vor sich hin. "Sie können dieses Jahr leider nicht kommen, weil sie eine Urlaubsreise nach Ibiza gewonnen haben. Haben sie dir nicht Bescheid gesagt?", sprach ihre Mutter bemüht neutral. Melina war den Tränen nahe; konnte sich Weihnachten ohne Oma und Opa, allein mit ihren Eltern, nicht vorstellen. "Sie haben mir gar nichts gesagt. Ihr lügt doch! Ihr wollt sie nicht bei uns haben!", schrie sie. "Ruhe Melina, oder willst du dieses Jahr kein Auto bekommen? Lasst uns jetzt endlich reingehen!“,sagte er drohend. Wütend funkelten sich ihre Augenpaare an, bis sie seinem Blick nicht mehr standhalten konnte und zu Boden blickte.
Schweigend folgte sie ihren Eltern in die Kirche hinein. Im Vorraum führten links und rechts zwei Treppen nach oben, vor ihnen lag der Haupteingang. Ihr Vater steuerte direkt auf ihn zu. Nacheinander traten sie durch die große, verzierte Holztür. Der Teppich unter ihnen war rot und verlief direkt weiter zum Altar. An der hintersten Bank lehnte eine Frau mittleren Alters, welche ihnen drei Gesangshefte mit den Worten: "Frohe Weihnachten" in die Hände drückte. "Ihnen auch", sagte Melinas Mutter. Wie zu erwarten, waren alle Sitzplätze belegt und sie stellten sich hinter die letzte Bank auf der linken Seite.

Die Glocken hatten aufgehört zu läuten, der Gottesdienst hatte begonnen. Sie war noch immer sauer auf ihre Eltern und hörte nicht zu, als der Pfarrer zu sprechen begann. Wie konnten Oma und Opa sie nur einfach so wegen einer Urlaubsreise im Stich lassen?!, überlegte sie enttäuscht. Irgendwo rechts von ihnen schrie ein Baby aus vollem Hals. Das Geschrei des Babys mischte sich mit dem Gerede des Pfarrers zu einem Brei aus wortähnlichen Klumpen, die zu dick waren, um ihr Ohr passieren zu können. Die Zeit schien im Schneckentempo zu vergehen. Warum waren sie überhaupt hier? Keiner von ihnen war wirklich gläubig und einem Großteil der heute Anwesenden ging es ähnlich, schätzte sie. Jedes Jahr an Weihnachten gehen die Menschen in die Kirche, doch den Grund dafür haben sie längst vergessen. Sie selbst wusste ihn nicht.

Das Krippenspiel, welches jedes Jahr von freiwilligen Kindern aufgeführt wurde, begann. "Seht nur, das ist der Stern den ich seit einigen Wochen beobachte. Wir müssen uns auf den Weg machen und ihm folgen, denn einer neuer König wird geboren werden", sprach einer der Magier, die später erst zu Königen wurden, mit hoher Stimme. Auch sie suchte nun den diesen Stern, fand ihn Sekunden später an der Decke über dem Altar. Sie drehte sich um; war auf der Suche nach dem Magier. Ihr Vater schrieb irgendetwas auf seinem Smartphone, ihre Mutter blickte geistesabwesend auf den Altar. Bei der Suche würden wohl nicht helfen. Ihr Blick schweifte ziellos durch die oberen Reihen, als ein anderer Magier mit einer ebenso hohen Stimme sprach:"Das ist der Stern von Bethlehem, dem Ort, den wir aufsuchen müssen um den neuen König der Juden zu finden." Er stand mit seinen zwei Mitstreitern in der hinteren rechten Ecke auf den oberen Rängen der Kirche. Hinter ihnen saßen formlose graue Massen, die jene in grün, rot und blau gekleideten Magier anstarrten.

Das Krippenspiel hatte Melina schon immer gemocht. Nicht wegen der Geschichte die erzählt wurde, sondern wegen der Kinder, welche es voller Eifer und Elan vorspielen. Kinder die ihre Eltern stolz machen. Die drei Magier verließen die Ecke und begaben sich auf den Weg nach Bethlehem. Hinter ihr auf dem Altar begann Maria zu sprechen, doch ihre Aufmerksamkeit wurde von einer Person, in der unteren rechten Ecke vor ihr, beansprucht. Voller Staunen blickte sie in die hellbraunen Augen einer Person, dessen Gesicht ihr bekannt vor kam. Die Person, lächelte.
Vor allem ihre Augen lächelten Melina warm und herzlich an. Melinas Wut und Enttäuschung verflossen fast sofort und ein Gefühl der goldenen Freude breitete sich in ihr aus. Die Person breitete die Arme aus, als wollte sie die gesammte Kirche fassen, als würde sie Melina in die Arme nehmen wollen. Schnell befahl sie ihrem Körper zu gehen, doch er gehorchte ihr nicht. Weder Beine noch Arme machten anstalten in Gold zu tauchen. Verzweifelt nahm sie all ihre Kraft zusammen, wandte den Blick für nur eine Sekunde ab, schaffte es einen Schritt nach vorn zu tun. Doch in diesem Moment verschwand die Person und mit ihr alles Gold und alle Herzlichkeit. Noch immer konnte sie sich nicht erinnern, woher sie sie gekannt hatte. Der Boden der Kirche, war grau.
Niemand um Melina herum schien irgendetwas davon bemerkt zu haben. Wie konnten sie das Gold übersehen haben, waren sie alle blind?!, fragte sie sich. Ihre Mutter stupste sie an und sie drehte sich um. Das Krippenspiel war längst zu Ende, auch waren sie am Ende des Gottesdienstes angelangt. Zeit um gemeinsam das "Vaterunser" zu beten. Ihr Vater blickte von seinem Smartphone auf und die Drei falteten ihre Hände um die Worte mit dem Pfarrer zu sprechen. Danach sagte der Pfarrer noch etwas über die weiteren Gottesdienste und wofür die Kollekte am Ausgang bestimmt war. Er beendete den Gottesdienst mit den Worten:"Frohe Weihnachten uns allen." Ihr Vater schien kaum abwarten zu können, setzte sich sofort in Bewegung. "Dein Vater muss heute leider arbeiten, deshalb habe ich mir gedacht das wir dieses Jahr den Weihnachtsabend nicht als Familie feiern. Ich besuche ein paar Freunde, zu denen du gerne mitkommen kannst, wenn du möchtest. Frohe Weihnachten, mein Kind.",wisperte ihre Mutter unsicher. Ihr Vater drehte sich kurz um und dann griff in seine Tasche: "Hier sind die Schlüssel zu deinem neuen Auto. Viel Spaß damit“, brachte er trocken hervor. Jede Faser ihrer Seele schrie vor Schmerz; sie blickte ihre Eltern an, öffnete den Mund, doch fand kein einziges Wort, um das zu beschreiben was gerade in ihr vorging. Alles um sie herum verschwamm – stürmisch verließ sie die Kirche, ohne sich noch einmal umzudrehen.

felina

Melina war den ganzen Weg nach Hause blind und taub gerannt. Alles war schwarz, keine Muster und Farben waren zu sehen, keine lauten oder leisen Töne zu hören. Etwas drückte in ihrer Hosentasche. Sie nahm es in die Hand, fühlte das kalte Metall des Autoschlüssels auf ihrer Haut. Plötzlich regneten kalte Flocken auf ihren Körper herab. Sie öffnete die Augen und blickte nach oben. Weiß, Unmengen von Weiß, schneiten vom grauen Himmel über Berlin. Weiß bedeckte den grauen Stein, bedeckte den vom Schneeräumen übrig gebliebenen Matsch, bedeckte die kargen Bäume und Häuser. Ein Meer aus Weiß, ähnlich dem, welches sie heute im Park gesehen hatte. Doch diesmal stand sie mitten drin. Schnee legte sich auf ihre Schultern und Schuhe, blaue Tränen liefen über ihr rotes Gesicht. Links neben ihr befand sich das Haus ihrer Eltern, ihr Zuhause. Melina blickte hoch zu den schwarzen Fenstern, aus denen kein Licht drang. Allein der Gedanke dort hochzugehen machte sie unsagbar traurig. Hilflos blickte sie nach rechts auf das verlassene Gelände und ihr Herz schlug schneller, als sie die drei Personen erblickte. Sie standen unter einer Lichtung. Der Mann von der Straße, die Frau aus dem Kaufhaus und die Person aus der Kirche; jeden von ihnen erkannte sie sofort. Sie winkten ihr zu, winkten sie zu sich heran. Das schwarze Meer teilte sich, ließ einen Weg entstehen der gerade breit genug war um hindurch zu gehen.
Geschwind lief sie zu ihrem Auto, welches vor dem Haus ihrer Eltern parkte und steckte den Schlüssel in das Schloss. Mit einem Klicken entriegelten sich die Türen, sogleich hechtete sie hinein. Mit einem Brummen erwachte der Wagen zum Leben. So schnell wie möglich parkte sie aus - trat danach sofort aufs Gaspedal. Die Lichtung hatte sie binnen Sekunden erreicht, die Bremsen durchgedrückt schlitterte der Wagen über den vereisten Boden und blieb dann ein wenig abseits stehen. Melina öffnete die Tür, sprang aus dem Auto, rannte auf die Drei zu.

"Du hättest dich nicht beeilen brauchen Melina. Wir hätten in jedem Fall auf dich gewartet", sagten die hellbraunen Augen mit einer warmen Stimme. "Woher kennen sie meinen Namen?" "Mein stummer Freund hier, hat ihn mir verraten." Die Augen, deren alles absorbierende Dunkelheit sie schon vorher fasziniert hatte, blickten nun in ihre. Sie suchte, suchte nach etwas in ihnen, doch was sie fand, war nichts. Wieder nahm er seinen Hut und verbeugte sich vor ihr. "Wie ich höre, habt ihr euch bereits kennen gelernt. Er weiß viele Geschichten zu erzählen, aber ich kann dir nicht sagen, ob es Geschichten sind die du hören willst Melina. Trotzdem ist er ein Teil unserer Gruppe", fügten die hellbraunen Augen aufmerksam hinzu.
Sie blickte von dem Mann herüber zu der Frau mit den spiegelnden Augen. Ihr ganzer Körper schien transparent, nahm die Farbe der Umgebung an: Weiß. Wieder blickte sie in ihre Augen und sah darin sich selbst. Melinas jetziges selbst blickte ihr erwartungsvoll aus blauen Augen entgegen. Zu ihm mischte sich das Gold der hellbraunen Augen. Die Person legte ihr die Hand auf die Schulter und flüsterte: "Auch meine unbekannte Freundin kennst du schon." Die Frau begann zu reden, doch sie hörte wieder nur ein Dröhnen. "Warum kann ich nicht verstehen was sie sagt?, fragte sie verständnislos. "Kein Mensch kann sie verstehen. Wenn du dazu in der Lage wärst, würdest du dich von ihr abwenden Melina", erklärte die Person weise. "Was soll ich jetzt tun?" "Nur das was du tun möchtest."

Gemeinsam gingen sie zu ihrem neuen Auto und entzündeten es mit einer Fackel. Flammen züngelten Meter hoch über ihnen, erleuchteten die Welt mit ihrem Orange, ihrem Gelb und Rot. "Wunderschön...", murmelte Melina. Wieder breitete die Person ihre Arme aus. Sofort fasste Melina ihre rechte, die Frau ihre linke Hand. Auch der stumme Mann kam hinzu und ergriff ihre anderen beiden Hände. In den Augen der Frau sah sie nun das Feuer, wie es hell über ihnen brannte, das Feuer welches sie selbst entfacht hatte, das Feuer was auf sie übergesprungen war. Es mischte sich mit Gold, Hellbraun und Nichts zu einem einzigartigem Ton, dessen Klang sie sich immer schon bewusst gewesen war, den sie aber noch nie in dieser Klarheit gehört hatte.

So standen sie dort, Hand in Hand, bis das Feuer erloschen war. "Ich denke, es ist Zeit zu gehen Melina.",sagte die Person behutsam. "Ich habe keinen Ort, an den heimkehren kann.",erwiderte sie, sich der schmerzlichen Erinnerung wieder bewusst werdend. "Dein Zuhause, deine Familie, das ist ein Ort, an den du gehen kannst. Ich denke nicht, dass du schon bereit für die Geschichten meines stummen Freundes bist, aber ich lasse dir trotzdem die Wahl." Die Erinnerung an ihr Feuer, ließ sie letztendlich doch schweren Herzens den Weg nach Hause einschlagen. "Eine Frage habe ich noch: Ich hatte die ganze Zeit das Gefühl dich von irgendwo her zu kennen, aber ich weiß noch immer nicht wer du bist." "Die Antwort darauf kennst du Melina." Endlich klärte sich das Bild auf und sie glaubte daran die Antwort zu kennen. "Frohe Weihnachten Melina", sagte die Person und die drei Augenpaare trafen ein letztes Mal auf ihre.

Durch das Gebüsch sprang ein Hase. Sie blickte in die Höhe und querte die Straße. Der Mond und zahllose Sterne schienen klar in dunkler Ferne über Berlin. Es raubte ihr den Atem, gab ihr Vertrauen - Minutenlang ließ sie ihren Blick ruhen. Besinnliche, grüne Töne spielten ihr Lied, dem sie bis zum Ende lauschte.
Die Fenster ihres Hauses waren von Kerzenschein erleuchtet. Ein Schein, der sie hoffen ließ. Obwohl sich der Hausschlüssel in ihrer Tasche befand, klingelte sie. Die Tür öffnete sich. Vor ihr tauchten Mutter, Vater, Oma und Opa auf und riefen im Chor: "Frohe Weihnachten." Wie oft hatte sie diese Worte heute schon gehört? Ihre "wahrhafte" Bedeutung verstand sie auch jetzt nicht. Wahrscheinlich würde sie diese auch niemals finden, doch sie glaubte einen Sinn für sich selbst entdeckt zu haben.
Melina griff ihre Schneeflocke, öffnete ihre Hand und ließ sie fliegen. Ihre Nummer war 36.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
eine

nette geschichte. aber der absatz . . . Gemeinsam gingen sie zu ihrem neuen Auto und entzündeten es . . . verwirrt ein wenig.
lg
 



 
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