Der Weihnachtsversuch

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Der Weihnachtsversuch
Sie kam nicht drum herum, sie musste daran vorbei. Das war eben der Weg zur U-Bahn. Wenn doch nur die Taschen nicht so schwer wären! Die Henkel schnitten in ihre kaltschmerzenden Finger. Ab und zu blieb sie stehen, setzte die Taschen ab. Alles hatte sein Gewicht: Die Bücher für Johanna, natürlich Krimis, etwas anderes las sie ja nicht, als ob es noch nicht genug Verbrechen gäbe in der Welt, etwas Elektronisches für Jens, er hatte es aufschreiben müssen, es war etwas gegen die Kabel in der Wohnung, der Verkäufer, den sie sich richtig erwartete, denn er hatte viel zu tun mit anderen Kunden, die einfach schneller waren, lächelte karg, als sie ihm den zerknitterten Zettel zeigte, und dann die Geschenke für die Kinder, so einen Mann im Ohr, Janina wird nun auch schwerhörig sein, nicht anders als die kessen Mädchen in der Bahn, die entweder mit dem Handy fummelten oder den Musikern Befehle gaben, und nichts wahrnahmen von der wirklichen Welt, und Jonathans Spielzeug, Konsole heißt das, Oma, Konsole, und nach den Auspacken würde er schnell in sein Zimmer verschwinden, aus dem man dann nur noch Schüsse hörte… Sie nahm die Taschen wieder auf. Zu dem Fleisch fürs Fondue hätte sie nicht auch noch Kekse backen sollen. Sie rieb sich die Hände, blies warm hinein und nahm die Taschen wieder auf.
Kein Mensch war hier unterwegs am Heiligen Abend. In den Pfützen spiegelten sich die Glaspyramiden. Plötzlich waren die Worte in ihrem Kopf: „Markt und Straßen stehn verlassen, still erleuchtet jedes Haus.“ Hier war kein Fenster erleuchtet. Die Wirtschaftskrieger waren alle daheim bei ihren Familien oder auch nicht. Jetzt machten sie kein Geld mehr. Waffenstillstand. Hier und da verschwendete sich ein großmächtiges erleuchtetes Firmenschild. Himmelhoch türmten sich die gläsernen Wände, die aber keinen Einblick zuließen. Fenster sind die Augen der Häuser. Diese tausend Augen waren blind. Sie wunderte sich über ihre Gedanken. Aber sie liefen ihr einfach davon, sie liefen vor ihr her die leere Straße entlang.
„Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht…“ Sie konnte nicht sagen, woher ihr diese Worte kamen, auf einmal waren sie da. Und Maria wich den Pfützen aus, und sie war schwanger. Sie folgte müde dem verzweifelnden Joseph, der mit seinem knotigen Stock zu jedem Eingang stiefelte, erst mit knochigen Knöcheln klopfte, dann mit seinem Stecken hämmerte, aber niemand machte auf. Hier öffnete niemand eine Tür. In diesen stillen Straßen gab es noch nicht einmal einen Stall und eine Krippe, das Kind zu betten. Hier gab es nur Banken und Versicherungen, Holdings und Handelsgesellschaften. Sie wird heute niederkommen müssen auf den kalten Marmorplatten vor der vielflügligen Glastür einer Versicherung. Vielleicht ist es ja eine Lebensversicherung. Gottvater hat Humor, sonst hätte er sich nicht ein kleines Volk von Schaf- und Ziegenhirten erwählt.
Sie setzte wieder ihre lastenden Taschen ab und holte tief Luft. Was für ein Widerspruch, diese Geschichte vom Stall, dem Kind in der Krippe, den dunklen Hirten auf dem Felde, und diese Welt hier aus Glaspalästen und GmbH und Co KG. Aber vielleicht ging es ja darum an diesem Tag. Römische Krieger mit Schilden und Speeren gab es nicht mehr und keinen Augustus im fernen Rom. Aber die Soldaten waren nicht einfach verschwunden, sie hatten nur ihre Rüstung abgelegt und kleideten sich jetzt in Schlips und Kragen. Denn immer noch ging es ums Geld, um die Macht, und sie waren näher daran, die Welt zu beherrschen als je zuvor. Und erschlugen sie keine Menschen mehr? Ihre Spieße und Schwerter waren Dateien und Bildschirme, oder auch Minen, Panzer und Flugzeuge, doch diese eben nicht hier, sondern weit draußen. Brachten sie denn nicht immer noch Menschen um Lohn und Brot, um Haus und Hof? Starb denn niemand mehr in Kriegen, die er nicht verstand?
Jetzt hatte sie es nicht mehr weit. Da hinten sah sie schon das warm und weiß strahlende U auf blauem Grund, blau wie der Mantel der Maria. Mit klammen Fingern griff sie nach ihrem Taschen. In der fast leeren U-Bahn setzte sie sich dem jungen Paar gegenüber. Er hatte einen Arm um sie gelegt. Sie trug ein Kopftuch. Ihre Hände lagen auf dem gewölbten Bauch.
Sie konnte nicht verstehen, was er sagte, aber sie verstand. Weihnachten war ein jährlich wiederkehrender Versuch. Das Licht um das kleine Kind müht sich Jahr um Jahr, die Finsternis zu erhellen. Wir brauchen den Frieden. Wir brauchen eine andere Ordnung in der Welt, wir brauchen sie bald.
Angekommen bei den Kindern, wunderte sie sich sehr. Niemand widersprach, als sie den Weihnachtsversuch wagte. Sie zündete die Kerze vor der Krippe aus dem Erzgebirge an, die Johanna tatsächlich aufgebaut hatte. Voriges Jahr schien sie sich gar nicht darüber zu freuen, als sie die Figuren aus dem Seidenpapier wickelte. Aber jetzt war sie aufgebaut auf der grünen Weihnachtsdecke unter dem Christbaum, wo sonst immer die Pakete lockten. Es schien, als wäre sie die wirkliche Bescherung. Niemand protestierte, als sie den Fernseher ausschaltete, in dem ein Kinderchor „White Christmas“ sang, wie schon fünf Wochen lang im Kaufhaus. Johanna löschte das große Licht. Die Kerze vor der Krippe strahlte, als sei sie der Stern. Auch Janina und Jonathan sagten kein Wort, sondern saßen still am Tisch, als sie die Weihnachtsgeschichte las. Nein, sie las sie nicht. Eine Bibel war nicht im Haus. Sie trug sie vor, aus dem Kopf, in den ihre Lehrerin sie vor Jahrzehnten eingegraben hatte, und sie fand jedes einzelne Wort: „Es begab sich aber zu der Zeit…“
Weil ihre Augen nicht an den Buchstaben klebten, konnte sie der Familie am Tisch in die Augen sehen. Bei dem „Fürchtet euch nicht“ blickten alle vier auf, als hätten sie es gehört, und als es hieß „Friede auf Erden“, schien Jens aufzuatmen.
Als die wundersame Geschichte verklungen war, blieb es noch eine Weile still. Dann wurden die Kinder hinausgeschickt. So war es üblich in jedem Jahr. Jens suchte sein Feuerzeug in der Tasche, ging zum Baum, um die Kerzen anzuzünden. Johanna kniete vor dem Wohnzimmerschrank und holte die bunten Päckchen hervor, baute sie neben der Krippe auf, links für Janina, rechts für Jonathan. Licht um Licht flammte darüber auf, machte den Raum warm, wie er nur zu Weihnachten sein kann. Danach nahm Johanna die kleine Porzellanglocke aus dem Regal, mit der die Kinder gerufen werden sollten.
Als Jens von dem Baum zurücktrat, sagte er leise: „Ab März habe ich keine Arbeit mehr.“ Da stand sie auf und nahm ihn in ihre Arme, sie die alte Frau den erwachsenen Mann, und sie antwortete ihm mit ebenso verhaltener Stimme: „Du hast es doch gehört: Fürchtet euch nicht und Friede auf Erden.“ Sie bückte sich und hob die kleine Krippe hoch, in der das Kind lag: „Schau, es liegt nur in einer Futterkrippe, denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge.“
Johanna fasste nach der Hand ihres Mannes, drückte sie und sagte fest und bestimmt: „Sie werden verlieren. Sie haben nicht mit dem Kind gerechnet.“
 



 
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