Der alte Gärtner

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Rodolfo

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Der alte Gärtner

Zum ersten mal war es ihr aufgefallen, als er sich nach der Gartenarbeit die Hände wusch. Länger als sonst rubbelte er mit der harten Bürste unter den Nägeln, und einen Augenblick vermeinte sie, dort an seinen Fingerkuppen kleine weisse Punkte zu sehen. Da er sich jedoch nicht dazu äusserte, machte sie sich weiter keine Gedanken und vergass den Vorfall bald wieder. Trotzdem blieb ein ungutes Gefühl und sie beschloss, weiterhin ein Auge auf ihn zu haben.

Er war sein Leben lang mit Leib und Seele Gärtner gewesen. Jetzt, mit seinen 88 Jahren war er natürlich längst schon in Pension, aber sein Garten bedeutete ihm immer noch alles. Mit den Rosenrabatten, dem teppichartigen Rasen, den sauber gestutzten Obstbäumen, dem duftenden Kräutergärtchen, all den Blumen in allen Regenbogenfarben, dem kleinen Weiher, den Trauben, den Blütensträuchern, dem verwunschenen Gartenhäuschen im Rhododendrenbeet war er ein kleines Paradies und bei weitem der schönste Garten im Dorf.
Obwohl sein ein und alles, machte ihm der Garten im vorgerückten Alter doch allmählich Mühe. Sein Rücken war nicht mehr so biegsam und schmerzte schon nach kurzer Zeit. In seinen Gelenken schlug sich die Nässe und Kälte als lähmender Rost nieder. Trotzdem gab es keinen einzigen Tag, an dem er nicht direkt nach dem Frühstück zu seinen Pflanzen ging und dort bis Mittag arbeitete. Seit einigen Jahren hatte er sich angewöhnt, sich nach einem kargen Mittagessen (er war nie ein Schlemmer gewesen), zu einem kleinen Schlummer hinzulegen. Danach ging er dann nur noch bei schönem Wetter oder wenn es ganz besonders viel zu tun gab in sein Gartenparadies. Sonst legte er mit ihr Patiencen oder sie lasen gemeinsam ein Buch. Er natürlich nur Gartenbücher. Ihr Leben war beschaulich und vorhersehbar geworden. Vieles hatten sie zusammen durchgestanden, fünf Kinder grossgezogen und in die Welt hinaus ziehen sehen. Sie waren durch das Leben zu einer Person zusammengewachsen. Als sich nun bei ihm kleine Veränderungen zu zeigen begannen, blieb ihr das als seinem Alter Ego natürlich nicht verborgen.

Am dritten Abend nach dem eigenartigen Vorfall mit den weissen Punkten trat sie wie zufällig ins Badezimmer, als er sich wieder die Hände schrubbte. Der alte Gärtner tat nur einen kleinen Schritt zur Seite, so dass er ihr seinen Rücken zuwandte. Das genügte, um seine Frau aufmerksam werden zu lassen. Sie wusste, dass er niemals vor ihr einen Schmerz oder ein Gebrechen zugeben würde und dass sie ihn nur mit Hilfe eines ihrer kleinen, weiblichen Tricks auf die Schliche kommen würde. Daher öffnete sie hurtig das kleine Kästchen, zog ein frisches Handtuch hervor und reichte es ihm von der Seite her. Obwohl er sofort seine Hände ihrem Blick entzog, konnte sie doch einen kurzen Blick darauf erhaschen und sah feine weisse Fäden, die aus seinen Fingerbeeren sprossen. Wo er diese abgerubbelt hatte – es lagen einige davon im Waschbecken – blieben feine rote Punkte zurück. Die Gärtnerfrau erschrak nur für einen kurzen Moment. Irgendwie schien ihr das gar nicht allzu aussergewöhnlich. Es war, wie wenn man die kleinen, zarten Würzelchen eines eben angewachsenen Stecklings auswusch, um ihn in sein endgültiges Gefäss zu pflanzen. Und da er ganz offensichtlich nicht darüber sprechen wollte, fragte sie ihn trotz ihrer Besorgnis nicht danach.

Am Tag darauf sah sie ihn bei der Gartenarbeit Handschuhe tragen, etwas, was er Zeit seines Lebens nie getan hatte. Er hatte immer nur Spott für die „Handschuhgärtner“ übrig gehabt, denn wer sich vor Schmutz und Pflanzen fürchte, könne kein Gärtner sein. Sie war zwar beunruhigt, aber nicht so sehr, dass sie deshalb etwas unternommen hätte. Jetzt begann er auch, seine Hände nach der Arbeit an der Wasserzapfstelle im Garten zu waschen oder die Badezimmertüre zu schliessen, wenn er sie im Hause wusch. Auch dauerte das Prozedere immer länger und seit einigen Tagen hörte sie auf ihrem Lauschposten an der Badezimmertüre auch das Schnippeln seiner alten Bartschere. Schliesslich war er es, der das Schweigen als Erster brach.

Mit vor Erstaunen rauer Stimme erzählte er ihr eines Abends, dass er glaube, ins Alter etwas merkwürdig geworden zu sein. Es sei zwar ein Ding der Unmöglichkeit, aber ihm würden, sobald er mit der Erde in Kontakt käme, kleine, feine Wurzeln aus den Händen wachsen. Zuerst seinen diese beim Händewaschen ganz leicht abgegangen, schneeweiss und haarfein wie sie waren. Aber jetzt würden sie schneller wachsen und, wenn er sich nicht jede halbe Stunde die Hände wusch, wären die Würzelchen am Ende eines Tages schon verzweigt und nicht mehr weiss und haarfein, sondern an ihren hinteren Ende schon recht verdicht und hellbraun. Auch tue es jetzt grässlich weh, wenn er die Wurzeln abreisse oder, wie er dies seit ein paar Tagen machen müsse, mit der Bartschere abschneide. Er wollte ihr jedoch seine Finger nicht zeigen, um sie nicht zu erschrecken. Ab jetzt trug er im Haus seine weissen Imker- Handschuhe. An den folgenden Abenden räsonierten sie zusammen, was er dagegen unternehmen könnte. Beiden war klar, dass es keinen Sinn hatte, damit zu einem Arzt zu gehen. Das hier war keine Krankheit, es war etwas ganz Aussergewöhnliches. Da sie Beide auch fromme und gottergebene Menschen waren, beschlossen sie, sich nicht weiter darüber aufzuregen und abzuwarten.

Mit den Handschuhen fiel dem alten Gärtner die Arbeit zusehends schwerer, wobei jene das Wachstum der Wurzeln kaum beeinträchtigten. Mittlerweile sprossen sie ihm auch an den Füssen. Die Gärtnerfrau schaute im durch das grosse Blumenfenster mit Trauer in den Augen zu, wie er sich von Tag zu Tag mühevoller zwischen den Pflanzen bewegte, wie er mit seinen Händen, die jetzt in dicken Fausthandschuhen steckten, auf rührend linkische Art seine Blumen betreute. Eines Morgens kniete er an einem alten Rosenstock, der Damaszenerrose, ihrer Lieblingssorte, um die er Erde anhäufelte, um sie vor der kommenden Herbstkälte zu schützen. Nach getaner Arbeit gelang es ihm nicht mehr, sich zu erheben. Erschrocken stürzte sie sich hinaus, um ihm aufzuhelfen. Aber da half kein Stützen und Ziehen, sein Knie, sein Fuss, ja sein ganzes Bein war fest im Boden verwurzelt. Auch die Hand, mit der er sich abstützte, wurzelte durch die dicken Handschuhe hindurch und nahm die Farbe und das Aussehen von Rosenholz an. In ihrer Not holte sie einen Spaten und wollte die Wurzeln knapp unter dem Boden abstechen, aber der alte Gärtner winkte nur müde ab. Er versuchte, ihr etwas zu sagen, brachte jedoch keinen Ton heraus. Statt dessen vermeinte sie, in seinem Mund statt der Zunge eine halbgeöffnete Rosenknospe zu sehen. Bis zum Eindunkeln blieb sie bei ihm, streichelte seinen Kopf und seinen dornigen Rücken und versuchte, ihm seine gekauerte Stellung so angenehm wie möglich zu machen. Danach ging sie ins Haus, machte ihm einen Kartoffelbrei und brachte diesen zusammen mit Kissen und Decken in den Garten. Sie packte ihn warm ein und fütterte ihn mit dem Brei wie ein kleines Kind. Aus grossen, staunenden Augen blickte er sie an und versuchte krampfhaft, ihr etwas zu sagen. Schliesslich, als sie ihr Ohr ganz nah an seinen Mund hielt, verstand sie sein krächzendes Flüstern: „Himmel, wie schön du bist!“

In ihr öffneten sich alle Schleusen und sie weinte hemmungslos, über seinem holzigen Rücken zusammengebrochen. So gross war ihr Kummer, dass sie Bäche von Tränen vergoss und die ganze Nacht hindurch in dieser Umarmung verbrachte, ohne sich dessen gewahr zu werden. Irgendwann hatte die Müdigkeit sie jedoch trotzdem übermannt und als sie am Morgen mit schmerzenden Gliedern erwachte, musste sie sich aus dem schönen, üppig blühenden Rosenstrauch befreien, in dessen Schutz sie die Nacht verbracht hatte. Ihre Tränen waren versiegt. Halb traurig, halb glücklich kniete sie vor der wundervollen Damaszenerrose und bewunderte ihre perfekte Form, die schmerzliche Schönheit ihrer übergrossen Blüten. „Also bist du jetzt hier, mein lieber, dummer Mann“, flüsterte sie und nahm behutsam eine der leuchtenden Blüten zwischen ihre Hände. „Wolltest nie ganz fortgehen von deiner alten Frau und deinem Garten. Jetzt werde ich dich pflegen und schützen, jetzt werde ich dein Gärtner sein.“

Erst als der erste frühe Herbstwind sie erschauern liess, wachte sie aus ihrer Erstarrung auf. Mühsam erhob sie sich, holte Gieskanne und Gartenschaufel und begoss die prächtige Rose, scharrte vorsichtig Gartenerde um ihre Stämmchen. Dann wandte sie sich schweren Herzens ab, um sich im Haus etwas zu Essen zu bereiten und sich aufzuwärmen. Als sie sich die Erde von den Fingern wusch, bemerkte sie ganz feine, weisse Punkte, die vorher nicht da gewesen waren.
 
D

Daniel Mylow

Gast
Hallo Rodolfo,
deine Geschichte hat mir wirklich gefallen! Die Idee ist schön und sie hat etwas wehmütig-tröstliches. Leider finde ich deine Wortwahl manchmal ein bißchen umständlich oder unglücklich- so das "räsonnierten" oder wenn die Frau "übermannt" wird. Es gibt einige Beispiele dafür, Grundtendenz meiner Kritik: die Sprache mehr dem Geschehen anpassen, fremde Wörter vermeiden, auch Erklärungen vermeiden, zumal du so schreibst, dass der Leser das auch so versteht. Herzliche Grüße Daniel
 

Rodolfo

Mitglied
Danke Daniel sowohl für dein Lob wie deine konstruktive Kritik!
Damit kann ich was anfangen. Ich liege ständig ein wenig im Clinch mit meinem altertümelnden Schreibstil. Zwar liebe ich halt solche Wörtchen wie das "räsonieren", aber wenn die Frau "übermannt" wird, ist dies dann schon des Guten zuviel!
Ich gehe jetzt noch einmal kritisch über den Text. Den Weg hast du mir gezeigt.

Herzlich: Rodolfo
 
C

cellllo

Gast
W u n d e r s c h ö n
diese Variation von Philemon und Baucis....

Ich finde der Sprachstil passt genau !
cellllo
 

Rodolfo

Mitglied
Schön, delllo, dass du meine alte Geschichte gefunden hast, die jedoch immer noch zu meinen Lieblingen gehört. Mein Vater war Gärtner, ist jetzt 97 und lebt mit meiner 95jährigen Mutter im Altersheim. Mutter ist schwer krank, weigert sich aber, vor meinem Vater zu sterben. Vater lebt meist in einer nur ihm bekannten Welt. Die kleine Geschichte gewinnt immer mehr an Realität. Da ich nicht an Götter und Leben nach dem Tod glaube, wollte ich für die Beiden eine andere Möglichkeit finden, nach dem Tod zusammen bleiben zu können.
Tut mir leid, wenn ich dir hier rührselige Geschichten erzähle, aber du hast mich halt gerade im falschen Moment erwischt.
 



 
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