Der andere Fahrgast

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Meckie Pilar

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Der andere Fahrgast

Die große Bahnhofsuhr zeigte drei Minuten vor neun. Sie hatte es also eben noch geschafft. Der Zug musste jeden Augenblick einlaufen. Hier am Gleis 2, ganz am Rande des Bahnhofgeländes war es düster. Nur wenige Lampen tauchten den Bahnsteig in ein trübes, orangefarbenes Licht. Merkwürdig nur, dass überhaupt niemand hier stand und wartete!
Auf einmal war es ganz still. Eben noch plärrte eine Lautsprecherdurchsage, die alles übertönte. Trotzdem hatte Viktoria kein Wort verstehen können. Sie hörte nur noch ihren Stoß weisen Atem. Das Rennen hatte sie angestrengt.
Erst jetzt bemerkte Viktoria, dass auf dem elektronischen Ankündigungsschild gar kein Zug angezeigt war. Aber hier war doch Bahnsteig 2! Sie schleppte ihre beiden Gepäckstücke ein paar Schritte weiter bis zu dem beleuchteten Glaskasten mit dem Fahrplan. Die Zeit stimmte. Auch das Gleis. Aber irgendetwas war trotzdem nicht in Ordnung.
Auf allen anderen Bahnsteigen standen Leute herum. Gleis 2 war als einziges menschenleer. Sie sah sich Hilfe suchend um. Jetzt entdeckte sie am Ende ihres Bahnsteiges eine Frau, die dort zu warten schien. Viktoria zerrte ihre Sachen weiter.
„Entschuldigung, haben Sie irgendwas gehört, kommt der Zug nach Schifferstadt heute nicht hier an?“
Die Frau drehte sich ihr langsam zu. Sie reagierte nicht gleich. Viktoria sah in ein grell geschminktes Gesicht, in abweisende, etwas verschwommene Augen. Die Frau schien zu überlegen, ob sie antworten wollte. „Keine Ahnung! Ich glaub, da war eben eine Durchsage“, sagte sie schließlich langsam und unbeteiligt. „Ich glaube, Sie müssen zu Gleis 7.“ Dann wandte sie sich wieder ab.
Viktoria versuchte über die Bahnsteige hinweg zu erkennen, ob ihr Zug schon auf Gleis 7 stand. Weiter hinten wartete ein Zug. Das konnte er sein.
Sie nahm seufzend ihr Gepäck wieder auf und hetzte zurück in Richtung Treppe. Jetzt hörte sie auch die Wiederholung der Durchsage: „Die Regionalbahn nach Schifferstadt fährt heute nicht am Gleis 2 ab, sondern am Gleis 7.“
Hoffentlich erwischte sie den Zug noch! Wenn sie die Anschlusszüge nicht mehr erreichen würde, säße sie irgendwo zwischen Mannheim und Speyer für heutige Nacht fest.
Viktoria fing an zu rennen. Der Koffer schlug ihr bei jedem Schritt gegen das rechte Bein. Sie hastete die Treppe hinunter durch die düstere, zugige Unterführung. Sie trat in eine ölig schimmernde Pfütze, die sich hier angesammelt hatte. Beinah wäre sie ausgerutscht. Als sie versuchte, ihr Gleichgewicht zu halten, stieß sie gegen einen Mann, der hier im Dunkeln gestanden hatte. Sie konnte sein Gesicht in der Eile nicht erkennen. Sie rannte weiter.
Bei Gleis 7 stolperte Viktoria die Treppe wieder hinauf. Der Zug stand noch da. Nur jetzt nicht in den falschen Zug einsteigen! Mit gehetztem Blick suchte sie die Waggonwände ab nach einem Hinweis über den Zielbahnhof. Nichts war zu sehen. Aber schließlich konnte es nur ihr Zug sein.
Normalerweise setzte sie sich in die obere Etage. Von dort hatte man die bessere Aussicht. Doch jetzt blieb sie lieber gleich unten. Vom Bahnsteig aus hatte sie sehen können, dass die Sitzplätze im Zug fast alle belegt waren. Auch oben war alles voll. Sie hätte außerdem auch gar nicht mehr die Kraft, ihren Koffer und die schwere Aktentasche die schmale Treppe hinauf zu wuchten. Ihr Atem ging noch immer schwer. So ein Gepäckschnelllauf war wirklich nichts mehr für sie. Und schon gar nichts für ihren Rücken.
Viktoria betrat das Zwischenabteil, das eigentlich für Reisende mit Fahrrädern und großen Gepäckstücken vorgesehen war. Hier war reichlich Platz. Sie war ganz alleine. Sie klappte sich einen der gepolsterten Notsitze herunter. Das würde ihr reichen. In 20 Minuten könnte sie ja schon wieder aussteigen. Wenn alles gut ging. Und bisher war schließlich alles klar gegangen.

Es war angenehm warm im Zug. Das tat gut nach dem feuchten und windigen Spätherbstwetter, das sie den ganzen Tag hatte ertragen müssen. Viktoria versuchte, sich zu entspannen. Der Notsitz war etwas zu kurz. Sie streckte die Beine von sich und machte es sich trotzdem so bequem wie eben möglich.
Jetzt schlossen sich die Türen automatisch und der Zug rollte an.
Die letzten Bahnhofslichter huschten vorbei. Hinter den großen Fenstern wurde es plötzlich dunkel. Von der Welt draußen war nichts mehr zu erkennen. Hinter ihrem Rücken huschte die schwarze Nacht vorbei.

Jetzt kam ein junges Mädchen mit kurzem, schwarzem Haar die Treppe vom oberen Stock herunter. Sie stieß die Glastür zum Zwischenabteil auf und setzte sich gegenüber von Viktoria auf einen der anderen Notsitze. Sie holte ihr Handy heraus und fing sofort an zu telefonieren. Das Mädchen würdigte Viktoria keines Blickes. Viktoria betrachtete sie ungeniert. Sie hatte knallenge Jeans an und einen sehr freizügigen Busenausschnitt an ihrem Pulli. Während sie sprach, kokettierte und scharwenzelte sie ununterbrochen mit dem ganzen schlanken, aber wohlgeformten Körper, obwohl ihr Gesprächspartner sie gar nicht sehen konnte. Wie alt mochte sie sein?
Viktoria beendete ihre Beobachtungen und schaute sich weiter um durch die Glastür, die ihr Zwischenabteil zur Treppe und zum oberen Stockwerk hinauf abschlossen.
Sie bemerkte ihn sofort. Sie hatte nur für den Bruchteil einer Sekunde sein Gesicht sehen können. Die rastlose Art, wie er dasaß, war ihr sofort aufgefallen. Der Mann war noch jung, trotzdem machte der ganze Mensch einen zerschundenen und verbrauchten Eindruck. Das lag nicht nur an seiner Kleidung. Im Gesicht hatte er irgendeine schlecht versorgte Wunde. Und gleichzeitig wirkte der Mann auf sie unverschämt. Seine Augen saugten sich ohne Hemmungen an allem fest, was er ansah. Der Mann hatte gerade in dem Moment, als sie ihn erblickte, selbst in das Zwischenabteil herunter gesehen. Ihre Augen waren sich begegnet. Viktoria schaute betroffen weg. Warum bloß fingen mit einem Mal alle Alarmglocken in ihrem Kopf an zu schrillen? Unversehens fühlte sie sich von einer fast erwürgenden Welle der Abneigung überschwemmt. Es peinigte sie, mit diesem Menschen in ein und demselben Zug zu sein. Warum musste sie immer solchen Menschen begegnen?
Viktoria hoffte inständig, dass der Mann eigentlich das aufreizende junge Mädchen angestarrt hatte. Aber eigentlich war ihr längst klar, dass er sie beobachtete. Vielleicht schon die ganze Zeit über.
Viktoria blieb unverändert sitzen, obwohl sich alles in ihr mit einem Mal anspannte. Sie sah aus dem Augenwinkel heraus, dass der Mann jetzt in die andere Richtung blickte und wagte es, noch einmal zu ihm hinaufzusehen. Sein Anblick jagte ihr erneut heftige Angst ein. Er war dünn und nicht besonders groß oder kräftig. Er bewegte sich, als hätte er getrunken. Sie sah, wie er auf andere Fahrgäste einredete, die neben ihm saßen und ganz offensichtlich nicht angesprochen werden wollten. Doch das schien ihn nicht weiter zu interessieren.
Wieder blickte er zu ihr herunter mit diesem hemmungslosen und gierigen Augenausdruck. Hoffentlich hatte er nicht bemerkt, dass sie ihn beobachtet hatte!
Viktoria versuchte noch immer, locker zu bleiben. Sie kannte solche Situationen. Sie hatte so was immer irgendwie gemeistert, war immer wieder heil davon gekommen. Und sicher bildete sie sich das alles sowieso nur ein. Warum sollte er denn ausgerechnet sie im Visier haben? Sie war bestimmt gut 20 Jahre älter als er. Sie dürfte nach der anstrengenden Bahnfahrt heute auch kaum attraktiv aussehen.
Er sah schon wieder zu ihr her. Wie alt und hässlich muss man eigentlich sein, um in Ruhe gelassen zu werden? Sie schaute nach dem jungen Mädchen. Aber das telefonierte und kümmerte sich nicht darum, was um sie herum geschah.
Viktoria schloss entnervt die Augen. Vielleicht war es doch ein Fehler gewesen, erst gegen Mittag loszufahren. Jetzt musste sie in den späten, dunklen Abendstunden auf fremden Bahnhöfen herumirren. Aber sie hatte noch so viel zu erledigen gehabt am Morgen.
Außerdem sah sie das nicht ein. Warum sollte man als Frau in diesem Lande nicht am Abend im November mit der Bahn fahren können?
Meine Güte, sie wollte doch nur ihre Ruhe! Sie sehnte sich danach, sich entspannen zu können. Sie hatte keine Lust mehr, vor irgendetwas auf der Hut sein zu müssen.
Aber sie ahnte es: Vorerst war ihre Ruhe vorbei.
Jetzt sah er wieder zu ihr herunter. Sie fühlte sich auf einmal wie ein Hase, der den Geruch des Jagdhundes gewittert hat. Sie versuchte, sich tot zu stellen.

Der Zug war gerade auf einem Bahnhof eingelaufen und stand jetzt still. Am liebsten wäre sie jetzt einfach hier ausgestiegen. Sie konnte dem heftigen Impuls nur mit Mühe widerstehen. Aber das durfte sie nicht: Sie würde sonst sicher heute Abend nicht mehr von hier wegkommen. In Schifferstadt aber stand ihr Anschlusszug und in knapp 10 Minuten wäre sie dann endlich in Speyer. Dort wartete ein warmes Zimmer mit einem frisch bezogenen Bett. Dort wäre sie in Sicherheit, vor wem auch immer!
Das junge Mädchen hatte aufgehört, zu telefonieren. Jetzt nahm sie ihre Tasche und ging ins nächste Abteil. Die Tür schloss sich hinter ihr. Viktoria saß jetzt wieder ganz alleine da. Der Schaffner war eben schon durch ihr Abteil gegangen und würde vorerst nicht wieder kommen.

Sie wusste es, bevor es wirklich geschah. Sie konnte es nicht verhindern. Er kam die Treppe herunter, er kam direkt auf sie zu. Sie saß in der Falle. Sie würde nicht einfach weggehen können mit ihrem schweren, sperrigen Gepäck. Es blieb ihr nichts übrig, als zu bleiben wo sie war. Die zehn Minuten, die es jetzt noch bis Schifferstadt dauerte, musste sie einfach durchstehen.

Er kam die Treppe herunter, stieß mit einer etwas zu heftigen Bewegung die Glastür auf und setzte sich ihr gegenüber auf einen der anderen Notsitze.
Viktoria beobachtete ihn ohne ihn offen anzusehen. So von Nahem wirkte er nicht wirklich gewalttätig, eher etwas angeschlagen. Vielleicht hatte sie sich in ihm getäuscht? Was wollte er also wirklich? So, wie er da saß, wollte er mit ihr reden, sonst nichts. Ein einsamer, gekränkter, nach menschlicher Wärme hungriger Wolf? Aber sicher war das nicht. Und auch solchen Wölfen ist nicht zu trauen. Viktoria bemühte sich mit aller Kraft, gleichmütig auszusehen.

„Haste ne Zigarette?“, fragt er jetzt.
‚Warum bloß ich?‘, denkt sie ärgerlich. ‚Warum bloß sucht sich der ausgerechnet mich aus?‘
Dass er sie duzt, ist vielleicht gar nicht als Provokation gemeint, überlegt sie. Vielleicht auch doch. Er muss eigentlich sehen, dass sie nicht aus seiner Gesellschaftsecke kommt. Was also an ihr bringt ihn dazu, herunter zu kommen und mit ihr anzubändeln? Und was will er von ihr? Hat er einfach seinen Spaß daran, ihr Angst einzujagen oder sucht er Kontakt?
„Ich rauche nicht.“ Sie versucht, es freundlich zu sagen. Sie ist auf der Hut. Sie will ihn nicht reizen.
„Kann ich mal dein Handy haben?“
„Ich hab keins“, lügt sie und wirft ihm einen kurzen Blick zu. Er scheint nicht sauer zu sein.
„Wo kommste denn her?“, setzt er seine Konversation fort. Was soll sie tun? Wenn sie schweigt, rastet er womöglich aus. Wenn sie antwortet, macht sie ihm Hoffnung.
„Aus Jena.“
„Ach, da aus dem Osten! Das wollte ich mir die ganze Zeit auch mal angucken. Die Leute reden immer nur so, aber da leben ja schließlich auch Menschen.“
Viktoria sieht überrascht auf. Irgendwie ist er fast rührend. Sie lächelt. Das scheint ihn zu ermutigen.
„Ich komm aus Hamburg. Ich arbeite da, weißt du? Jetzt fahre ich zu meinen Eltern. Die wohnen hier in Liebenheim.“
„Ach ja?“
„Wo musst du denn raus?“
Er möchte also reden. Das ist was wert.
„In Schifferstadt. Das muss jetzt gleich kommen.“
Erst in diesem Moment wird ihr bewusst, dass der Zug immer noch still steht. Es hat offenbar einen unerwarteten Aufenthalt gegeben. Sie muss trotzdem durchhalten. Wie lange bloß noch?
„In Hamburg ist es ganz schön“, fängt er wieder an. „Kennst du Hamburg?“
„Ja, kenn ich. Mir gefällt es auch.“
„Weiß du, ich bin Autolackierer. Ich hab die ganzen Jahre Arbeit gehabt, eine gute Stelle. Das ist heutzutage nicht mehr selbstverständlich!“
Sie nickt. Sie sieht ihn an. Der bedrohliche Eindruck von vorhin ist jetzt fast vollständig gewichen. Er kommt ihr nun eher vor wie ein allein gelassener Junge, der eine Mutter sucht. Das wäre dann also die harmlosere Variante, denkt sie unsicher.
„Komm doch mit nach Liebenheim!“, schlägt er jetzt vor.
„Ich muss doch noch weiter. Ich will noch nach Speyer. Da muss ich in Schifferstadt aussteigen, jetzt gleich.“
Das hätte sie ihm nicht auf die Nase binden dürfen, das mit Speyer, fällt ihr ein. ‚Wenn er jetzt einfach mit ihr aussteigt?’ Viktoria merkt, wie ihr plötzlich übel wird. Wenn doch nur der Zug endlich losfahren würde!
„Bist du verheiratet?“
„Nein.“
„Single?“
„Auch nicht.“
Er sieht sie zweifelnd an.
„Gibst du mir deine Telefonnummer?“ Er lässt nicht locker! Irgendwie muss sie ihn stoppen, denkt sie, irgendwo muss sie ihm die Stirn bieten.
„Ich glaube nicht“, wagt sie zu sagen. „Ich gebe nicht jedem meine Telefonnummer, den ich so treffe.“
Er sieht sie an und schweigt. Er wirkt traurig, nicht böse. Er sieht sie lange an, ohne jede Scham, wie ein Kind.
„Was machst du denn so, beruflich, mein ich?“
Viktoria seufzt. Sie hasst diese Frage. Was bloß soll sie sagen? Aber was soll er mit einer Professorin? Vielleicht macht ihn das sauer?
„Ich bin Lehrerin.“ Das scheint ihr nicht so provokativ.
„Hey, toll. Ich kenne jemanden, der ist Lehrerin!“, freut er sich. „Was denn für eine?“
„Was denken Sie denn?“ Das Fragespiel verbraucht Zeit. Das ist gut.
„Grundschule?“
„Nein.“
„Was denn dann?“
Viktoria zuckt mit den Achseln.
„Hauptschule?“
Sie schüttelt den Kopf.
„Realschule?“
„Nein.“
„Dann also Gymnasium, echt!?“ Er betont jede Silbe des fremden Wortes. Er ist stolz, dass er es aussprechen kann.
Sie hat das Gefühl, dass sie nicht noch weiter gehen darf, dass sie ihm nicht mehr zumuten kann. Sie nickt.
„Mensch, toll! So gebildet! Echt, das finde ich richtig gut!“
Er ist ehrlich begeistert.
Sie lächelt verloren. Sie spürt, wie ihr langsam die Luft ausgeht.
„Ich hab nur den Dingsda, den Hauptschulabschluss.“ Er sagt das zu ihr, wie man ein Schuldbekenntnis ausspricht. Der Mann hat angefangen, zu stottern. Er ist richtig aufgeregt.
„Das ist doch auch was! Das schafft doch heute auch nicht mehr jeder!“, hört sie sich sagen.
Er sieht sie an wie ein Hund, der gewohnt ist, nur Tritte zu bekommen, und der plötzlich gestreichelt wird.
Jetzt setzt sich der Zug wieder in Bewegung. Endlich! In etwa zehn Minuten müssen sie jetzt in Schifferstadt sein. Aber sie wird in jedem Fall an der nächsten Station aussteigen. Sie kann nicht mehr. Egal, ob es dann wirklich Schifferstadt ist oder nicht.
„Ich glaube, wir sind jetzt gleich in Schifferstadt“, sagt sie vorsichtig. „Ich gehe am besten schon vor zur Tür.“
„Gibst du mir dann deine Telefonnummer?“
„Ich hab Ihnen doch schon gesagt, dass ich das nicht mache.“
„Schade.“ Er sieht vor sich hin, ein wenig traurig, ein wenig vergnügt.
„Eine Lehrerin! War das eigentlich schwer, das Studieren?“
„Ach, nicht besonders. Es ging so.“
„Ich wäre auch gerne so was.“
„Ist Autolackierer nicht gut?“
Er schluckt. Wahrscheinlich hat er schon vergessen, dass er ihr das erzählt hat. Er kommt von ganz weit unten, das sieht ja jeder. Und sie sieht es sowieso.
Jetzt schweigen beide.
Verstohlen schielt sie auf ihre Uhr. Höchstens noch drei Minuten.
„Jetzt muss ich gleich aussteigen“, sagt sie und erhebt sich. Der Notsitz klappt sofort hoch.
„Dann möchte ich aber einen Abschiedskuss!“
Der Albtraum ist also noch nicht vorüber! Wenn sie sich weigert, was dann? Sie kann in ihrem Kopf schon sehen, wie sein Gesicht sich in Sekundenschnelle verwandelt und verzerrt, wie er sich von einem traurigen Tramp in einem brutalen Schläger verwandelt! Vielleicht tut sie ihm ja auch unrecht. Sie würde etwas darum geben, zu wissen, ob er ihre Angst spürt.
Er legt seinen Arm um ihre Schulter und küsst sie auf die rechte und dann auf die linke Wange. Und nun hält er ihr seine hin. Sie handelt wie ein Automat. Sie spürt weder Furcht noch Ekel. Das hier ist der Preis. Das muss gezahlt werden. Sonst entkommt sie nicht.
Dann lässt er sie gehen. Er bietet ihr nicht an, ihr Gepäck zum Ausgang zu tragen.
An der Tür steht bereits ein gut gekleideter, älterer Herr mit einem großen Koffer. Sie stellt ihr Gepäck daneben und schaut durch die Glasscheibe in die Dunkelheit hinaus. Jetzt fliegen die ersten Lichter vorbei. Der Zug verlangsamt die Fahrt und rollt in einen Bahnhof ein. Es kommen immer mehr Menschen die Treppe herunter.
Sie fühlt sich wieder sicher. Er steht an der Zwischentür hinter all den Menschen, die mit ihr aussteigen wollen. Sie sieht ihn kaum hinter den Köpfen der anderen.
„Tschüß“, sagt er und wirkt auch jetzt noch traurig.
„Tschüß“, murmelt sie, sie sagte es zur Tür, nicht in seine Richtung.
Als sie auf dem Bahnsteig steht, merkt sie plötzlich, wie stark ihr Herz klopft.
Viele sind mit ihr ausgestiegen. Die meisten von ihnen wohnen offenbar hier. Der Bahnsteig leert sich rasch. Nur wenige Fahrgäste wollen noch weiter. Der Anschlusszug ist schon weg, er hat natürlich nicht gewartet. Nun wird der Zug erst in 45 Minuten kommen. Und das ist dann für heute der letzte.

Mit Viktoria zusammen ist eine junge Frau ausgestiegen, die sich sehr ärgert, weil sie den Zug verpasst haben. Der Mann mit dem Koffer, der mit ihnen zusammen den Zug verlassen hat, ist nirgends mehr zu sehen. Weiter hinten im dämmrigen Licht sieht Viktoria ein aufgeregtes Pärchen, das heftig gestikuliert und laut mit einander spricht. Irgendwo im Dunklen steht halb verdeckt von einer Betonsäule ein Mann und schaute zu ihnen herüber. Sonst ist der Bahnsteig leer.
Viktoria steht mit ihrem Gepäck neben der jungen Frau.
„Was bin ich froh, dass ich da raus gekommen bin!“
Die Frau lächelt dünn und schweigt. Sie scheint an einem Gespräch nicht interessiert zu sein.
Der einsame Mann ist näher gekommen. Er steht noch immer im Schatten, sie kann sein Gesicht nicht erkennen. Er hat sich eine Zigarette angezündet. Er hat kein Gepäck.

Die Frau, die neben ihr steht, hat auf einem anderen Bahnsteig weiter hinten einen Bekannten entdeckt. Sie nimmt sie ihr Gepäck und läuft zu ihm.
Viktoria steht alleine wieder neben ihrem Koffer.
 
L

Larissa

Gast
Hallo Meckie Pilar,

du hast eine beklemmende Situation sehr subtil und eindringlich beschrieben. Die lähmende Angst der Protagonistin wird präzise herübergebracht, springt auf den Leser über, lässt den Atem stocken.

Aufatmen, Erleichterung, als Viktoria schließlich mit heiler Haut der lauernden Gefahr entkommen ist. Noch einmal gut gegangen ... Und dann die überraschende Wendung.

Spätestens als die junge Frau sich abwendet und der zweite
düstere Geselle auftaucht, gefriert das Blut in den Adern.
Großartig!

Beklommene Grüße

Larissa
 
H

HFleiss

Gast
Liebe Pilar,

du hast dir viel vorgenommen: eine differenzierte, zufällige Begegnung von Menschen, die sonst eigentlich nicht so nahe zusammenkommen, zu beschreiben. Die Idee zu diesem Stoff gefällt mir. Doch die Ausführung lässt mich nicht in jedem Fall zufrieden zurück, ich sag es dir gleich mit Bedauern vorweg. Du hast dir viel Mühe gegeben, daraus einen langen Text zu machen, und lang ist er wirklich geworden, insofern ist dieser Teil des Unternehmens gelungen.

Eine nervöse feine Dame (Professorin mit ausgeprägtem Feingefühl, dies der unteren Klasse nicht mitteilen zu können, ohne vor Scham im Boden zu versinken) fühlt sich während einer Bahnfahrt von einem
Arbeiter („Er kommt von ganz weit unten, das sieht ja jeder“) belästigt. Wenn du das einfach als Tatsache stehen lässt, dasmit dem ganz weit unten, werden einige Leser spätestens an dieser Stelle ihre Lektüre unterbrechen. Das aber ist die Situation, das ist die ganze Handlung, die betont wird durch den Wechsel vom Präteritum ins Präsens. Alles Drumherum ist Beschreibung, sehr wortreiche, du bist buchhalterisch darauf bedacht, nichts auszulassen, und für die eigentliche Handlung nicht in allen Fällen relevant. Aber auch bei Beschreibungen kommt es meiner Ansicht nach auf die Auswahl an. Du führst Personen ein, die dann auf die Handlung in keiner Weise einwirken, zum Beispiel die junge Frau, sie „schwarwenzelte ununterbrochen mit dem ganzen schlanken, aber wohlgeformten Körper“ (eine, wie ich finde, nicht ganz glückliche Beschreibung), am Schluss noch eine Frau, die nun gar nichts mehr tut, als dass sie auf dem anderen Gleis einen Bekannten entdeckt. Nun kannst du sagen, das gehört zur Ortsbeschreibung, und da hast du recht, aber inzwischen kennen wir den Ort ziemlich genau, und von gestern sind deine Leser auch nicht, sie wissen, dass es auf Bahnhöfen mehrere Reisende gibt.

Mir hätte die Geschichte besser gefallen, wenn du dich ganz auf die Begegnung der beiden beschränkt und die Örtlichkeit mit wenigen Strichen beschrieben hättest. So muss man sich seitenlang durch nicht allzu Ergiebiges durchlesen, bis man zum Eigentlichen kommt, und zum Schluss hängst du noch ein völlig unwesentliches Schwänzchen dran, statt die Handlung hochzuziehen. Die Handlung selbst bietet nichts Ungewöhnliches, beinahe jeder Frau ist solch eine Begegnung schon einmal im Leben passiert. Nun ist aber nicht jede Frau eine nervöse feine Frau Professor, und wenn du diese Personenkonstellation benutzt, dann erwarte ich als neugierige Leserin, dass sich die Handlung aus diesem gesellschaftlichen Hintergrund ergibt. Das aber tut sie nicht. Es ist mehr oder weniger ein allgemein-konkretes Geplänkel, die Situation ist nicht besonders auf die Spitze getrieben (bis auf den Kuss, na ja), die Personen gehen aus dieser Begegnung nicht verändert hervor. Das aber ist der Dreh- und Angelpunkt einer Geschichte.

Im ersten Teil der Erzählung deutest du etwas an: „Aber irgendetwas war trotzdem nicht in Ordnung.“ Hier geht es um die Beschreibung des Bahnhofs. Ich als durchschnittliche Leserin erwarte jetzt, dass sich auf diesem Bahnhof irgendetwas abspielen wird (die eigentliche Handlung). Aber April, April - die Handlung spielt sich im Zug ab.

Die Charakterisierung ist mir stellenweise nicht differenziert genug. Du hast recht, auch eine Frau Professor ist eine einsame Frau in dieser Situation, und sie hat wie tausend andere einsame Frauen in dieser Situation Angst. Dass ihr dennoch mit einem Mal einfällt, der dreckige Kerl ist nur die Hälfte von mir wert, schließlich bin ich sogar eine Professorin und der Typ da nur Arbeiter – der Leser muss in deiner Lesart ihre Reaktionen auf das irgendwie angeborene flegelhafte Verhalten des Mannes zurückführen -, und du dieses nicht in den Mittelpunkt der Erzählung stellst, das empfinde ich als verschenkt. Befremdend sogar finde ich den kommentarlosen Satz: „Ein einsamer, gekränkter, nach menschlicher Wärme hungriger Wolf?“ Als ob ein Arbeiter unbedingt ein einsamer, gekränkter, hungriger Wolf sein muss. Schon den Vergleich mit dem Wolf nehme ich dir ein wenig übel, dann ist die Dame nämlich eine dämliche Ziege, der man den Hintern versohlen sollte. Dass ich darauf komme, liegt daran, dass diese Frau aus dieser Begegnung nichts, aber auch gar nichts lernt. Und das liegt meiner Ansicht nach am Autor.

Was mir auffällt am Stil: Reihenweise kurze Sätze Subjekt, Präsidikat, Objekt. Das ist mir noch ein wenig zu eintönig. Lesbar wird ein Text doch erst durch die Mischung von kurzen, mittellangen und langen Sätzen. So aber habe ich das Gefühl, dass du beim Schreiben ein bisschen kurzatmig warst.

Ich weiß nicht, ob du bereit bist, auf die angesprochenen Punkte einzugehen. Ich habe deine Geschichte ernst genommen und will dir kein Allerweltslob spenden, ein Lob allerdings verdienst du wie jeder, der sich mit einer Geschichte abmüht – hier ist es, sehr gern würde ich noch sehr viel mehr loben, - es ist ein interessanter Stoff, aus dem du mit ein wenig Überarbeitung eine wirklich gute Geschichte machen könntest. Du weißt, hier gibt es nur persönliche Meinungen, dies ist wie immer eine von vielen.

Lieben Gruß
Hanna
 

Meckie Pilar

Mitglied
Liebe Hanna,
ich bin beeindruckt, dass du dich so ausgiebig und lange mit meinem Text beschäftigt hast.
Danke für manschen Hinweis und manche Anregung, ich werde sie einarbeiten.
Dennoch: Wenn ich nicht vorher auch die Rückmeldung von Larissa bekommen hätte, ich glaube, ich wäre ganz schön perplex gewesen.
Besonders, dass du den beschriebenen Mann immer als Arbeiter bezeichnest und dann im Gegesatz zu der Professorin siehtst - und damit eine Geschichte wahrnimmst, in der eine feine Dame sich über einen armen Mann erhebt, (was eigentlich hätte sie lernen sollen?) hat mich aus den Socken gehauen. Ich fühle mich an dieser Stelle falsch verstanden. Aber da muss ich mich wohl selber an die Nase packen, denn wenn der Text solche Irrtümer hergibt, dann habe ich vermutlich was falsch gemacht.
Es handelt sich nicht um das Problem sozialer Unterschiede sondern um die Hilflosigkeit einer Frau, die mit jemand konfrontiert wird, der ihr Angst macht, weil er sich so verhält, dass sie sich weder auf Regeln der Rücksicht und des zwischenmenschlichen Understatements verlassen kann noch darauf, dass das Gegenüber ihre Person und ihren Wunsch, in Ruhe gelassen und nicht berührt zu werden, respektiert. Obwohl sie vielleicht "über" ihm steht und in jeder anderen Situation in der Lage wäre, ihn von sich fern zu halten, ihn einfach stehen zu lassen oder auch, ganz lässig und cool mit ihm zu reden - hier, alleine, eingesperrt in diesen fahrenden Zug, beschwert und unbeweglich durch Gepäck und Erschöpfung, ist sie es nicht. Und deshalb ist sie völlig aufgeschmissen und hilflos und kann nur noch versuchen, irgendwie halbwegs heil aus der Sache heraus zu kommen.
Und diese Situation zu zeigen, das ist die Absicht meiner eindringlichen Bahnhofschilderungen, das ist der Hintergrund für den etwas atemlosen Stil und vor allem ist das die Funktion der Tatsache, dass ständig andere Menschen auftauchen, sie aber trotzdem immer wieder alleine bleibt. Du schreibst: "Du führst Personen ein, die dann auf die Handlung in keiner Weise einwirken". Genau das ist es aber. Das macht die Situation so einsam und hilflos. Mir ist das überhaupt erst jetzt beim Wiederlesen aufgefallen, ich hatte das gar nicht bewußt so gemacht. Aber es hat eben genau diese Funktion und das werde ich wohl nicht ändern.
Das Schwänzchen, wie du es nennst, ist tatsächlich nicht besonders glücklich formuliert. Es geht darum, dass sie sich in Sicherheit glaubt, dass aber alles - vielleicht - wieder von vorne losgeht....
Und dann noch:
Warum sollten oder müßten die Personen deiner Meinung nach verändert aus dieser Situation hervorgehen? Sie wird vielleicht ein bisschen mehr Angst haben. Und er wird sich vielleicht eins lachen. Mehr kaum. Aber die Geschichte soll doch keine "Lehrgeschichte" sein, kein Entwicklungsroman...

Wie gesagt, die Geschichte sollte so ankommen, wie sie bei Larissa angekommen ist (was mich sehr freut!). Aber gelernt habe ich tatsächlich ganz viel aus deinem Kommentar. Danke noch mal für deine Mühe!
LG Meckie
 
H

HFleiss

Gast
Liebe Meckie Pilar,

was soll ich dir darauf antworten? Wenn du diese Geschichte, wie sie jetzt ist, in einem sehr konservativen Kreis vorliest, wirst du auf Beifall stoßen wegen der gesellschaftlichen Aussage: Besserverdienende sind bessere Menschen als Schlechterverdienende, die wissen sich noch zu benehmen, Leute der "Unterschicht", wie man Arbeiter neuerdings nennt, haben eben keine Kinderstube gehabt. Das ist sehr plakativ, und so etwas sollte man wirklich vermeiden. Stell dir vor, du hättest die Geschichte umgekehrt geschrieben: Ein vermögender Mann in guter gesellschaftlicher Position verirrt sich nachts in einen Zug, trifft dort auf eine alleinreisende junge Verkäuferin eines Supermarktes, baggert sie an, und die junge Frau wehrt sich. Wäre ein solcher Vorgang von deinem Standpunkt aus möglich? Das wäre nicht nur ein interessanterer Konflikt für eine Geschichte, das ist mein Standpunkt. Jeder Autor verrät auch etwas von sich selbst, egal, was er schreibt.
Du fragst, weshalb die Personen verändert aus einer Geschichte hervorgehen sollten. Es ist ganz einfach: Wenn die beiden nur über Unwichtiges parlieren, was sie nicht weiter berührt, ist auch der Leser nicht weiter berührt. Es ist tatsächlich ein Grundsatz einer Geschichte, dass die Personen gegenüber ihrem Eintritt in die Geschichte verändert hervorgehen sollten, positiv oder negativ im Autorensinne, erst dann gewinnt der Text Spannung. Ich habe dir geschrieben, dass ich die Konversation der beiden lediglich für Geplänkel halte, und insofern habe ich auch fehlende Spannung beklagt.
Was die übermäßig lange Beschreibung angeht: Beschreibung ja, aber sie muss in einem relativen Verhältnis zur Handlung stehen. In deiner Geschichte wuchert sie, sehr oft auch funktionslos.
Es tut mir wirklich leid, ich kann dir nichts anderes schreiben, das ist nun mal meine Meinung.

Lieben Gruß
Hanna
 

Mumpf Lunse

Mitglied
Hallo,
Interessant euer Disput, HFleiss und Meckie Pilar.
Was die Länge der Beschreibungen und die etwas abgehackte Schreibweise angeht, schließ ich mich Hfleiss an.
Was das Ideologisieren angeht, bin ich unentschlossen.
Mir fällt das Fehlen von Zwischentönen auf. Entweder es gibt keinen Kontakt oder es fehlt jede Distanz.
Das Bedrohliche an der Situation entsteht nicht aus der "Realität", sondern aus der Fantasie der Protagonistin.
Oder aus ihrer Unfähig-/Unwilligkeit angemessenen Kontakt zu bekommen.
Der Zug ist - bis auf den Raum, für den die Frau sich entschieden hat - brechend voll. Was könnte den passieren?
Welche Bedrohung - ob real oder in der Fantasie existiert denn? Du deutest an das sie sich sexuell bedroht fühlt. Sie relativiert das aber sofort. Also frag ich mich: worum geht es eigentlich? Hier wird es vielleicht doch noch ideologisch. Für mich liest es sich so: Die Frau Professor kommt durch widrige Umstände (Reise mit der Regionalbahn - im ICE ist man ja unter sich - so man es sich leisten kann.) mit einer fremden Welt in Kontakt. Da wimmelt es von Menschen, die nach anderen Spielregeln agieren. Sowas verunsichert, macht Angst.
Oder ist das ein weiterer Beitrag zu einem beliebten Thema? Frauen haben es schwerer als Männer.
Die Idee von HFleiss das Ganze umzudrehen ist schon recht reizvoll. Allerdings würde ich es in einem anderen Sinn umdrehen. Ein müder, genervter Akademiker sitzt im Zug und eine 20 Jahre jüngere Hauptschülerin versucht ein Gespräch mit ihm zu führen. "haste mal ne Zigarette?" usw. ... "aber dann will ich wenigstens einen Abschiedskuss" ...
Nun weiß ich ja nicht, welche Assoziationen da bei anderen entstehen, aber ich vermute niemand würde das als bedrohlich lesen. Es wär wohl eher auf eine tragische Weise romantisch. Mein Fazit: Die Bedrohung ist Produkt von "Weltsicht". Insofern kein Text über eine bedrohliche Situation, sondern ein Text über "Konstruktion von Wirklichkeit".

Zum Abschluss vielleicht noch:
Ein Text, der zum Diskutieren anregt, ist gut!

Viele Grüße

Mumpf
 
H

HFleiss

Gast
Nee, Mumpf, mit Ideologie hat das gar nichts zu tun. Man nennt schnell mal Ideologie, was einem nicht in den Kram passt. Sondern es ist doch so, dass jeder Mensch einen gesellschaftlichen, sozialen Hintergrund hat, aus dem heraus er agiert, der gehört zu ihm wie seine Augenfarbe, und den legt er in keiner Situation ab. So habe ich das jedenfalls gelernt, als wir Charakterisierung hatten. Und damit erhielte diese Geschichte, die jetzt irgendwo an der Oberfläche plätschert (weil eben keine echte Beziehung entsteht, auch aus diesem Grunde), ihre Tiefe.

Gruß
Hanna
 

kranich

Mitglied
Je länger ich über diese Geschichte nachdenke, um so weniger habe ich grundsätzlich daran auszusetzen....

Zunächst mal: Ich glaube nicht, daß die Geschichte eine ideologische Gegenüberstellung Oberschicht/Unterschicht wirklich hergibt. Dazu sind beide Hauptfiguren viel zu individuell gestaltet, viel zu wenig bloße Typen.

Ja, die Geschichte hat Längen. Aber fast alle Einzelbeschreibungen sagen Wichtiges über die psychisch-physische Verfassung der Frau. Trotzdem, einige Male wäre vielleicht weniger mehr gewesen (besonders in dem ersten Teil bis zum Anrollen des Zuges).

Vielleicht ist mir die Angst der Frau nicht "dicht" genug. Sie betrachtet ausgiebig das junge Mädchen und läßt auch sonst ihre Blicke fast munter schweifen. Und auch den insgesamt als bedrohlich empfundenen Gesprächspartner nimmt sie in vielen Passagen wertfrei oder sogar mit einer positiv Nuancierung wahr. Sie vermag aber aus solchen Beobachtungen/Empfindungen keine Schlüsse zu ziehen, die ihr helfen würden, ihre Beklemmung zu überwinden.

Larissas Diskussionsbemerkung macht mir verständlich, daß vermutlich vielen Frauen solch Erleben solcher Situationen nicht unbekannt ist. Vielleicht hat die Autorin doch nicht tief genug ins Herz ihrer Heldin geschaut, um verständlich zu machen, warum diese so beklemmend hilflos in ihrer Angst gefangen bleibt. Ja, mir scheint, die Heldin empfindet etwas, wird von etwas gefangen gehalten, das nicht völlig aus der Situationsschilderung erklärbar ist.
 
D

Dominik Klama

Gast
Eine Professorin aus Jena reist an einem ungemütlichen Spätherbstabend mit der Bahn von Mannheim nach Speyer. Sie sitzt auf einem der Klappsitze in der für Radfahrer freigehaltenen Zone eines Doppelstockwagens, als sie bemerkt, dass sie vom oberen Stock her von einem jüngeren, bedrohlich wirkenden Mann fixiert wird. Er, der bereits oben unwillkommenen Kontakt zu anderen Fahrgästen gesucht hat, steigt herunter und beginnt, sie duzend, ein Gespräch mit aufdringlich neugierigen Fragen. Erotisch scheint er an der wesentlich älteren Frau interessiert zu sein und zeigt sich sehr beeindruckt, dass sie „Lehrerin“ ist, während er bloß Hauptschulabschluss habe und Autolackierer sei. Sie solle doch mitkommen in seinen Heimatort, lädt er sie ein. Zum Glück nähert man sich gerade dem Umsteigebahnhof Schifferstadt, die Frau fasst es als abschließendes Opfer auf, dass sie sich zum Abschied von dem Fremden auch noch auf die Wange küssen lassen muss. Weil es aber einen unvorhergesehenen Halt auf offener Strecke gegeben hatte, ist der Anschluss bereits weg, der Bahnsteig leert sich schnell, halb verdeckt scheint weiter hinten aber der Aufdringliche noch zu warten. Die Reisende klammert sich in ihrer Angst an eine andere Frau, versucht ihr ein Gespräch aufzudrängen, doch als diese sich verabschiedet, steht sie allein in der Nacht mit dem unheimlichen Fremden.


Vom Ansatz her eine literarisch durchaus lohnende Konstellation alltäglichen Horrors (vor allem für Frauen). Auch der offene Schluss, der dem Leser die Möglichkeit lässt sich vorzustellen, der wirkliche Schrecken dieses Abends komme jetzt erst noch, ist von der Konzeption her gar nicht übel. Jedoch stellt sich Meckie Pilar erzählerisch mehrfach selbst das Bein, vor allem, indem sie im Leser den Verdacht aufkommen lässt, ihre Protagonistin sei eine überängstliche, dazu noch herablassende „Schnepfe“.

Der Bahnhof, wo alles mit einer durch die dortigen Umstände höchst verwirrten Reisenden beginnt, befindet sich zwischen Mannheim und Schifferstadt. Da darf ich wohl mal davon ausgehen, dass es sich um Ludwigshafen Hbf handelt. Also tatsächlich um eine Station „wie gemacht für einen Horrorfilm“, auf ihre spezielle Art wohl ziemlich einmalig im gesamten Deutschland. In einem Buch las ich mal, bei seiner Eröffnung in den sechziger Jahren (stimmt hoffentlich) sei dieser „Hauptbahnhof“ (faktisch ist er das mittlerweile gar nicht mehr) für ultramodern und benutzerfreundlich gehalten worden, habe sich im Lauf der Jahre aber als „die reine Katastrophe“ herausgestellt und werde nun von der DB systematisch heruntergewirtschaftet. Leider muss ich sagen, es ist Meckie Pilar nicht gelungen, diese Horrorstimmung (die dort wirklich vorhanden ist) angemessen in Worte zu fassen. Vielmehr bekommt man den Eindruck, es mit einer Frau zu tun zu haben, die zusammenklappt, wenn sie zwei Taschen tragen muss und ein Zug ausnahmsweise mal auf einem anderen Bahnsteig abfährt als dem, der auf dem gelben Plan steht.

Das geht so weiter, wenn sie mehrfach versucht, eine Verhängnis-Stimmung zu wecken, zu welcher es eben passt, dass man isoliert und ohne jede Chance auf Hilfe von Dritten in der Falle sitzt, sich aber nur wenige Worte weiter Hinweise finden lassen, dass da überall noch weitere Reisende warten, die vielleicht aktiv werden könnten, wenn der Protagonistin tatsächlich etwas zustoßen würde.

> „Auf einmal war es ganz still. Eben noch plärrte eine Lautsprecherdurchsage, die alles übertönte.“

Was hat der Lautsprecher eigentlich übertönt, wenn weit und breit kein Mensch zu sehen ist?

> „Gleis 2 war als einziges menschenleer.“

Andernfalls würde es diesen Menschen wohl schlecht ergehen, wenn der auf dem Abfahrtsplan angekündigte Zug in Kürze einfährt.

Ja, eben. Erst ist alles auffällig still und völlig menschenleer, dann sieht man den nächsten Bahnsteig voller Menschen! Was von der unzureichenden Lautsprecheranlage übertönt wurde, dürften allerdings doch eher allgemeine Hintergrundgeräusche wie Autoverkehr (toll sind ja die Fahrbahnen, die sich großzügig über Ludwigshafen Hbf wegranken) oder weiter weg rangierende Loks gewesen sein. Nur: Sie schreibt es nicht.

> „Hinter ihrem Rücken huschte die schwarze Nacht vorbei.“

Tut sie das wirklich? Es huschen wahrscheinlich erleuchtete Fenster, Autoscheinwerfer oder Neonschilder vorbei. Aber die schwarze Nacht? Die steht ständig gleich schwarz und unbeweglich.

> „Viktoria beendete ihre Beobachtungen und schaute sich weiter um...“

Schon klar, was gemeint ist: Sie schaut nicht mehr das telefonierende Mädchen an, sie schaut woanders hin. Dennoch ist der Satz sprachlich nicht stimmig: Sie beobachtet weiter.

> „Warum musste sie immer solchen Menschen begegnen?“

Mir sagte mal einer: „Weil in den öffentlichen Verkehrsmitteln eben alle fahren, das ganze Volk.“ Genau dies ist der Grund, warum die 1. Klasse ganz bestimmt nicht abschafft werden wird. Bequemer sitzt man dort ja meistens nicht. Und pünktlicher kommt man auch nicht an. Aber man sitzt eben „für sich“. (Aber wisst ihr, was eines Tages passieren wird? Sie werden eine Extraklasse für Raucher einführen. Für die man dann aber auch mehr zahlen muss. Abgeschafft haben sie die Raucherabteile angeblich der allgemeinen Gesundheit zuliebe, in Wahrheit eher der eigenen Kostenersparnis wegen. Wenn sich jetzt ein Weg findet, dank Rauchern zu mehr Gewinn zu kommen, werden sie so sehr lange nicht zaudern.)

> „Jetzt fliegen die ersten Lichter vorbei.“

Ja, Fliegen ist letztlich etwas schneller als Huschen.

Es war schon ziemlich unwahrscheinlich, was da stand, dass sie, wohlgemerkt: sitzend (!), vom unteren Stockwerk aus nicht allein den komischen Typen oben sehen konnte, sondern auch mindestens einen weiteren Reisenden, den dieser offenbar angefasst hat. Dazu müsste sie sich schlangenmenschartig verkrümmt haben. Dann aber versucht die Autorin im Leser den Eindruck zu erwecken, weit und breit sei kein Mensch zu entdecken, der Viktoria zur Hilfe kommen könnte, wenn sie Notsignale ausstoßen würde. (Dass kein DB-Personal da ist, welches zur Hilfe kommen würde, DAS wissen wir. Die DB hat Selbiges über Jahre hinweg abgebaut, weil die DB schließlich Gewinn machen muss, nicht für uns, ihre derzeitigen Eigentümer, sondern für die, die sie demnächst dann mal eignen werden, diese „neue“ DB.) Nur um kurz darauf von wahren Massen zu schreiben, die in Schifferstadt aus dem Zug steigen. Und dazu noch einen Mann zu erwähnen, der anscheinend bereits an der Wagentüre wartet, während der Belästiger ihr seine vielleicht ja wirklich lieb gemeinten Schmatzer zukommen lässt.

So reduziert sich mit der Zeit die Geschichte leider auf die „Tragödie“ einer Person, die „nein“ meint, dies aber nicht unmissverständlich ausdrücken kann. Dabei war der Horror-Einfall doch wohl eher der: eine Person, die von anfänglich recht alltäglich wirkenden Zudringlichkeiten immer mehr eingekreist wird, sich allzu lange einredet, das werde schon alles wieder gut, dann merkt, dass sie tatsächlich Opfer in den bösen Machenschaften eines anderen ist, diesem dann eben noch entschlüpft zu sein glaubt, nur um zu merken, dass sie jetzt rettungslos in der Falle sitzt. (Das typische Stephen-King-Muster halt. Oder meinetwegen Poe, King hat auch nicht alles erfunden.)
 



 
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