Der Zeitlauscher

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Markus Veith

Mitglied
"Adieu, Klara“, sagt der Mann leise in die Nacht hinein.
Daraufhin geschieht lange Zeit nichts. Der junge Mann steht bei der großen Eiche und horcht auf den Wind. Dessen Rauschen schüttelt an den mächtigen Ästen des alten Baumes, lässt sie ächzen und stöhnen. Der trübe Blick des Jünglings scheint sich an etwas sehr weit Entferntes zu lehnen. Er schaut nur in eine Richtung, als erwarte oder beobachte er etwas. Oder - als sehe er jemandem nach. Aber dort ist niemand. Nur die Dunkelheit der Nacht. Und der Wind, der vom nahen Meer weht und sein Lied durch den alten Baum säuselt.
Konrad wendet sich um und geht, wischt sich flüchtig mit der Armbeuge über das Gesicht. Seine Spur zieht sich durch das nachtgrüne Gras. Der Mond wurde schon früh von vorüber ziehenden Wolken geraubt.
Der Weg zum Bode-Haus führt Konrad am Strand entlang, wo sich die Brandung wie ein schäumendes Laken über den Sand legt und vom Meer wieder zurückgezogen wird. In seinem kleinen Heim legt Konrad den groben Mantel und den Wollschal ab.
‚Hier habe ich einen Kleiderständer stehen. Er ist genau so groß wie ich. Und hier links daneben ist eine große Truhe.’
Er greift nach der Schachtel mit den langen Streichhölzern und nach dem Kerzenleuchter.
‚Und hier in der Ecke ist der Kamin.’
Wenig später prasselt ein lebendiges Feuer zwischen den Scheiten. Zusammen mit mehreren Kerzen erhellt es das Zimmer.
Obwohl er es könnte, benutzt Konrad Elektrisches Licht kaum. Viel zu kalt; zu tot. Er liebt die alten Feuertänze und das Wiegen der Schatten an den Wänden. Doch heute, zum ersten Mal, erfüllt ihn das Schauspiel in seinen eigenen vier Wänden mit Unbehagen. – Und mit Einsamkeit.
Er hat sich nie einsam gefühlt. Oft wäre es ihm lieb gewesen, ein einziges Mal nur die wohlige Behaglichkeit der absoluten Stille kennen zu lernen. Allein zu sein. – Aber jetzt ...
Er fröstelt.
‚Dort, wo du jetzt stehst, ist ein großer Sessel mit einer hohen Lehne. Der gehörte meinem Großvater.’
Konrad nimmt in ihm Platz, die Beine der Wärme entgegen gestreckt. Draußen, über dem Land, entlockt der Herbst der Zeit den nächsten Morgen und träge schleicht die Dunkelheit in ihre Verstecke zurück.
Konrad wühlt seine Arme durch die dicken Ärmel ins Innere des Pullovers und findet den Anhänger, der ihm an einem Lederriemen um den Hals hängt: Ein verschnörkeltes K aus Bronze in einem Kranz aus ebenfalls bronzenem Eichenlaub, so groß wie ein Kreis von Daumen und Mittelfinger. Sanft umtastet Konrad die kleinen Formen und Biegungen des Kleinods.
Lange sitzt der junge Mann in dem Sessel, gedankenverloren und in sich gekehrt. Hände und Amulett unter Wolle warm umschlungen. Sein Blick träumt in den Flammen. Irgendwann schließt er die Augen. Einschlafen kann er jedoch nicht.
Vergangenheiten halten ihn wach ...
* * *
Als er noch klein war, war seine Welt ein Kauderwelsch, ein wirrer Urwald aus Sprache. Viel zu viele Wörter für zu wenige Münder, die sich meist nicht einmal zu ihnen bewegten.
Seine Eltern waren zunächst sehr erfreut darüber, wie schnell Konrad zu reden lernte. Dann aber schlug ihr Stolz in Besorgnis um, denn ihr Sohn zeigte zunehmend das seltsam anmutende Verhalten grundlos loszubrabbeln. Er reagierte zwar auf all jene Spielereien, mit denen Erwachsene Kleinkindern die ersten Worte zu entlocken versuchen, jedoch weitaus öfter schien er auf Personen einzugehen, die niemand sehen konnte. Wie aus heiterem Himmel lachte er los, als hätte jemand einen tollen Scherz getrieben oder ihn mit einem komischen Laut belustigt. Nur wusste niemand wer, denn es war kein Mensch in der Nähe des Laufstalls.
In den folgenden Jahren nahm das seltsame Verhalten des Jungen bedenkliche Formen an. Er schwatzte beim Spielen in die leere Luft hinein und die Eltern hörten ihn auf Fragen antworten, die sie ihm nicht gestellt hatten.
„Machen Sie sich keine Sorgen. Das gibt sich“, beruhigten die Ärzte, die Konrads Eltern mit ihm aufsuchten. „Kinder erfinden manchmal imaginäre Spielkameraden. Beschäftigen Sie sich mehr mit ihm, und Sie werden sehen: Ihr Konrad wird sehr bald sein Interesse an diesen Phantasiegestalten verlieren.“
Das war leicht gesagt. Seine Eltern mussten beide den ganzen Tag arbeiten, um für sich und ihre beiden Kinder – Konrad hatte eine ältere Schwester – das teure Leben in der Stadt zu ermöglichen.
Bald glaubte niemand mehr daran, dass es sich um einen unsichtbaren Spielkameraden handelte, der da ständig in Konrads Einbildung spukte. Der Kleine wachte nachts schreiend auf, zitternd und bleich vor Angst. Es seien welche im Zimmer. Ganz viele. Überall höre er Stimmen. Da ... und da ... und dort auch. Geräusche, Laute, Sprache.
„Aber was genau hörst du denn?“ versuchten die Eltern zu ergründen. „Sag es uns doch.“
Konrad konnte es nicht sagen. Er hörte immer mehr. Und was er da wahrnahm, vermischte sich zu einem chaotischen Gefasel, einem unverständlichen Durcheinander, das kaum auseinander zu halten war. Also suchte der kleine Junge selbst nach einer Möglichkeit dieses Tohuwabohu von Stimmen und Geräuschen zu entwirren. Wenn er darin etwas hörte, was er kannte und ihm vertraut war, so hielt er in Gedanken angestrengt daran fest und versuchte es zu malen.
Und so begann der vierjährige Konrad eine Begabung zum Zeichnen zu entwickeln, die von jedem als außergewöhnlich gelobt wurde. Doch war sie allein aus der Not geboren, nicht anders erklären zu können, was in seinem lauten Kinderkopf vorging.
Konrads Bilder verwunderten jeden Betrachter. Unter ihnen war kein einziges der üblichen Wachsmal-Tiere und nicht ein windschiefes Haus. Sie stellten vielmehr ganz alltägliche Situationen dar: Eine Frau beim Geschirrspülen. Kinder beim Ballspielen auf einem Spielplatz. Ein verliebtes Pärchen auf einer Bank im Park. Ein rauchender Mann. Zwei tratschende Frauen.
Je älter der Knabe wurde, um so detaillierter wurden seine Bilder. Bis auf ein Merkmal, das sofort bei jedem Werk auffiel: Keine der Figuren besaß ein Gesicht.
Man fragte Konrad natürlich, weshalb diese Gestalten gesichtslos seien. Und er gab stets die geheimnisvolle Antwort, dass er Gesichter nur dann malen könne, wenn er sie schon einmal gesehen habe. Jene Menschen habe er aber nie gesehen.
Diese Aussage gab den Ärzten, die mit Konrad zu tun hatten, noch mehr Rätsel auf. Kein Arzt und kein Psychologe konnte die mitunter hervorragenden Zeichnungen des Jungen deuten, da deren Darstellungen offenbar weder verschlüsselt noch erträumt oder real erlebt waren.
Was war mit diesem Jungen los? War er etwa hellhörig? Konnte er über weite Entfernungen hinweg hören, durch Zimmerwände und ganze Häuserblocks? Oder war das, was er da ständig wahrnahm, so etwas wie Stimmen aus einer anderen Welt? Vielleicht gar ... aus dem Jenseits?
Konrad wurde den Menschen in seiner Umgebung immer unheimlicher. Niemand vermochte den Eltern ihre Befürchtungen zu nehmen. Nicht einmal ihr Sohn selbst.
„Wie hörst du diese Stimmen denn?“ wurde Konrad so oft gefragt, dass er diese für ihn selbst schwierige Frage bald wirklich leid war.
„Die sprechen alle ganz wild durcheinander. Da kann ich nie was richtig verstehen. Und einzeln reden sie nur manchmal.“
„Aber ... wann hörst du diese Stimmen?“
„Nur, wenn ich will.“
Das klang meist patzig, war aber die Wahrheit. Denn irgendwann hatte Konrad herausgefunden, wie er die Stimmen in sich eindämmen und verstummen lassen konnte, wenn und wann er wollte. Irgendwie klappte das. Es geschah in seinem Kopf.
„Das ist so, wie wenn man was ausknipst. Licht oder so.“
Jedenfalls wurde er mit Hilfe dieser Methode nicht mehr von den unheimlichen Klängen und Gesprächen belästigt, und bald sah Konrad diese nicht mehr als Störung an. Ganz im Gegenteil: Wenn ihm langweilig war, ‚knipste’ er in seinem Kopf einfach wieder auf Empfang und hörte dem Gebrabbel zu. Auf diese Weise lernte er mit der Zeit die Stimmen zu sortieren – „auseinander zu hören“, wie er es nannte. Und Konrad tat dies mit wachsender Begeisterung. Man merkte ihm sofort an, wenn er den Hörspielen lauschte, die sich da irgendwo in seinem Gehirn abspielten. Er saß dann da, in einer stillen Ecke, die Augen geschlossen, und in seinem kindlichen Gesicht spielte sich die gesamte Palette der verschiedenen Gefühlsregungen ab. Mal blickte er gespannt und mal überrascht drein, dann traurig oder fröhlich, entrüstet oder schadenfroh und häufig kicherte er nur still vergnügt in sich hinein.
So war das Geheimnis um Konrads seltsame Begabung zwar noch nicht gelöst, aber immerhin bereitete sie ihm und seinen Eltern keine Sorgen mehr.
Da sein Vater und seine Mutter dem Jungen nach ihrem Arbeitstag nicht ausreichend die von den Ärzten geratene Aufmerksamkeit spenden konnten, gehörte Konrads Hauptsympathie weniger ihnen, als viel mehr seiner älteren Schwester. Er hatte sie liebevoll auf den Namen ‚Blume’ getauft. Ihren richtigen Vornamen mochte Blume nicht und hatte ihrem kleinen Bruder schlicht verboten, sie so zu nennen. Konrad verstand das. Er mochte den Namen auch nicht.
Das Mädchen kümmerte sich rührend um ihren Bruder. Und obwohl Blume sechs Jahre älter war, gab es zwischen den Geschwistern nie jenen Zank und Streit, der bei solcher Altersdistanz häufig üblich ist. Sie verstanden sich so gut, dass es aller Welt fast ungewöhnlich erschien. Die zwei konnten sich alles erzählen, was immer es auch war, und ihre tiefsten Geheimnisse wussten sie bei dem anderen in sichersten Händen.
„Blume?“ fragte Konrad seine Schwester einmal, als sie ihm eines Abends noch vorgelesen und gerade das Buch fortgelegt hatte. „Warum fragt mich jeder so komische Sachen?“
„Na, weil niemand verstehen kann, dass du Dinge hörst, die sie nicht hören können.“
„Du fragst mir nie Löcher in den Bauch so wie die. Verstehst du es denn?“
„Nein“, hatte Blume gesagt und ihm zärtlich über die Stirn gestreichelt. „Und ganz ehrlich: Das will ich auch nicht.“ Daraufhin saß sie eine lange Zeit schweigend auf der Bettkante und schaute ihn an. Bis sie schließlich hinzufügte: „Weißt du, die anderen machen alle ein so großes Rätsel aus dir. Sie fragen immer ‚Warum?’ und ‚Weshalb?’ Ich finde das genauso langweilig wie du. Ich mag es viel lieber, wenn du mir ab und zu erzählst, was diese Stimmen dir erzählen. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass ich dich lieb habe, so wie du bist, mit diesem verrückten Tick in deinem Kopf.“
Konrad schaute zunächst etwas verwirrt drein. Dann, nach einer Weile, nickte er. Und als sich seine Schwester in ihr Bett neben dem seinen gelegt hatte und die Sandmannlampe ausmachte, flüsterte er „Ich habe dich auch lieb, Blume“ in die Dunkelheit des Kinderzimmers.
Und doch sollte ausgerechnet Blume es sein, die ein paar Wochen später hinter das Geheimnis von Konrads Stimmen kam. Durch Zufall. Und auf grausame Art und Weise.
* * *
(Fortsetzung folgt)
 
S

Sandra

Gast
Hallo Markus,

nachdem ich Dein Werk schon per Download gelesen habe, hatte ich auch vor, nochmals in der LL reinzuklicken und etwas zu schreiben. Wie bereits schon erwähnt, gefällt mir die Geschichte sehr gut. Du hältst den Wechsel der Zeiten durch und die Geschichte scheint mir neu und spannend. Mich würde noch interessieren, was Du mit der kompletten Geschichte vorhast? Ich denke, für einen Roman wird es zu kurz sein. Sie hat wohl eher die Größe einer Novelle, oder?

Die Details habe ich Dir ja per Mail zugeschickt.

Ich werde den Zeitlauscher auf alle Fälle weiter lesen und Dir nach und nach sagen, wie es mir gefällt.

Gruß

Sandra

P.S. Fall Du detailiertere Verbesserungsvorschläge brauchst setze Deine Geschichte doch einfach bei http://www.kurzgeschichten.de rein. Dort werden längere Geschichten eher und haarklein kommentiert.
 
hallo markus

Willst du eine ehrliche Antwort? Bitte bring mehr Spannung rein. Ich finde es langweilig. Nicht böse gemeint. Es hat viel. Würde dir gerne sagen wie du es anders machen sollst, aber kann es nicht. Lass die Geschichte leben. Mein Vorschlag.



In diesem Sinne....Stephanie
 
Hallo Markus

So nun habe ich es in Ruhe gelesen und nehme meine vorherige Anwort zurück. War gestern einfach schon zu spät. Lese gleich den zweiten Teil.

In diesem Sinne.....Stephanie
 



 
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