Der Weißfleck

Der 54-Zoll-Bildschirm reagierte - die alte Autoexce griff.
Die Sprechanlage fiepte.
Warten, immer wieder warten, dachte er. Es war genau 7 Sekunden vor Sechs. Die Luft war stickig. Kleine Schweißperlen standen auf seiner Stirn.
Seinen Job fand Behaim soweit ganz in Ordnung, aber diese Pünktlichkeit schaffte ihn immer wieder. Jede angefangene Übersekunde wurde vom Computer peinlich genau registriert. Wer am Jahresende mehr als den Schnitt auf seinem Konto stehen hatte, war fällig. Zwar wusste keiner, was der Schnitt war und was dann geschah, aber er hatte Fantasie, und was man so hörte, genügte, das ungeschriebene Gesetz, mit jemanden offen darüber zu reden, nicht zu verletzten.
Behaim griff mit der Linken an seinem Orgonom hinunter, der seit diesem Jahr zur Standardausrüstung eines Normalgleichen gehörte, drückte, ohne hinzuschauen, den Knopf und genoss, wie er elegant und pneumatisch in die richtige Arbeitsposition gebracht wurde.
Nun kam aber erst der eigentliche Höhepunkt und er versuchte ihn immer wieder hinauszuzögern - diesen ersten, jungfräulichen Blick des Tages auf sein Werk.

Mit routinierter Gelassenheit flüsterte er seine Anweisungen ins Mikro: "Friso, Kai 141 bitte!" In Bruchteilen von Sekunden sah er, wie ein Schiffskoloss festmachte. Gerade noch rechtzeitig reagiert. Behaim lächelte in sich hinein und stellte einmal mehr fest, dass er die Chose immer noch im Griff hatte.
Doch Behaim war nicht ganz bei der Sache.
Vor genau 27 Jahren, als er noch wissenschaftlich arbeitete - er galt damals als einer der hoffnungsvollsten Köpfe im Team von Prof. Seeler - wurde das Hauptaugenmerk noch auf das ökonomisch Machbare gelegt. Spinnereien konnte man nur im privaten Kreis diskutieren.
Seeler hatte aber einen Narren an ihm gefressen und so diskutieren sie die wildesten Theorien. Zur absoluten Lieblingsvorstellung von Seeler gehörte die Problemstellung der "prophylaktischen Substanz". Durch virtuelle Abschirmung wollte Seeler Materie unsichtbar erscheinen lassen.
Das Alltagsgeschäft damals bestand darin, das weltweit verfügbare kartographische Material aufzubereiten und das Überwachungssystem "Auge", ein Steuerungs- und Leitsystem, zu entwickeln und zu installieren. Mit diesem System wurde es möglich, jeden Quadratmillimeter, egal wo auf der Erde, über einen Monitor zu kontrollieren.
Als dann Seeler wegging, war die wissenschaftliche Karriere Behaims sehr schnell zu Ende, da er weder genügend Ergeiz entwickelte, noch den ausgemachten Intrigen der jungen Nachrücker standhalten konnte. Er zog die sanfte Art, das unaufhaltsame Nachrücken und die praktische Arbeit, dem unsteten Leben eines Wissenschaftlers vor.
Kurz vor Feierabend bekam er eine Direktive auf den Bildschirm, die ihm gefiel. Er sollte in das Leitungsteam der Abteilung Energie aufgenommen werden. Da dies mit einer Beförderung verbunden war, konnte es Behaim kaum erwarten, seinen neuen Job anzutreten. So kurz vor Ladenschluss noch befördert zu werden stimmte Behaim versöhnlich, da er schon seit Jahren nicht mehr berücksichtigt wurde, und die damit verbunden Demütigungen kamen ihm nur noch wie ein marginaler Schönheitsfehler vor, die er mit einem Augenzwinkern wegsteckte.
Viel interessanter, als alle Aufstiegsmöglichkeiten, aber waren für Behaim die hinter vorgehaltener Hand angedeuteten Gerüchte: wenn man die Stufe erreicht hatte - es war die Legitimationsstufe 10 - einem ein sogenannter Freiraum zustand. Wenn das tatsächlich zutreffen sollte hätte er die einmalige Chance der Geschichte mit dem Weißfleck endlich auf den Grund zu gehen.
Durch Klimaverschiebungen im Zusammenhang mit einer abrupten Absenkung des Meeresboden hatte eine Springflut ungeheuren Ausmaßes eine ganze Insel in die Tiefe gerissen. Dort, wo die Insel einmal war, leuchtete heute auf dem Monitor ein strahlend weißer Fleck . Ein Provokation für Behaims Forschergeist.
Nach Feierabend, sein Monitor stellte sich automatisch auf Unterhaltung um, wurde die Sendung unterbrochen und die offizielle Bestätigung seiner Beförderung, mit dem Zusatz, sich bis Ende des Monats in New York zu melden, eingeblendet.

Bevor Behaim jedoch seine neue Stelle antrat, musste er ein Wochenend-Seminar in Gesellschaftspolitik absolvieren. Also wieder kein Sightseeing, sondern langweiliges Soziologengelabere.
In einem anonymen Konferenzsaal tauchten immer wieder dieselben Grauhaarigen in ihren Schweinchenrosa Kitteln auf. Man wurde das Gefühl nicht los, dass alles nur veranstaltet wurde, um denen aus der oberen Etage den Spaß nicht zu verderben.
Doch alle dösten mehr oder weniger vor sich hin, und so lies es sich nicht vermeiden, dass auch Behaims bleierne Augendeckel, wie an imaginären Schnüren gezogen nach unten tendierten.
Plötzlich ging eine Tür an der Frontwand zurück und ein eleganter, graumelierter Mann im leichten Sommeranzug stand vor dem Auditorium. Behaim war perplex und wie paralysiert. Das alte Sesam-öffne-dich-Spiel hatte seine Wirkung nicht verfehlt.
Die ganze Art und der Gestus lies Behaim zu der Erkenntnis kommen, dass das kein Gewöhnlicher sein konnte, und wie zur Bestätigung bemerkte er den unauffälligen schwarzen Winkel an seinem Revers. Das war das Zeichen der obersten politischen Führung. Der Graumelierte räusperte sich kurz, wartete lange und legte dann, ohne seinen Namen zu nennen, mit Rasiermesserscharfer Stimme los: " Da Sie nun mit Leg 10 ausgestattet wurden, gehören sie zur aufstrebenden Mittelstruktur. Erlauben Sie mir deshalb, ein paar abschließende Ausführungen zum Verhaltenskodex für die New Yorker Zentrale zu falsifizieren, die Sie ab nächsten Monat repräsentieren."
Der Vortrag war noch langweiliger, weil niemand auch nur annährend den Direktiven folgen konnte.
Dann, kurz vor Ende der Veranstaltung, blickte er Behaim direkt an und fragte: "Gibt es hier jemanden der Behaim heißt?" Ein Zucken im Nacken, die Gesichtsmuskeln gefroren - lautlose Stille krachte durch den Raum. Behaim stand vorsichtig auf, sein Knie schlug gegen den Tisch, und nahm unwillkürlich Haltung an: "Ja, Sir, hier!" "Sie melden sich in einer Stunde bei mir!"

Mit schlottrigen Knien fuhr er mit dem gläsernen Lift in schwindelige Höhen. Was war passiert, was hatte das zu bedeuten? Hing das mit den verdammten Übersekunden zusammen, die er sich eingefangen hatte?
Als Behaim den Aufzug verlies blendete das allgegenwärtige Weiß wie ein nackter Tausend-Watt-Scheinwerfer. Orientierungslos lies er sich von einem Aufpasser durch ein Labyrinth von Gängen führen. Eine Metall-Schleuse öffnete sich, der Aufpasser verschwand und die Schleuse schloss wieder.
Ein hohes, unangenehmes Sirren schreckte ihn sichtlich, die Tür schlug zurück, der Sicherheitskordon löste sich und Behaim wurde in ein Zimmer gespuckt.
Ein Hand tippte ihm auf die Schulter. Behaim drehte sich so heftig um, dass er ins schwanken geriet und sich instinktiv festhielt.
"Aber, aber, mein lieber Behaim, nicht so stürmisch!"
Er hob seinen Kopf und sah den Graumelierten ungläubig an. "Sie,..sie", stammelte er. "Ja, ja, Behaim, ich bin's", grinste und kniff ihm die Wangen, "ich bin's, dein guter alter Seeler." Mit kuhblödem Blick starrte ihn Behaim an.
"Weißt du, als ich die Namensliste gelesen habe, stach mir dein Name gleich mächtig in die Augen und alles war wieder da. Unsere fetzigen Diskussionen, die spleenigen Ideen - herrlich."
Seeler zog Behaim zu den Sesseln rüber, griff eine Flasche Wein, entkorkte sie und goss ein. "Zum Wohl" rief er übermütig in die Runde, die Gläser schepperten, .. "und keine Angst, hier gibt es keine Monitore, hier kannst du reden, wie dir der Schnabel gewachsen ist." - "Sie, äh, du bist doch jetzt ein hohes Tier, oder?", versuchte es Behaim. - "Lass den Quatsch, und lass uns von früher reden. Wie lange ist das jetzt her, 10 Jahre - länger?"
Behaim hatte sich wieder ein wenig berappelt, griff zum Glas, deutete ein Nicken an, stellte den Kopf schräg und fragte noch ein wenig unterwürfig: "Sag mal, was ist denn eigentlich aus deinem Projekt geworden?"
"Welches Projekt meinst du?", entgegnete Seeler. - "Ach, du meinst sicher das olle Schutzschildprojekt? "Aber warum habe ich nie etwas davon mitgekriegt", brummelte Behaim ein wenig enttäuscht. "Kannst du auch nicht, war streng geheim, kannst dir doch denken".
"Also, erinnerst du dich noch an die Meldung im Zusammenhang mit dieser unseligen Klimakatastrophe? Das war ne billige Zeitungsente, damals habe ich alles unter ganz realen Bedingungen erprobt." "Das gibt's doch nicht!", rutscht es Behaim raus, "das ist doch die Weißfleckgeschichte, die ich..." , brach aber ab. "Was ist.. die ich?" hakte Seeler nach. "Ach, weißt du, ich hatte mir das so schön vorgestellt, ich, ich wollte das in den Griff kriegen, dieser Weißfleck hat mich immer geärgert."
"Aber wenn das ´ne Ente war, was soll dann der ganze Quatsch?"
Seeler sah ihn lange scharf an, fuhr sich dann noch einmal mit der Zunge über die Lippen und flüsterte fast: "Das bleibt aber unter uns, was ich dir jetzt erzähle - klar!" "Klar!"
"Weißt du, die ganzen Milliarden, die dieses Projekt verschlungen haben, werden nur für einen Zweck verwendet. Ich weiß gar nicht, wie ich es dir erklären soll, vielleicht", eine lange Pause folgte, "...diese Insel wird unter uns "der Puff" genannt, weil dort Chargen meines Kalibers ungeniert ihre Perversionen ausleben können. Am besten stellst du dir alles.. wie, .. du, kennst doch den Film von dem... Pasolini, ich meine die "120 Tage von Sodom", so musst du dir das vorstellen."
 



 
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