Der Zirkus

cornelisven

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Es ist noch nicht so lange her, dass ich einen alten Freund traf. Er sah traurig aus. Sein markanter Schnurrbart hing herunter. Seine Augen blickten verzweifelt in die Ferne. Ich bemerkte ihn im vorbeigehen auf einer Parkbank in B. Er erkannte mich sofort wieder und winkte mich zu sich, aber nachdem ich angehalten hatte, verfiel er wieder in ein trauriges Schweigen. Es zeigte mir unzweideutig, dass er verzweifelt war, dass er Probleme hatte. So fragte ich ohne Umwege: „Na Alter, was ist los?“ „ Mein Zirkus,“ sagte er nur, und das sollte anscheinend alles erklären. Ich hatte ihn mindestens sechs Jahre nicht gesehen. Ich erinnere mich, dass er irgendwann mal in der Schaustellerbranche gelandet war. Er war ja schließlich gelernter Clown und Magier, aber wie sein Schicksal damals weiter verlief, und dass er einen eigenen Zirkus geleitet hatte, wusste ich nicht.
„Dieser Löwe... .“ und er zeigte auf ein hageres Tier neben sich auf der Parkbank, „... ist das letzte Lebewesen, dass mir von meinem Zirkus noch geblieben ist.“ Tatsächlich, wie war es möglich, aber den Löwen hatte ich nicht gesehen. Ich stutzte. - Was für einen Tag haben wir heute? - Ich nannte das richtige Datum, also bin ich (ergo sum). Ich sah mir den Löwen noch mal an um sicher zu sein, dass nicht ein Angestellter in dem Fell steckte. Mein Freund legte seinen Arm um die Löwenschulter und begrub kurz sein Gesicht in der Löwenachsel. Der Löwe brummelte was, aber er schien sich an dieses Verhalten gewöhnt zu haben.
Ich wendete mich zu dem Löwen um etwas zu fragen. Ich hatte nämlich die Vermutung, dass er sprechen könnte. So sah er aus, so menschlich. Ich zwinkerte ihm zu und nickte verstohlen zum Herrchen. „ Kann ich ihm glauben, oder macht er wieder Faxen, erzählt er wieder Unsinn?“, flüsterte ich. Es war dem Löwen nicht zum Lachen, und die Antwort blieb aus. Ich setzte mich neben meinen Freund auf die Bank.
„Mein Zirkus... “, fing er jetzt an, und eine kräftige Schnapsbrise wehte mir entgegen, „... ist Pleite gegangen und ab-so-lut ohne meine Schuld. Ich schwöre!“ Er streckte zwei Finger in die Höhe. „Stell dir vor. So eine Unglückssträhne! Und das alles kurz nach einander! Erst macht mir der Seiltänzer Schwierigkeiten. Ein Fachmann, sage ich dir, aber eines Abends... was ist? Wird es ihm schwindlig, oben auf dem Seil? Er schwankt wie sonst nie, und er droht abzustürzen, so sieht’s aus, aber nein. In voller Geistesgegenwart pflanzt er seinen Balancierstock in den Boden, hängt einen Moment mit seinen Füssen an dem Seil und mit seinen Händen umklammert er den Stab. Eine Sekunde... , er nimmt einen Sprung, balanciert....und klettert langsam den Stock herunter. Tosender Beifall! Ein phantastischer Akt. Ich war begeistert. Sicher, als Clown konnte ich diesen Akt, auch von der komischen Seite her beurteilen. Aber was macht der Lump? Er kündigt! „Herzkreislaufprobleme“, sagt er. Ich sage: „Du hast doch gerade einen phantastischen Akt vorgeführt, endlich mal was Neues, und jetzt gehst du weg!“ „Das war nicht einstudiert, das war ein Akt der Verzweiflung, sonst hätte ich mir sicherlich die Gräten gebrochen. Sense, aus, ich höre auf!“ Nichts zu machen, am gleichen Abend hat er seinen Karren eingepackt und weg war er. So!
Eine Woche später. Der Messerwerfer. Er wirft immer auf seiner Frau. Er wirft echt, mit echten Messern meine ich, nicht so Messer, die aus einem Brett heraus schießen auf Knopfdruck. Er wirft, aber an diesem Abend trifft er seine Frau. Blut, überall Blut. Dem Publikum graust es, aber Applaus, man glaubte an einen heißen Trick. Die Frau aber gerät in Rage. Sie nimmt das Messer, mit dem sie am linken Arm getroffen wurde, vom Boden und wirft es in voller Wucht in die Richtung ihres Mannes. Der Mann spielt mit, er fällt zu Boden, das Messer in der Herzgegend in den Körper gepflanzt, so sieht es aus. Das Publikum jault und klatscht und ist nicht mehr zu beruhigen. Auch nicht, nachdem ich hinzu renne in meinem Clownskostüm. Sie glauben einfach nicht, die Sache sei Ernst. Der Messerwerfer verblutet, und die Frau stürzt sich auf die Leiche ihres Ehemannes. „Sanitäter“, rufe ich, „Sanitäter!“ Das Publikum aber begeistert. Trage, Abtransport. “Und sie lachen, lachen, die Leute. Aber mein Messerwerfer war weg und seine Frau auch. Also, ist das kein Malheur?
Und dann die Frau mit ihrer Elefantennummer. Einstudiert war, oder in jedem Falle sah das jeden Abend so aus, dass der erste Elefant mit dem Rüssel Wasser aus einem Eimer aufsaugt und damit den anderen nass spritzt, und dann, quasi aus „Bosheit“ nimmt der andere einen Eimer mit Wasser und kippt diesen über dem ersten auskippt aus. Dann der Kampf; es folgt das Rüsselziehen. Die Frau spricht ihnen dann laut zu, bestrafend, sozusagen. Die Tiere hören mit ihrem Gebalge auf und knien, ja knien vor der Frau. Applaus! Kannst du begreifen. Aber auch hier ging es schief. Damals, vor ein paar Monaten, läuft die Geschichte ganz anders ab. Gut, Elefant Emmi, der erste, spritzt, wie gehabt, Elefant Annie nass. OK! Anni nimmt wie gehabt den Eimer, aber kippt den über der Frau aus!!!! Mann, ein Gelächter, es hört nicht auf. Die Leute schlagen sich die Knie wund, aber was passiert? Die Frau verliert die Fassung und beißt, ja beißt Annie in den Rüssel. Ich habe noch nie einen Elefanten so schreien hören. Er holt aus und verpasst der Frau einen Schwinger, dass sie im Orchesterraum über dem Eingang landet. Auch nicht so schlimm. Da gab es nur noch ein Einmannorchester, dort oben über dem Eingang. Du hättest das Publikum hören und sehen müssen!“ – Er hielt inne, und seine Augen leuchteten fachmännisch. – „Mann, war das ein Akt!! Die Frau ist jetzt komplett außer sich, sie ist angeblich gut gelandet, und fängt an, meinen Trompeter zu verprügeln, obwohl ich weiß, dass die beide eine Affäre haben und er nach Ablauf der Vorstellung mit seinem Trompetchen auch mal in einer anderen Halle spielt, wenn du begreifst was ich meine. Die Elefanten werden unruhig. Sehe ich. Sie wollen heraus und bahnen sich einen Weg quer durch die Manege zum Besuchereingang. Beifall, Beifall, Beifall. Und Rufe um Wiederholung. Die Elefanten sind aber weg und wieder kommen sie nicht! Das Ganze droht eindeutig aus der Hand zu laufen Ich trete an, jetzt als Clown und versuche das Publikum zu beruhigen. Aus dem Orchesterraum kommt kein Ton. „Musik!“, Rufe ich. Nichts ist. Ich nehme die Geige und spiele notgedrungen selbst Musik, klopfe einige Witze und peile das Ende der Vorstellung an. Das sollte es gewesen sein. Aber nein. Es kommen sechs Feuerwehrleute aus dem Dorf in vollem Ornat in die Manege. „Wo ist hier der Chef“, ruft einer. Auch diese Einlage wird mit einem gewaltigen Applaus belohnt. Keiner von den Besuchern hatte damit gerechnet, die eigene freiwillige Feuerwehr auftreten zu sehen. „Pappi, Pappi ...“ höre ich von der Kinderreihe her rufen. Ein Alptraum, mein Freund, ein Alptraum. „Ich bin hier der Chef.“ „Du?", fragt der Tapfere, „Sie...?“ Er blickt mich verdutzt an. „Du? Ich lasse mich aber von dir nicht verarschen du Clown! ...Sie. Es handelt sich um eine ernste Sache, es sind zwei Elefanten bei der Wirtschaft von Maxe eingetroffen“, sagt er „und das geht nicht. Die Viecher sind bestimmt von hier und das geht nicht. Sie müssen besser aufpassen. Und...“, fügt er nach einer Weile hinzu „ ... zurückbringen, wegholen.“ Das Publikum sieht gebannt zu. Wie wird es weitergehen? Es hat inzwischen begriffen, dass es sich nicht um einen Zirkusakt handelt, aber interessant ist es. Der Retter akzeptiert mich augenscheinlich jetzt als Chef und will mich zur Seite nehmen. Die Zuschauer verlassen allmählich das Zelt. Wahrscheinlich um sich die Elefanten bei Maxe's Wirtshaus mal anzusehen. Auch gut.....!“
Er schwieg kurz, die Geschichte war noch nicht zu Ende.... Der Löwe lag jetzt an meinen Füssen.
„Was die Leute alles machen“, fuhr er fort. „Die anderen Feuerwehrleute standen herum. Nichts taten sie, außer in der Nase zu bohren, oder unter ihren Integralhelmen im Ohr, oder mit ihrer Hand in der Hosentasche zu spielen, spielen!“ Er blickte mich eigenartig an, als er das sagte. „Feuerwehrleute, die in ihrer Hosentasche mit ihrem eigenen Schlauch spielen. Stell' dir das vor. Als Clown sehe ich solche Sachen natürlich sofort. Ich wollte schreien: - Junge lass deinen Pinsel in Ruhe und tue was. - Aber was soll es. Was sollten sie überhaupt tun? Die Elefanten standen bei Maxe, und das war erst mal das Problem.“ Weißt du was, Feuermann,“ sage ich, „wir gehen jetzt auch zu Maxe, einen trinken.“ Die Dompteurin hatte sich inzwischen umgezogen und ihr Kitzel-Glitzerpack mit einem Arbeitsdress getauscht, einem Overall, der fürchterlich nach Elefantenscheiße roch. Sie wollte auch mit zu Maxe, sagte sie, ihre Elefanten holen. Ihr Musiker mit der Trompete hinterher. Ukkie, der Manegenjunge wollte auch mit. „Nee,“ sag’ ich, „du bleibst hier und sorgst dafür, dass sich keine weiteren Katastrophen anbahnen. Fort. Hier geblieben!!“
Das war ja ein Zug! Ich sage zu der Dompteurin: “Hör mal, meine Liebe, jetzt holste sofort die Tierchen und bringst sie mal schön ins Häuschen“.„Nee“, sagt sie, „erst trink’ ick eene. Sie tun ja nix“. Als ob sie nicht schon genug Unfug getrieben hatten! Die Lage war zum Verzweifeln. Und es kam noch schlimmer. Der Bürgermeister kam in seiner Funktion als Haupt der örtlichen Polizei und befahl uns, sofort abzuhauen. - Hiermit kündige ich die Genehmigung.... usw., usf.- Ich machte ihm klar, dass das nicht so einfach getan ist und ich lud ihn ein, auch mit zu Maxe zu kommen: - Ich spendiere einen doppelten Weinbrand von einer guten Marke. - Wir kommen bei Maxe an, und ich sehe, wie unsere Retter die Elefanten in einem Karree eingesperrt haben. An drei Seiten ein Feuerwehrwagen und die vierte Seite wird von Maxe’s Wirtschaft gebildet! „Weiterlaufen, weiterlaufen!", höre ich befehlen. Da, die ganze Zuschauerbelegschaft, das ganze Dorf ist zur Stelle. Alle wollten sie jetzt auch einen trinken gehen, aber der Vordereingang von Maxe´s Wirtschaft war blockiert. Ganze Trosse von Leuten drängten sich. Es war ein Geschrei und ein Durcheinander. Kinder kletterten auf den Feuerwehrwagen. Leute aus der Kneipe waren mit ihren Biergläsern zwischen den Elefanten gelangt und gaben ihnen ihr Maß zu trinken. Wenn ich nicht selbst dabei gewesen wäre, hätte ich es nicht geglaubt. So ein Chaos!! Maxe ließ uns durch die Hintertür herein. „Willkommen, Herr Bürgermeister, Herr Clown!“ Ich hatte ja keine Zeit gehabt mich umzuziehen... .Die Bude war gerappelt voll. Maxe machte gute Geschäfte. Er hatte uns einen Tisch gegeben, aber nicht einen, wo wir ruhig sitzen konnten, der Bürgermeister und ich. Der Rauch war zum Schneiden, der Alkoholdunst ebenso. Maxe brachte uns je ein riesiges Glas französischen Cognac - auf Kosten des Hauses -, und er blinzelte. Er fand es gut, ein Clown in seinem Wirtshaus... .“

Mein Freund Derek, so hieß er nämlich, hielt inne. Er dachte an den französischen Cognac, schätze ich, auf welchem er schon lange hatte verzichten müssen. Ich gebe ihm einen Schluck aus meinem Flachmann, den ich zufällig- zufällig, dabei hatte.“ Erzähl weiter, Mann“, sage ich.
„Also, um alles noch mal zusammen zu fassen: Ich saß mit dem Bürgermeister an einem Tisch im Gedränge. Rosa, die Dompteuse, kippte sich einen x-fachen Weinbrand in die Gurgel, um eine Problemlösung zu finden und hing sich an den Hals ihres Trompeters. Die Kneipe war, wie gesagt, gerappelt voll und das Bier lief in Strömen, nicht zuletzt deshalb, weil die Elefanten einen Riesendurst zu haben schienen oder es der ein oder andrer darauf abgesehen hatte, die Tiere betrunken zu kriegen. Die Feuerwehrleute hatten angeblich noch keinen Plan. Sie hofften vielleicht darauf, dass die Tiere nach einiger Zeit wieder nach Hause wollten. Aber es sollte anders kommen.“ Er nahm noch einen Schluck aus der Pulle, die er mir nicht zurückgegeben hatte, und fuhr fort.
„Wir sitzen letztendlich in gemütlicher Runde, Maxe hatte die Flasche Cognac auf den Tisch gestellt: - Kann nicht andauernd kommen, muß die andere Gäste bedienen – , ein riesen Augenblinzeln und ein Grinsen von einem Ohr zum anderen und weg ist er. Bedienen. Da höre ich auf einem Mal einen höllischen Lärm, Sirenengeheul. Ich springe auf und ringe mich durch die Kundschaft nach draußen. Sirene, blaues Schwenklicht, orangene Blinklichter. - Was zum Teufel ist hier los? - aber es ist schon zu spät. Die Elefanten kriegen Panik und suchen das Weite. Mein Herrje, was ein Glück, dass da keine Unfälle passiert sind. Die Leute sprangen in allen Richtungen weg. Noch mehr Kinder auf den Feuerwehrwagen, und blau und rot und orange blieben, wie das Sirenengeheul. Eines der Kinder hatte offenbar beim Spielen die Alarmanlage aktiviert. Die Tiere drängten sich zwischen zwei Feuerwehrwagen hindurch und rannten Kurs Stall, aber wie! Erst meinten sie, sich noch in das Zelt begeben zu müssen. Und was passiert? Sie reißen die Zeltstange um, kriegen das ganze Segeldach auf ihre grauen Leiber, geraten noch mehr in Panik und rennen mit dem Zeltdach auf dem Buckel wieder in das Dorf herein. Mann, ich kann dir sagen, das sah ja komisch aus. Es dauerte nicht lange und das Zelt war zerrissen, weil die dicken Blödmänner beide in unterschiedliche Richtungen liefen. Aber letztendlich landeten sie im Wald. Ein Glück! Dort verhedderten sie sich mit den Resten des Zeltdaches und den Zeltstangen im Gestrüpp, und sie konnten in Ketten gelegt werden.....“
Mein Freund war erschöpft, meine Pulle war leer und den Löwen sah ich nicht mehr. Er schüttelte den Kopf und schaute intensiv auf eine Beule in meiner linken Westentasche, wo er noch einen zweiten Flachmann vermutete. Ich zog ihn zum Vorschein und erfüllte seinen stillen Wunsch.
„Ja, ja,“ sagte er noch und schlief ein. Mit seinem rechten Arm auf der Lehne der Bank, schnarchte er leise vor sich hin. Völlig sinnlos rüttelte ich noch an seiner Schulter. Ich werde den weiteren Verlauf der Geschichte wohl nie mehr erfahren, aber ich könnte mir selber ein Ende denken. Denn auch ich habe eine sprudelnde Fantasie.
 

Traveller

Mitglied
Fantasie ist das richtige Wort zum Schluss, doch es hat mit Zirkus und zeitgemässer Tierhaltung nichts zu tun.
Elefanten in Ketten ist der Schnee von gestern! Paddockhaltung ist die Gegenwart. Dies nur so am Rande.
 



 
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