Der Winzling und der Riese

Der Winzling und der Riese

Wer kennt die Bewohner des grauen Wohnturmes? Vom flüchtigen Sehen vielleicht schon, aber mit dem Namen kennen sie einander meist nicht einmal. So wundert es nicht, dass ein Mann fast unbemerkt mit seinen beiden Söhnen dort lebte. Die Mutter der Zwillinge war bei der Geburt leider von dieser Welt gegangen. Wäre sie noch hier gewesen, es wäre wohl einiges anders geschehen.
Tagein und tagaus ging dieser Herr seiner Arbeit redlich nach und die Söhne mussten die Schulbank drücken. Es sollte etwas Gescheites aus ihnen werden. Der eine sollte stark wie ein Bär werden, um mit kräftigen Händen ein Handwerk zu verrichten. Der andere seinen Geist schärfen und studieren. So würde wohl immer Geld im Hause sein, jedweder wirtschaftlichen Not getrotzt und für ein solides Auskommen gesorgt sein. Aber bis dahin musste das knappe Einkommen des Vaters geschickt eingeteilt und wohlüberlegt ausgegeben werden.
Die Zeit verging und die beiden Knaben kamen in das Rauf- und Rüpelalter. Ihre Körper formten sich langsam. Die Schultern wurden breiter, die Arme kräftiger. Der Herr im Hause beobachtete es mit Sorge. Sein Geld reichte hinten und vorne nicht, um beide gleich gut zu ernähren. Guter Rat war teuer. So nahmen sie alles mit, was Mutter Natur an essbaren Geschenken hergab. Mal waren es Beeren aus Wald und Flur, Kartoffeln vom Feld oder ein gefangenes Täubchen. Aber so sehr sich jeder Mühe gab und auch an den anderen dachte, ihr Leben verlief sehr bescheiden und einfach.
Als eines Tages die beiden Söhne vom Bärlauch-Sammeln wieder heimkamen, hatte es der eine so richtig satt und er wurde traurig. Ihm trat das Wasser in die Augen. „Was hast du?“, fragte der andere. „Ich bin traurig darüber, dass Vater zum Mittag immer die Fleischportionen dir gegeben hat und ich nur zusehen durfte. Genützt hat es dennoch nichts. Du bist klein geblieben!“ „Siehst du nicht, wie groß ich geworden bin? Ich bin stolze ein Meter sechzig, ein Riese und stark wie ein Bär, so wie es sich Vater immer gewünscht hat.“, sagte der Kleinere zum Größeren. Der Große erwiderte: „Ich bekam immer die Kartoffeln und den Quark auf meinen Teller. Kein Wunder, dass meine Beine krumm sind. Und wenn du mit eins sechzig ein Riese bist, was bin dann ich“ „Großer, du bist mit deinen ein Meter neunzig ein Winzling ohne Muskeln und mit krummen Beinen. Mach dir nichts daraus, dafür bist du ein helles Köpfchen!“
Der Große wurde noch trauriger. Da er aber wirklich ein Schlaukopf war, schlug er seinem kleineren, starken Bruder ein Spiel vor. So meinte er zu ihm: „Dass ich ein Winzling bin, kann ich beweisen. Kannst du mir deine riesigen Kräfte offenbaren? Ich werde in unser Hochhaus gehen und es nicht schaffen, dass meine Füße noch unten am Eingang sind, während ich schon in der obersten Etage zum Fenster herausschaue. Was wirst du tun?“ Der Kleine grübelte lange, denn er war nicht der Hellste. Dennoch hatte er eine Idee, eine gute, wie er meinte. „Neben unserem Zuhause liegt dieser Findling, den die letzte Eiszeit zu uns gebracht hat. Ich werde in ihn hineinkriechen und ihn mit meinen bärigen Kräften zum Bersten bringen. Einverstanden?“ „Einverstanden!“, sprach der große, schlaue Bruder zum kleineren, starken und sie besiegelten die Abmachung mit einem Handschlag.
Der Große ging zum Haus und konnte mit Leichtigkeit beweisen, dass er ein Winzling war. Der Kleine kroch unterdessen in den Stein und verausgabte sich mit all seinen Kräften und schaffte es trotzdem nicht, ihn zum Bersten zu bringen. Noch heute liegt der Fels aus der uralten Zeit vor dem Hochhaus und man sieht nicht einmal einen kleinen Riss darin. Aber am 31. April um Mitternacht wird der Stein-Troll den Jungen erlösen und ihm eine Portion Kartoffeln mit Quark servieren.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
nun,

es ist schwer, zu diesem modernen märchen etwas zu sagen. geschichten, aus denen man keine lehren ziehen kann, sind mehr oder weniger pure luftblasen. diese hier schillert wenigstens ein bisschen.
lg
 



 
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