Der Zeitlauscher - Letzter Teil

Markus Veith

Mitglied
„Klara!!“
Niemals war sein Wunsch, sie in die Arme zu schließen, so groß gewesen wie jetzt. Aber seine Sorge um sie war noch größer. „Klara, du musst fort. Flüchten. Jetzt. Schnell. Sie wollen dich ...“
„Ich weiß.“
Konrad hörte die flimmernde Angst in ihrer Stimme. Er wusste nicht, ob er erleichtert oder erschrocken sein sollte. „Seit gestern verstecke ich mich im Wald. Wie eine Verbrecherin.“
„Was ist passiert?“
„Ein Mann aus der Stadt ist gekommen. Ein Geistlicher. Der Bischof habe ihn gesandt, erzählen die Leute. Meinen Vater haben sie nicht mehr in die Kirche gelassen. ‚Ziehvater des Teufels’ haben sie ihn genannt. Daraufhin schickte er mich fort. Ich solle mich verstecken. Bis sich die erhitzten Gemüter etwas abgekühlt haben.“
Sie begann zu weinen. „Konrad, Vater sagte, dieser Mann sei ein Inquisitor der Kirche.“
Konrad stöhnte leise auf.
„Er stand heute vor unserem Haus“, fuhr Klara fort. „Das ganze Dorf belagerte unsere Schmiede. Ich habe sie von weitem, von der Klippe aus beobachtet. Dieser Mann stand vor der Menge und machte seltsame Gebärden. Und dann ... dann haben sie es angezündet ... Konrad, meine Eltern, meine Geschwister ... Ich weiß nicht, ob sie noch leben. Ich bin nur noch fortgelaufen und habe mich versteckt. Ich kann nicht mehr denken vor Angst.“
Konrad bemerkte, wie ihn Schwäche überfiel. Den ganzen Tag lang war er gerannt. Er klammerte sich mit einem Arm an den Baumstamm, presste die Augen zu und drückte das Gesicht gegen die Rinde. „Du musst von hier weg. Weit weg. So weit wie es nur eben möglich ist.“
Dann war es still. Eine ganze Weile hatte die junge Frau bei dem hüfthohen Eichensprössling gekniet, nichts gesagt, nur geweint. Bis keine Tränen mehr da waren. Und Konrad hockte 476 Jahre später an derselben Stelle. An den breiten Stamm gelehnt, die Stirn gestützt, lauschte er der jungen Frau, die er liebte. Hörte, wie sie weinte, und sah sich unfähig, sie mit seiner Umarmung zu trösten. Was sollte nun werden? Wohin konnte Klara in der damaligen Zeit gehen?
Da näherten sich Stimmen.
Klara japste erschrocken. „Die Dörfler. Sie tragen Fackeln.“
Konrad wurde von Panik gepackt. Er sprang auf. „Verschwinde“, zischte er. „Sie suchen dich. Und sie wissen, dass du dich hier häufig aufhältst. Hoffentlich haben sie dich noch nicht gesehen. Lauf, Klara! Um dein Leben! Lauf!“
„Aber ... Konrad ...“, klang es hilflos.
„Verdammt, Klara! Bitte! Lauf!“
Konrad ballte die Fäuste. Am liebsten hätte er sich seine Geliebte unter die Arme geklemmt und wäre mit ihr fortgerannt, hätte sie vorwärtsgeschubst, sie mit sich gerissen, sie in seine Zeit gezogen. Aber er konnte nur vorauslaufen. „Komm!!“ brüllte er und hörte, wie ihre hastigen Schritte an ihm vorübereilten.
Sie rannten. Aber wohin jetzt? Wohin damals? Wohin nur? Wohin? Bei jedem Atemzug rammte die Frage in Konrads Herz. Verdammt, wohin? Seine vom stundenlangen Laufen geschwächten Beine rebellierten. Er stolperte über die unebenen nachtdunklen Feldwege. Strauchelte. Fiel hin. Sprang wieder auf. Lief weiter. Seine Lungen streikten. Stiche in seiner Seite. Er konnte nicht mehr.
„Lauf weg, Klara! Weit weg! Irgendwo hin! Versteck dich!“
„Aber ich kann doch nicht ohne dich ...“
Er hörte Klaras hin und her gerissenes Wimmern.
„Renn! Du sollst rennen, hörst du?“ unterbrach er brüllend ihre verzweifelte Stimme. „Lauf nach Norden. Immer nach Norden. Du musst verschwinden! Das schaffst du! Hau ab, Klara! Herrgott, ich liebe dich, also verschwinde jetzt!“
Sie hatte sich umgewandt, noch einen Augenblick verharrt. „Adieu, Konrad. Ich liebe dich auch.“ Dann entfernten sie sich raschelnd.
Der junge Mann stand gebeugt auf dem dunklen Feldweg, die Hände auf die Knie gestützt, japsend, die Zähne zusammengepresst, die Augen zugekniffen.
Sie näherten sich.
Geräusche, Schritte und Stimmen eines zu allem entschlossenen Mobs voller Hass und Mordlust.
„Verbrennt sie!“
„Sie war hier ... nicht lange her!“
„Irgendwo muß sie sein!“
„Satan schützt diese Hexe!“
Sie kamen näher. Immer näher.
„Sie ist fort. Sie hat sich fortgezaubert!“
„Verbrennt sie! Verbrennt sie!“
In Konrads Kopf begann es wieder zu knirschen und zu knarren. Wie damals im Kolosseum. Aber das konnte nicht sein. Seine Barrieren waren unten, sein Zeitsinn auf Empfang. Etwas anderes drohte da in seinem Gehirn zu bersten. Der Zeitlauscher kümmerte sich nicht darum. Seine Wut überflutete sämtliche Emotionen, schob Bedenken beiseite, brodelte wie ein überhitzter Kessel, krachte, schäumte, brach sich frei.
Konrad richtete sich auf. Drehte sich um. Hielt die Augen geschlossen. Er glaubte, den Geruch der rußenden Fackeln riechen, glaubte, sie alle sehen zu können.
„HEXE! VERBRENNT DIESE HEXE!“
Grimmige Gesichter, von dummen Gedanken entstellt. Heugabeln. Messer. Fackeln. Holzprügel. Rot-schwarze, tanzende Schatten über den Feldern.
„Ich kann sie sehen!! Dort läuft sie! Schnappt sie euch!!“
Konrads Zorn siedete. Abgrundtief riss er alle Seele aus seinem Hass, alle Luft aus seinen Lungen und schmetterte sie in die Zeit, brüllte den gestauten Zorn in die Nacht und hielt erst inne, als er keine Luft mehr in sich hatte.
„NEIN!!!“
Konrad sackte in die Knie.
Er horchte.
Es war still. Nur Fackelknistern.
Schrecksekunden verstrichen.
Dann unterdrücktes Flüstern.
„Der Herr stehe uns bei.“
„Das war ER.“
Wind kam auf. Die Feuer wehrten sich fauchend.
„Verschwindet“, raunte Konrad. Seine Stimme klang wie ein Reibeisen; es schabte sich förmlich in die Vergangenheit. Er hörte, wie viele Dinge fortgeworfen wurden, hörte, wie um ihn herum Angst und Entsetzen aufstöhnte. Eilige Schritte flüchteten zum Dorf zurück.
Immer mehr Füße liefen weg. Dann hörte er, wie die anliegenden, erntereifen, trockenen Felder rings um ihn in Flammen aufgingen; erst knisternd, bald prasselnd breitete es sich schnell aus, verwandelte sich in ein loderndes Feuermeer, ein höllisches Inferno, das hinter ihm weiterzog und vor ihm versiegte.
Konrad wartete benommen. Er lauschte. Seine Beine zitterten. Seine Kehle schmerzte.
Irgendwann ging er los. Langsam. Durch das leise Glutknistern der verbrannten Ährenstrünke.
Als er bei der Eiche angekommen war, wandte er sich nach Norden.
„Adieu, Klara.“
* * *
Zaghaftes Klopfen an der Tür.
Konrad zuckt zusammen und blinzelt benommen in die glimmende Glut des Kamins. Die Bilder seiner jüngsten Erinnerung lassen sich nicht leicht aus seinem Kopf vertreiben. Draußen gießt es inzwischen wie aus Eimern. Er nimmt das Prasseln gegen die Scheiben wahr.
Es klopft erneut. Dieses Mal etwas heftiger.
„Ja, ja. Moment!“
Insgeheim erklärt er den, wer immer da draußen sein mochte, für verrückt und stemmt sich aus dem Sessel seines Großvaters. Er geht zur Tür. Öffnet.
Vor ihm steht eine kleine, triefende Gestalt, das Gesicht vollständig von einer zugeschnürten Kapuze vermummt. Sie steht einfach nur da, im strömenden Regen, schweigend, verharrend, als könne sie nicht reden.
Die Sekunden verstreichen.
„Ja?“ fragt Konrad schließlich.
„Entschuldigen Sie“, bittet eine weibliche Stimme in leicht gebrochenem Deutsch. „Ich wollte sie fragen, ob ich ... Ich meine ... dürfte ich mich bei Ihnen unterstellen? Bis der Regen aufhört.“
„Oh, aber ja, sicher. Kommen Sie rein. Au weia. Sie sind ja völlig durchnässt. Warten Sie. Ich hole Ihnen ein Handtuch.“
Konrad eilt ins Bad und kramt ein Frotteetuch aus dem Schrank. Danach kehrt er zurück in die Wohnstube, um nach der Fremden zu sehen.
Die Frau steht mitten im Raum. Noch immer trägt sie ihre klatschnasse Jacke. Konrad legt das gefaltete Tuch auf die Kommode. Dann zögert er. ‚Blöde Kapuze’, denkt er bei sich.
„Hab’s Ihnen hier hingelegt.“
„O ja. Das ist nett.“
‚Ihre Stimme ...’, bemerkt er. ‚Klingt nordisch.’ „Legen Sie doch diese Regenpelle ab. Eine Erkältung holt man sich auch bei einem Sommergewitter. – Möchten Sie Tee?“
„Gern. Vielen Dank.“
Mit steifen Bewegungen sieht sich die junge Frau um, streicht dabei die nasse Kapuze zurück. Leider steht sie dabei mit dem Rücken zu Konrad. Vom Türrahmen aus betrachtet er ihre rötlichen, kurz geschnittenen Haare, die noch ganz klamm sind. ‚Bestimmt getönt.’ Er wischt den flüchtigen Gedanken beiseite. Irritiert lächelnd schüttelt er den Kopf und begibt sich in die Küche, um Tee zu machen.
Nachdem sie die Regenjacke abgestreift hat, entfaltet die Frau das Frotteetuch und fährt sich über das Gesicht. Ihr Blick gleitet über Konrads Einrichtung. Nebenan rauscht Wasser. Löffel klimpern in Tassen.
„Eine schöne Wohnung haben Sie!“ ruft sie hinüber.
Der Schalter eines Wasserkochers klackt. „Danke. Ich fühl mich auch sehr wohl hier. Das Haus gehört schon lange der Familie.“
Sie schaut am Kamin hinauf. Ihre Augen werden groß.
„Das Gewitter wird sicher bald aufhören“, ruft Konrad von drüben. „Fühlen Sie sich inzwischen wie zu Hause.“
Kurz darauf balanciert er ein Tablett herein, voll darauf konzentriert, nichts zu verschütten. Vorsichtig stellt er es auf einem niedrigen Tischchen ab, greift nach einem Feuerzeug und fingert ein Teelicht aus einem Keramikstöfchen. Er richtet sich auf. „Was hat Sie denn bei diesem Schietwetter ...?“
Er sieht die Frau erst gar nicht. Sie hat sich in Großvaters Sessel nieder gelassen und betrachtet schweigend das Bild von Klara, das an der Backsteinwand über dem Kaminsims hängt. Hinter der breiten Kopflehne sieht Konrad nur ihre Schulter und ihr halbes Profil: Nase, Kinn, Ponyfransen.
Ein unbehagliches Gefühl streift an ihm vorbei. „Das ... ist eine ... eine gute Freundin von mir“, bringt er mühevoll heraus. Er räuspert sich. „Verzeihen Sie. Wir haben einander noch nicht vorgestellt. Nun, mein Name ist ...“
„Konrad. Ich weiß“, sagt sie ohne sich zu rühren.
Von einem Augenblick zum anderen wird dem jungen Mann siedend heiß. Ihre Stimme dringt wie aus weiter Ferne zu ihm durch. „Ist das Klara?“
Das Feuerzeug entgleitet seiner zitternden Hand. „Woher, zum Kuckuck ...?“ Er taumelt einige Schritte zurück, stützt sich auf die Lehne einer Couchgarnitur.
Da erhebt sie sich aus dem alten Sessel.
Der Anblick trifft Konrad wie ein Faustschlag. Unwillkürlich lässt er sich auf einen kleinen Beistelltisch sinken.
Ihr Gesicht gleicht dem auf dem Bild über ihrem Kopf nicht in jeder Einzelheit. Ihres ist etwas schmaler. Das Muttermal fehlt, aber dafür hat sie dasselbe Grübchen am Kinn. Die Linien der Brauen sind bei ihr nicht geknickt, sondern gewölbt, und ihre Frisur kurz und glatt, statt gelockt. Trotzdem ist es das Gesicht, welches er von der Beschreibung gemalt hat, die Klara ihm an dem kleinen See von sich gegeben hat.
Konrad braucht einige Zeit, um seine wild herumspringenden Gedanken zur Ruhe bringen. Das kann nicht sein! Das ist vollkommen unmöglich!
Die junge Frau hat sich wieder dem Gemälde zugewandt. Sie lächelt.
Es vergeht eine Ewigkeit von sicherlich zehn Minuten und mehr, bevor Konrad sich aus seiner Starre lösen kann und fähig ist, ein Wort über die Lippen zu bekommen. „Klara ...?“
Das Mädchen schaut ihn an. „Nein. Mein Name ist Kirstin. Klara war meine Großmutter. Mit ungefähr zwanzig Ur's davor.“
„Deine ... Ihre Großmutter ...?“
„Bitte. Bleib persönlich. Zu Klara warst du es doch auch, nicht wahr?“
„Zu Klara ...“ Konrad nickt nur. Noch immer fällt es ihm schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. „Wie ... woher wissen ... weißt du von ... Klara und mir?“
Wortlos holt Kirstin ihren Rucksack, den sie auf dem Sofa abgelegt hat, öffnet ihn und holt eine Holzkiste heraus. Sie ist mit Schnitzereien verziert und etwa so groß wie ein Schuhkarton. Ihr Blick ist ehrfürchtig auf den Deckel gesenkt.
„Seit drei Jahrhunderten ist diese Kiste im Besitz meiner Familie. Großmutter Klara hat genaue Vorstellungen gehabt und Instruktionen hinterlassen, was mit dieser Kiste geschehen soll.“
Mit einem feierlichen Aufatmen überreicht sie Konrad das Kästchen. Ihre braunen Augen glänzen. „Für dich.“
Der Zeitlauscher hält es in seinen Händen. Schwer und sehr alt. Es ist aus dunkelbraunem Holz. Eichenholz. Von einem brüchig gewordenen Lederriemen umspannt. Ein Hartwachssiegel sichert ihn. Beim Versiegeln ist eine Zeile in zierlichen Lettern hineingedrückt worden.
„Geschlossen im Vertrauen an die Ewigkeit“
Auch auf dem Holzdeckel sind Worte geschnizt:
Was ist schon Zeit?
Darüber ein K. Umrahmt von hölzernem Eichenlaub.
Konrad sieht auf, sieht Kirstin an. Sein Blick verschwimmt. Er kann ihre zuckenden Mundwinkel erkennen.
„Von ihr?“ Es kostet ihn Mühe, die Stimme unter Kontrolle zu halten. „Von Klara?“ Kirstin nickt. „Wie hat sie ... ich meine ...“
„Gelebt?“ Das Mädchen holt Luft. „Klara kam 1617 nach Fjördendach, das damals noch ein recht kleines Städtchen war. Dort wurde sie von einer ansässigen und sehr wohlhabenden Familie aufgenommen, den Lamundsens. Als sie nach mehreren Jahren den ältesten Sohn jener Familie vermählte, war sie für damalige Verhältnisse bereits ziemlich alt. Siebenundzwanzig Jahre. – Man sagt, dass sie sich trotz vieler Heiratsangebote lange gegen eine Ehe gewehrt habe.“
Konrad senkt den Kopf. Immer noch auf dem Tischchen sitzend, die Schultern zusammengesunken, schaut er auf die versiegelte Kiste herab.
Nach einer Weile des Zauderns fährt Kirstin in ihrer Erzählung fort. „Ein Jahr nach der Trauung gebar Klara ein Kind. Einen Sohn. – Der Name des Knaben ...“ Ihre Stimme versagt.
„Sie nannte ihn Konrad“, murmelt der junge Mann ohne aufzublicken. „Habe ich recht?“
Kirstin lächelt. „Großmutter Klara wurde siebenundachtzig Jahre alt. Bis zu ihrem Tode hat sie niemals jemandem von ihrer Vergangenheit erzählt. Ihre Kindheit und ihre Jugend und der Grund, weshalb sie urplötzlich in Fjördendach aufgetaucht war, sind stets ein Geheimnis geblieben. Nicht einmal ihr Gemahl soll über sie Bescheid gewusst haben. Und doch, trotz ihrem mysteriösen Vorleben, wurde Großmutter Klara in der ganzen Umgebung sehr hoch angesehen und geradezu verehrt. Die erste Schule in unserem Ort wurde nach ihr benannt, weil Klara einst den Kindern das Lesen und Schreiben beigebracht hat. Die vielen Geschichten, die sie damals geschrieben und vorgelesen hat, sind überliefert und werden noch in der heutigen Zeit immer wieder gerne gehört. – O ja, man erzählt noch sehr viel von Großmutter Klara.“ Eine große Ehrfurcht schwingt in Kirstins Stimme mit. „Diese Kiste hat sie der Nachwelt hinterlassen. Sie ist nie geöffnet worden. Seit vierhundert Jahren nicht. Das war ihr Wille. Und so wird er seit Generationen geachtet und weitergegeben. Mitsamt dieser Kiste und einem ebenfalls versiegelten Dokument, auf dem ein genaues Datum geschrieben stand und das erst an diesem Tag geöffnet werden sollte. – Du kannst dir vielleicht vorstellen, welch Neugier und Kopfzerbrechen all diese Geheimnisse ausgelöst haben: Das Rätsel um Großmutter Klaras Vergangenheit und Leben, ihr ungeheures Wissen und ihre Weisheit, dann vor allem diese Kiste und das Dokument mit dem Datum, welches so unerklärlich weit in der Zukunft lag. Die Menschen in Fjördendach hätten zu allen Zeiten danach viel um eine vorzeitige Lösung des Mysteriums gegeben. Aber die Familie Lamundsen ist bis zum Schluss treu und unerbittlich geblieben, obwohl mehrere Generationen keinerlei Aussicht auf Aufklärung hatten, da der Stichtag der Geheimnislüftung weit hinter ihrem Leben lag.“
Kirstin verharrt einen Moment bevor sie fortfährt:
„Wir, Großmutter Klaras Familie“, betont sie hörbar stolz, „haben jedes Jahr an diesem Tag ein großes Fest in der Schule gefeiert, damit das Datum auf dem längst legendären Umschlag nicht vergessen und wirklich eingehalten wird. Alle Kinder der Schule haben mitgefeiert. Auch die, die längst erwachsen waren. Und abends wurden am Feuer die alten Geschichten vorgelesen und erzählt und eigene erfunden und vorgetragen. – Vor zwei Wochen war es schließlich soweit.“ Sie holt tief Luft. „Gemäß dem Datum und während des alljährlichen Festes wurde der Umschlag abends am großen Feuer geöffnet. Und wir waren allesamt sehr verblüfft, als wir nichts weiter fanden als ein Papier mit der genauen Beschreibung einer heutigen Adresse und dem letzten Willen Großmutter Klaras: Der Aufforderung, diese Kiste genau am heutigen Tag an eben jene Adresse überbringen zu lassen. Ein neues Rätsel gab uns ein kleiner ominöser Nachsatz auf: ‚Man wundere sich nicht, wenn der Zeitlauscher mich kennt.’ – Wohl unnötig, dir zu sagen, wessen Adresse Großmutter Klara hinterlassen hat.“
Konrad nickt langsam.
„Nun, und heute“, schließt Kirstin mit zitternder Stimme, „ist es eben soweit. Der Wunsch Großmutter Klaras soll sich jetzt und hier, nach vier Jahrhunderten, erfüllen und ... ich freue mich, dass ich, als ihre Urenkelin, dies vollbringen darf.“
Konrad hebt den Blick und sieht die junge Frau an. Schaut in dieses Gesicht, in diese Augen. Sehr tief, sehr lange.
„Weißt du, Kirstin“, sagt er schließlich leise, „mein größter Wunsch war immer, Klara nur ein einziges Mal anschauen zu dürfen.“
Langsam steht er auf. Seine Hand streichelt über das beschnitzte Holz der Kiste in seinem Arm, spielt mit dem ledernen Riemen, der sie umschnürt hält. „Ich glaube, ich muss dir eine Menge zeigen und erzählen.“
Das Mädchen schaut lächelnd zu Boden, um die Tränen in ihren Augen und die Röte in ihrem Gesicht zu verbergen. Konrad wendet sich dem Bild zu, das grauweiß über dem Kamin hängt. Sieht auf, zu den grauen Graphitaugen, die in Wirklichkeit dunkelbraun gewesen sind. Seine Worte sind leises Geflüster.
„Warum, Klara? Warum wir?“
Dann zerbricht der Zeitlauscher das Siegel in seiner Hand.


Ende
 

Roni

Mitglied
hallo markus,


ich hab es in einem durchgelesen ... mich festgelesen - und das schon vor ein paar tagen. ein gutes zeichen.
dann habe ich mich erwischt, dass ich so einigen leuten von der geschichte erzaehlt habe. noch ein gutes zeichen.


die idee eines zeitlauschers finde ich absolut faszinierend und von dir sehr glaubwuerdig erzaehlt.
(ein einziges mal nur kam ich ins zweifeln: die um gnade bittende frau, die er in rom hoert. hier fragte ich mich, ob es durch zufall seine sprache war ... oder ob er alle sprachen versteht, eher nicht, oder?)

die entwicklung seiner beziehung zu klara finde ich ebenfalls nachvollziehbar, auch wenns vielleicht zwischendurch ein bisschen zu romantisch und idyllisch wird. aber gut, es ist auch ein recht romantisches alter und die beiden koennen ja nichts dafuer, wenn ich keine jugendlichen kenne, die sich lieder am teich vorsingen. er bringt ihr so viel bei - warum spielt er ihr eigentlich keine musik vor? aber es sind viele schoene bilder da ... eine grosse eiche, die noch gepflanzt wird, ein teich, der noch gebaut wird, zeugen einer vergangenheit, deren idee in der zukunft liegt ...
da hat man viel zu denken und das gefaellt mir.
eine frage, die sich aufdraengt, ist z.b.: wenn er in der zukunft dafuer verantwortlich ist, dass ein teich gelegt wird ...
waere es nicht rein theoretisch moeglich, dass er lauschend nochmals in die vergangenheit reist, wieder an seinem geb. zum selben stichtag ... und diesmal mit dem wissen ueber die weitere entwicklung das leben klaras und ihrer familie anders beeinflusst? sicher eine frage, die du im text gar nicht beantworten kannst und willst, du willst ja auch keine sf-fragen klaeren, sondern eine geschichte erzaehlen.

meine absolute lieblingsstelle ist der schrei, den er in die vergangenheit schickt. ueberhaupt ist der ganze passus vom einkauf/ brief der mutter an bis hin zum schrei sehr gelungen.

in der geschichte gehen viele leute.
der grossvater ... der vater ... die mutter ... die schwester
die bezugspersonen opa und schwester gehen aber nicht wirklich, denn er holt sie sich per gehoer zurueck

deshalb hatte ich eigentlich erwartet, dass am schluss mehr auf eine 'grosse stille' eingegangen wird. denn er hoert klara nicht mehr. (allenfalls die wiederholungen)

ob mir der schluss gefaellt, weiss ich nicht genau. klar will ich wissen, was aus klara wurde. aber dieses kaminfeuer, eine traenendrueckende urenkelin, ein unwetter, tee, ein bildnis und eine truhe - weiss nicht, ob mir das nicht ein bisschen zu viel ist. zu betulich. ein zacken weniger waer mir auch recht.

letztendlich hast du da eine figur geschaffen, die ich mir durchaus in fortsetzung vorstellen koennte. und du solltest aufpassen, dass dir der 'zeitlauscher'(als idee) nicht in kuerzester zeit als held einer action-serie im tv begegnet
... es sei denn, du wirst beteiligt ;-)

rundum eine tolle geschichte und eigentlich wie immer - bisher hat mir noch alles gefallen, was ich von dir gelesen hab.

gruss
roni
 

Markus Veith

Mitglied
Wow

Vielen lieben Dank, Roni, für deine ausführliche und wertvolle Bewertung. Das schreit ja förmlich nach einer Antwort, die ich nur zu gerne gebe.
Zunächst zu deinen Fragen und Anmerkungen.
Natürlich versteht der kleine Konrad kein Latein oder Hebräisch, mit dem die um Gnade bittende Frau wahrscheinlich gesprochen hat. Aber ich denke, dass man die Verzweiflung und Intention eines Menschen in solcher Lage der Stimme anhört. Ich werde mir diese Stelle aber noch einmal anschauen.
Tja, das Verhältnis Klara/Konrad zu formen war unglaublich schwierig. Ich weiß auch immer noch nicht, ob ich alle Aspekte des Mittelalters bedacht habe. Vorteilhaft war jedenfalls, dass die Bilder um Klara ja ‚blind’ und nur akustisch sind, womit ich mir Einzelheiten ihres Lebens ersparen konnte. Natürlich sind die Liebeserlebnisse mit dem Paar kitschig oder schlittern zumindest hart am Kitsch vorbei. Ich musste ein Gleichgewicht finden, zwischen einem Jugendlichen von heute (und die sind trotz aller zur Schau getragenen Coolness häufig doch noch unglaublich romantisch) und einem Mädchen, das vor über vierhundert Jahren lebte. Ich hoffe, dass mir das Gleichgewicht gelungen ist.
Nach dem Prinzip des Zeitlauschens, das ich mir entwickelt habe, ist die Idee der ‚rückwärtigen Beeinflussung’, die du da hattest nicht möglich. Zumindest nicht mit Klara. Konrad kann ja nur dann mit jemandem kommunizieren, der auf die Sekunde genauso alt ist, wie er selbst. Dadurch wird diese Chance erschreckend gering. Konrad muss nicht nur das absolut genaue Alter der Person kennen, sondern auch wissen, wo sie sich zu der Zeit aufhält, in der er dasselbe Alter hat. Deshalb ist seine Begegnung mit Klara durchaus eine Punktlandung, die an ein Wunder grenzt.
Der Schluss mit Kirstin ist zugegeben ein Wagnis. Bei der Überarbeitung habe ich viel herausgestrichen, um den gröbsten Kitsch zu vermeiden. Ich habe hin und her überlegt, ob die Schlussszene wirklich nötig ist, kam aber immer wieder zu dem Punkt, dass ich Konrad und Klara (und irgendwie auch Kirstin, denn was da folgt ist ja offensichtlich) eine kleine Chance zu lassen in dieser unmöglichsten aller Liebesgeschichten. (Die Bezeichnung stammt nicht von mir!)
Am meisten freut mich, dass du anderen von meinem „Zeitlauscher“ erzählt hast. Das ist für mich immer das beste Zeichen.
Auch möchte ich mich bedanken für den letzten Kick, der mir noch fehlte, mich endlich darüber zu informieren, wie ich mein Baby – auch wenn es noch keinen Verlag hat – rechtlich schützen kann. Schon viele, die die Geschichte kennen, haben mir das geraten und von derselben Vision erzählt, die du genannt hast, nämlich der des „Zeitlauschers“ als (Action)-Serie. Brrr. Da krempeln sich mir alle Fingernägel um.
Andererseits: In der Tat gibt es bereits so etwas wie eine Fortsetzung und der Witz ist, dass es diese VOR dem „Zeitlauscher“ gab. Nämlich die Geschichte um Blume und was mit ihr in jenem Haus geschieht, dass sie für sich erworben hat. Außerdem: Ideen über eine Fortsetzung von Konrads Geschichte sind bereits in meiner Schublade. Die eine wäre, das er tatsächlich Klara wiedertrifft. Wenn man der Logik des Zeitlauschens folgt, wäre das absolut möglich. Eine andere Idee, ist die eines ‚Erzfeindes’. Ich weiß nur noch nicht, ob ich all das wirklich gut finde. Es wäre sicherlich interessant, Konrad noch einmal zu folgen. Aber die Geschichte ist eine Novelle; straff erzählt und ich denke, dass sie in dieser Form stehen bleiben darf. Ich mag es, Lesern Ideen in den Kopf zu setzen, wie es weitergehen KÖNNTE. Wie auch immer. Im Moment ist es Zukunftsmusik.
Weniger Zukunft ist mein Vorhaben, ein Hörbuch zu machen. Das wird voraussichtlich im Februar/März geschehen. Und mit meinem Etappensieg beim Erzählwettbewerb vom Hörverlag hoffe ich auf gute Karten, damit ein wenig Publicity zu wecken. –
Ist es nicht doof, dass es immer darauf hinausläuft?
Mit literarischen Grüßen
Markus Veith
 

Roni

Mitglied
hallo markus,

na, dann drueck ich dir die daumen.
ja, letztendlich laeuft es darauf hinaus - dahinter steckt ja nicht nur die entscheidung, kunst oder knete (diese entscheidung koennen eh die wenigstens ganz locker treffen), sondern ganz einfach der wunsch, gelesen zu werden - von moeglichst vielen, am besten von der ganzen welt.


stimmt, die rueckwaertige beeinflussung ist nicht moeglich - eigentlich macht deine story das auch deutlich. ich hab nicht richtig nachgedacht.

warum er ihr keine musik vorspielt, interessiert mich immer noch. eigentlich draengt sich der gedanke beim thema 'hoeren' doch auf?

und:
ich plaediere eindeutig fuer den erzfeind!!!
bitte nicht in der schublade lassen.

gruss
roni
 



 
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