Meckie Pilar
Mitglied
Der andere Fahrgast
Die große Bahnhofsuhr zeigte drei Minuten vor neun. Sie hatte es also eben noch geschafft. Der Zug musste jeden Augenblick einlaufen. Hier am Gleis 2, ganz am Rande des Bahnhofgeländes war es düster. Nur wenige Lampen tauchten den Bahnsteig in ein trübes, orangefarbenes Licht. Merkwürdig nur, dass überhaupt niemand hier stand und wartete!
Auf einmal war es ganz still. Eben noch plärrte eine Lautsprecherdurchsage, die alles übertönte. Trotzdem hatte Viktoria kein Wort verstehen können. Sie hörte nur noch ihren Stoß weisen Atem. Das Rennen hatte sie angestrengt.
Erst jetzt bemerkte Viktoria, dass auf dem elektronischen Ankündigungsschild gar kein Zug angezeigt war. Aber hier war doch Bahnsteig 2! Sie schleppte ihre beiden Gepäckstücke ein paar Schritte weiter bis zu dem beleuchteten Glaskasten mit dem Fahrplan. Die Zeit stimmte. Auch das Gleis. Aber irgendetwas war trotzdem nicht in Ordnung.
Auf allen anderen Bahnsteigen standen Leute herum. Gleis 2 war als einziges menschenleer. Sie sah sich Hilfe suchend um. Jetzt entdeckte sie am Ende ihres Bahnsteiges eine Frau, die dort zu warten schien. Viktoria zerrte ihre Sachen weiter.
„Entschuldigung, haben Sie irgendwas gehört, kommt der Zug nach Schifferstadt heute nicht hier an?“
Die Frau drehte sich ihr langsam zu. Sie reagierte nicht gleich. Viktoria sah in ein grell geschminktes Gesicht, in abweisende, etwas verschwommene Augen. Die Frau schien zu überlegen, ob sie antworten wollte. „Keine Ahnung! Ich glaub, da war eben eine Durchsage“, sagte sie schließlich langsam und unbeteiligt. „Ich glaube, Sie müssen zu Gleis 7.“ Dann wandte sie sich wieder ab.
Viktoria versuchte über die Bahnsteige hinweg zu erkennen, ob ihr Zug schon auf Gleis 7 stand. Weiter hinten wartete ein Zug. Das konnte er sein.
Sie nahm seufzend ihr Gepäck wieder auf und hetzte zurück in Richtung Treppe. Jetzt hörte sie auch die Wiederholung der Durchsage: „Die Regionalbahn nach Schifferstadt fährt heute nicht am Gleis 2 ab, sondern am Gleis 7.“
Hoffentlich erwischte sie den Zug noch! Wenn sie die Anschlusszüge nicht mehr erreichen würde, säße sie irgendwo zwischen Mannheim und Speyer für heutige Nacht fest.
Viktoria fing an zu rennen. Der Koffer schlug ihr bei jedem Schritt gegen das rechte Bein. Sie hastete die Treppe hinunter durch die düstere, zugige Unterführung. Sie trat in eine ölig schimmernde Pfütze, die sich hier angesammelt hatte. Beinah wäre sie ausgerutscht. Als sie versuchte, ihr Gleichgewicht zu halten, stieß sie gegen einen Mann, der hier im Dunkeln gestanden hatte. Sie konnte sein Gesicht in der Eile nicht erkennen. Sie rannte weiter.
Bei Gleis 7 stolperte Viktoria die Treppe wieder hinauf. Der Zug stand noch da. Nur jetzt nicht in den falschen Zug einsteigen! Mit gehetztem Blick suchte sie die Waggonwände ab nach einem Hinweis über den Zielbahnhof. Nichts war zu sehen. Aber schließlich konnte es nur ihr Zug sein.
Normalerweise setzte sie sich in die obere Etage. Von dort hatte man die bessere Aussicht. Doch jetzt blieb sie lieber gleich unten. Vom Bahnsteig aus hatte sie sehen können, dass die Sitzplätze im Zug fast alle belegt waren. Auch oben war alles voll. Sie hätte außerdem auch gar nicht mehr die Kraft, ihren Koffer und die schwere Aktentasche die schmale Treppe hinauf zu wuchten. Ihr Atem ging noch immer schwer. So ein Gepäckschnelllauf war wirklich nichts mehr für sie. Und schon gar nichts für ihren Rücken.
Viktoria betrat das Zwischenabteil, das eigentlich für Reisende mit Fahrrädern und großen Gepäckstücken vorgesehen war. Hier war reichlich Platz. Sie war ganz alleine. Sie klappte sich einen der gepolsterten Notsitze herunter. Das würde ihr reichen. In 20 Minuten könnte sie ja schon wieder aussteigen. Wenn alles gut ging. Und bisher war schließlich alles klar gegangen.
Es war angenehm warm im Zug. Das tat gut nach dem feuchten und windigen Spätherbstwetter, das sie den ganzen Tag hatte ertragen müssen. Viktoria versuchte, sich zu entspannen. Der Notsitz war etwas zu kurz. Sie streckte die Beine von sich und machte es sich trotzdem so bequem wie eben möglich.
Jetzt schlossen sich die Türen automatisch und der Zug rollte an.
Die letzten Bahnhofslichter huschten vorbei. Hinter den großen Fenstern wurde es plötzlich dunkel. Von der Welt draußen war nichts mehr zu erkennen. Hinter ihrem Rücken huschte die schwarze Nacht vorbei.
Jetzt kam ein junges Mädchen mit kurzem, schwarzem Haar die Treppe vom oberen Stock herunter. Sie stieß die Glastür zum Zwischenabteil auf und setzte sich gegenüber von Viktoria auf einen der anderen Notsitze. Sie holte ihr Handy heraus und fing sofort an zu telefonieren. Das Mädchen würdigte Viktoria keines Blickes. Viktoria betrachtete sie ungeniert. Sie hatte knallenge Jeans an und einen sehr freizügigen Busenausschnitt an ihrem Pulli. Während sie sprach, kokettierte und scharwenzelte sie ununterbrochen mit dem ganzen schlanken, aber wohlgeformten Körper, obwohl ihr Gesprächspartner sie gar nicht sehen konnte. Wie alt mochte sie sein?
Viktoria beendete ihre Beobachtungen und schaute sich weiter um durch die Glastür, die ihr Zwischenabteil zur Treppe und zum oberen Stockwerk hinauf abschlossen.
Sie bemerkte ihn sofort. Sie hatte nur für den Bruchteil einer Sekunde sein Gesicht sehen können. Die rastlose Art, wie er dasaß, war ihr sofort aufgefallen. Der Mann war noch jung, trotzdem machte der ganze Mensch einen zerschundenen und verbrauchten Eindruck. Das lag nicht nur an seiner Kleidung. Im Gesicht hatte er irgendeine schlecht versorgte Wunde. Und gleichzeitig wirkte der Mann auf sie unverschämt. Seine Augen saugten sich ohne Hemmungen an allem fest, was er ansah. Der Mann hatte gerade in dem Moment, als sie ihn erblickte, selbst in das Zwischenabteil herunter gesehen. Ihre Augen waren sich begegnet. Viktoria schaute betroffen weg. Warum bloß fingen mit einem Mal alle Alarmglocken in ihrem Kopf an zu schrillen? Unversehens fühlte sie sich von einer fast erwürgenden Welle der Abneigung überschwemmt. Es peinigte sie, mit diesem Menschen in ein und demselben Zug zu sein. Warum musste sie immer solchen Menschen begegnen?
Viktoria hoffte inständig, dass der Mann eigentlich das aufreizende junge Mädchen angestarrt hatte. Aber eigentlich war ihr längst klar, dass er sie beobachtete. Vielleicht schon die ganze Zeit über.
Viktoria blieb unverändert sitzen, obwohl sich alles in ihr mit einem Mal anspannte. Sie sah aus dem Augenwinkel heraus, dass der Mann jetzt in die andere Richtung blickte und wagte es, noch einmal zu ihm hinaufzusehen. Sein Anblick jagte ihr erneut heftige Angst ein. Er war dünn und nicht besonders groß oder kräftig. Er bewegte sich, als hätte er getrunken. Sie sah, wie er auf andere Fahrgäste einredete, die neben ihm saßen und ganz offensichtlich nicht angesprochen werden wollten. Doch das schien ihn nicht weiter zu interessieren.
Wieder blickte er zu ihr herunter mit diesem hemmungslosen und gierigen Augenausdruck. Hoffentlich hatte er nicht bemerkt, dass sie ihn beobachtet hatte!
Viktoria versuchte noch immer, locker zu bleiben. Sie kannte solche Situationen. Sie hatte so was immer irgendwie gemeistert, war immer wieder heil davon gekommen. Und sicher bildete sie sich das alles sowieso nur ein. Warum sollte er denn ausgerechnet sie im Visier haben? Sie war bestimmt gut 20 Jahre älter als er. Sie dürfte nach der anstrengenden Bahnfahrt heute auch kaum attraktiv aussehen.
Er sah schon wieder zu ihr her. Wie alt und hässlich muss man eigentlich sein, um in Ruhe gelassen zu werden? Sie schaute nach dem jungen Mädchen. Aber das telefonierte und kümmerte sich nicht darum, was um sie herum geschah.
Viktoria schloss entnervt die Augen. Vielleicht war es doch ein Fehler gewesen, erst gegen Mittag loszufahren. Jetzt musste sie in den späten, dunklen Abendstunden auf fremden Bahnhöfen herumirren. Aber sie hatte noch so viel zu erledigen gehabt am Morgen.
Außerdem sah sie das nicht ein. Warum sollte man als Frau in diesem Lande nicht am Abend im November mit der Bahn fahren können?
Meine Güte, sie wollte doch nur ihre Ruhe! Sie sehnte sich danach, sich entspannen zu können. Sie hatte keine Lust mehr, vor irgendetwas auf der Hut sein zu müssen.
Aber sie ahnte es: Vorerst war ihre Ruhe vorbei.
Jetzt sah er wieder zu ihr herunter. Sie fühlte sich auf einmal wie ein Hase, der den Geruch des Jagdhundes gewittert hat. Sie versuchte, sich tot zu stellen.
Der Zug war gerade auf einem Bahnhof eingelaufen und stand jetzt still. Am liebsten wäre sie jetzt einfach hier ausgestiegen. Sie konnte dem heftigen Impuls nur mit Mühe widerstehen. Aber das durfte sie nicht: Sie würde sonst sicher heute Abend nicht mehr von hier wegkommen. In Schifferstadt aber stand ihr Anschlusszug und in knapp 10 Minuten wäre sie dann endlich in Speyer. Dort wartete ein warmes Zimmer mit einem frisch bezogenen Bett. Dort wäre sie in Sicherheit, vor wem auch immer!
Das junge Mädchen hatte aufgehört, zu telefonieren. Jetzt nahm sie ihre Tasche und ging ins nächste Abteil. Die Tür schloss sich hinter ihr. Viktoria saß jetzt wieder ganz alleine da. Der Schaffner war eben schon durch ihr Abteil gegangen und würde vorerst nicht wieder kommen.
Sie wusste es, bevor es wirklich geschah. Sie konnte es nicht verhindern. Er kam die Treppe herunter, er kam direkt auf sie zu. Sie saß in der Falle. Sie würde nicht einfach weggehen können mit ihrem schweren, sperrigen Gepäck. Es blieb ihr nichts übrig, als zu bleiben wo sie war. Die zehn Minuten, die es jetzt noch bis Schifferstadt dauerte, musste sie einfach durchstehen.
Er kam die Treppe herunter, stieß mit einer etwas zu heftigen Bewegung die Glastür auf und setzte sich ihr gegenüber auf einen der anderen Notsitze.
Viktoria beobachtete ihn ohne ihn offen anzusehen. So von Nahem wirkte er nicht wirklich gewalttätig, eher etwas angeschlagen. Vielleicht hatte sie sich in ihm getäuscht? Was wollte er also wirklich? So, wie er da saß, wollte er mit ihr reden, sonst nichts. Ein einsamer, gekränkter, nach menschlicher Wärme hungriger Wolf? Aber sicher war das nicht. Und auch solchen Wölfen ist nicht zu trauen. Viktoria bemühte sich mit aller Kraft, gleichmütig auszusehen.
„Haste ne Zigarette?“, fragt er jetzt.
‚Warum bloß ich?‘, denkt sie ärgerlich. ‚Warum bloß sucht sich der ausgerechnet mich aus?‘
Dass er sie duzt, ist vielleicht gar nicht als Provokation gemeint, überlegt sie. Vielleicht auch doch. Er muss eigentlich sehen, dass sie nicht aus seiner Gesellschaftsecke kommt. Was also an ihr bringt ihn dazu, herunter zu kommen und mit ihr anzubändeln? Und was will er von ihr? Hat er einfach seinen Spaß daran, ihr Angst einzujagen oder sucht er Kontakt?
„Ich rauche nicht.“ Sie versucht, es freundlich zu sagen. Sie ist auf der Hut. Sie will ihn nicht reizen.
„Kann ich mal dein Handy haben?“
„Ich hab keins“, lügt sie und wirft ihm einen kurzen Blick zu. Er scheint nicht sauer zu sein.
„Wo kommste denn her?“, setzt er seine Konversation fort. Was soll sie tun? Wenn sie schweigt, rastet er womöglich aus. Wenn sie antwortet, macht sie ihm Hoffnung.
„Aus Jena.“
„Ach, da aus dem Osten! Das wollte ich mir die ganze Zeit auch mal angucken. Die Leute reden immer nur so, aber da leben ja schließlich auch Menschen.“
Viktoria sieht überrascht auf. Irgendwie ist er fast rührend. Sie lächelt. Das scheint ihn zu ermutigen.
„Ich komm aus Hamburg. Ich arbeite da, weißt du? Jetzt fahre ich zu meinen Eltern. Die wohnen hier in Liebenheim.“
„Ach ja?“
„Wo musst du denn raus?“
Er möchte also reden. Das ist was wert.
„In Schifferstadt. Das muss jetzt gleich kommen.“
Erst in diesem Moment wird ihr bewusst, dass der Zug immer noch still steht. Es hat offenbar einen unerwarteten Aufenthalt gegeben. Sie muss trotzdem durchhalten. Wie lange bloß noch?
„In Hamburg ist es ganz schön“, fängt er wieder an. „Kennst du Hamburg?“
„Ja, kenn ich. Mir gefällt es auch.“
„Weiß du, ich bin Autolackierer. Ich hab die ganzen Jahre Arbeit gehabt, eine gute Stelle. Das ist heutzutage nicht mehr selbstverständlich!“
Sie nickt. Sie sieht ihn an. Der bedrohliche Eindruck von vorhin ist jetzt fast vollständig gewichen. Er kommt ihr nun eher vor wie ein allein gelassener Junge, der eine Mutter sucht. Das wäre dann also die harmlosere Variante, denkt sie unsicher.
„Komm doch mit nach Liebenheim!“, schlägt er jetzt vor.
„Ich muss doch noch weiter. Ich will noch nach Speyer. Da muss ich in Schifferstadt aussteigen, jetzt gleich.“
Das hätte sie ihm nicht auf die Nase binden dürfen, das mit Speyer, fällt ihr ein. ‚Wenn er jetzt einfach mit ihr aussteigt?’ Viktoria merkt, wie ihr plötzlich übel wird. Wenn doch nur der Zug endlich losfahren würde!
„Bist du verheiratet?“
„Nein.“
„Single?“
„Auch nicht.“
Er sieht sie zweifelnd an.
„Gibst du mir deine Telefonnummer?“ Er lässt nicht locker! Irgendwie muss sie ihn stoppen, denkt sie, irgendwo muss sie ihm die Stirn bieten.
„Ich glaube nicht“, wagt sie zu sagen. „Ich gebe nicht jedem meine Telefonnummer, den ich so treffe.“
Er sieht sie an und schweigt. Er wirkt traurig, nicht böse. Er sieht sie lange an, ohne jede Scham, wie ein Kind.
„Was machst du denn so, beruflich, mein ich?“
Viktoria seufzt. Sie hasst diese Frage. Was bloß soll sie sagen? Aber was soll er mit einer Professorin? Vielleicht macht ihn das sauer?
„Ich bin Lehrerin.“ Das scheint ihr nicht so provokativ.
„Hey, toll. Ich kenne jemanden, der ist Lehrerin!“, freut er sich. „Was denn für eine?“
„Was denken Sie denn?“ Das Fragespiel verbraucht Zeit. Das ist gut.
„Grundschule?“
„Nein.“
„Was denn dann?“
Viktoria zuckt mit den Achseln.
„Hauptschule?“
Sie schüttelt den Kopf.
„Realschule?“
„Nein.“
„Dann also Gymnasium, echt!?“ Er betont jede Silbe des fremden Wortes. Er ist stolz, dass er es aussprechen kann.
Sie hat das Gefühl, dass sie nicht noch weiter gehen darf, dass sie ihm nicht mehr zumuten kann. Sie nickt.
„Mensch, toll! So gebildet! Echt, das finde ich richtig gut!“
Er ist ehrlich begeistert.
Sie lächelt verloren. Sie spürt, wie ihr langsam die Luft ausgeht.
„Ich hab nur den Dingsda, den Hauptschulabschluss.“ Er sagt das zu ihr, wie man ein Schuldbekenntnis ausspricht. Der Mann hat angefangen, zu stottern. Er ist richtig aufgeregt.
„Das ist doch auch was! Das schafft doch heute auch nicht mehr jeder!“, hört sie sich sagen.
Er sieht sie an wie ein Hund, der gewohnt ist, nur Tritte zu bekommen, und der plötzlich gestreichelt wird.
Jetzt setzt sich der Zug wieder in Bewegung. Endlich! In etwa zehn Minuten müssen sie jetzt in Schifferstadt sein. Aber sie wird in jedem Fall an der nächsten Station aussteigen. Sie kann nicht mehr. Egal, ob es dann wirklich Schifferstadt ist oder nicht.
„Ich glaube, wir sind jetzt gleich in Schifferstadt“, sagt sie vorsichtig. „Ich gehe am besten schon vor zur Tür.“
„Gibst du mir dann deine Telefonnummer?“
„Ich hab Ihnen doch schon gesagt, dass ich das nicht mache.“
„Schade.“ Er sieht vor sich hin, ein wenig traurig, ein wenig vergnügt.
„Eine Lehrerin! War das eigentlich schwer, das Studieren?“
„Ach, nicht besonders. Es ging so.“
„Ich wäre auch gerne so was.“
„Ist Autolackierer nicht gut?“
Er schluckt. Wahrscheinlich hat er schon vergessen, dass er ihr das erzählt hat. Er kommt von ganz weit unten, das sieht ja jeder. Und sie sieht es sowieso.
Jetzt schweigen beide.
Verstohlen schielt sie auf ihre Uhr. Höchstens noch drei Minuten.
„Jetzt muss ich gleich aussteigen“, sagt sie und erhebt sich. Der Notsitz klappt sofort hoch.
„Dann möchte ich aber einen Abschiedskuss!“
Der Albtraum ist also noch nicht vorüber! Wenn sie sich weigert, was dann? Sie kann in ihrem Kopf schon sehen, wie sein Gesicht sich in Sekundenschnelle verwandelt und verzerrt, wie er sich von einem traurigen Tramp in einem brutalen Schläger verwandelt! Vielleicht tut sie ihm ja auch unrecht. Sie würde etwas darum geben, zu wissen, ob er ihre Angst spürt.
Er legt seinen Arm um ihre Schulter und küsst sie auf die rechte und dann auf die linke Wange. Und nun hält er ihr seine hin. Sie handelt wie ein Automat. Sie spürt weder Furcht noch Ekel. Das hier ist der Preis. Das muss gezahlt werden. Sonst entkommt sie nicht.
Dann lässt er sie gehen. Er bietet ihr nicht an, ihr Gepäck zum Ausgang zu tragen.
An der Tür steht bereits ein gut gekleideter, älterer Herr mit einem großen Koffer. Sie stellt ihr Gepäck daneben und schaut durch die Glasscheibe in die Dunkelheit hinaus. Jetzt fliegen die ersten Lichter vorbei. Der Zug verlangsamt die Fahrt und rollt in einen Bahnhof ein. Es kommen immer mehr Menschen die Treppe herunter.
Sie fühlt sich wieder sicher. Er steht an der Zwischentür hinter all den Menschen, die mit ihr aussteigen wollen. Sie sieht ihn kaum hinter den Köpfen der anderen.
„Tschüß“, sagt er und wirkt auch jetzt noch traurig.
„Tschüß“, murmelt sie, sie sagte es zur Tür, nicht in seine Richtung.
Als sie auf dem Bahnsteig steht, merkt sie plötzlich, wie stark ihr Herz klopft.
Viele sind mit ihr ausgestiegen. Die meisten von ihnen wohnen offenbar hier. Der Bahnsteig leert sich rasch. Nur wenige Fahrgäste wollen noch weiter. Der Anschlusszug ist schon weg, er hat natürlich nicht gewartet. Nun wird der Zug erst in 45 Minuten kommen. Und das ist dann für heute der letzte.
Mit Viktoria zusammen ist eine junge Frau ausgestiegen, die sich sehr ärgert, weil sie den Zug verpasst haben. Der Mann mit dem Koffer, der mit ihnen zusammen den Zug verlassen hat, ist nirgends mehr zu sehen. Weiter hinten im dämmrigen Licht sieht Viktoria ein aufgeregtes Pärchen, das heftig gestikuliert und laut mit einander spricht. Irgendwo im Dunklen steht halb verdeckt von einer Betonsäule ein Mann und schaute zu ihnen herüber. Sonst ist der Bahnsteig leer.
Viktoria steht mit ihrem Gepäck neben der jungen Frau.
„Was bin ich froh, dass ich da raus gekommen bin!“
Die Frau lächelt dünn und schweigt. Sie scheint an einem Gespräch nicht interessiert zu sein.
Der einsame Mann ist näher gekommen. Er steht noch immer im Schatten, sie kann sein Gesicht nicht erkennen. Er hat sich eine Zigarette angezündet. Er hat kein Gepäck.
Die Frau, die neben ihr steht, hat auf einem anderen Bahnsteig weiter hinten einen Bekannten entdeckt. Sie nimmt sie ihr Gepäck und läuft zu ihm.
Viktoria steht alleine wieder neben ihrem Koffer.
Die große Bahnhofsuhr zeigte drei Minuten vor neun. Sie hatte es also eben noch geschafft. Der Zug musste jeden Augenblick einlaufen. Hier am Gleis 2, ganz am Rande des Bahnhofgeländes war es düster. Nur wenige Lampen tauchten den Bahnsteig in ein trübes, orangefarbenes Licht. Merkwürdig nur, dass überhaupt niemand hier stand und wartete!
Auf einmal war es ganz still. Eben noch plärrte eine Lautsprecherdurchsage, die alles übertönte. Trotzdem hatte Viktoria kein Wort verstehen können. Sie hörte nur noch ihren Stoß weisen Atem. Das Rennen hatte sie angestrengt.
Erst jetzt bemerkte Viktoria, dass auf dem elektronischen Ankündigungsschild gar kein Zug angezeigt war. Aber hier war doch Bahnsteig 2! Sie schleppte ihre beiden Gepäckstücke ein paar Schritte weiter bis zu dem beleuchteten Glaskasten mit dem Fahrplan. Die Zeit stimmte. Auch das Gleis. Aber irgendetwas war trotzdem nicht in Ordnung.
Auf allen anderen Bahnsteigen standen Leute herum. Gleis 2 war als einziges menschenleer. Sie sah sich Hilfe suchend um. Jetzt entdeckte sie am Ende ihres Bahnsteiges eine Frau, die dort zu warten schien. Viktoria zerrte ihre Sachen weiter.
„Entschuldigung, haben Sie irgendwas gehört, kommt der Zug nach Schifferstadt heute nicht hier an?“
Die Frau drehte sich ihr langsam zu. Sie reagierte nicht gleich. Viktoria sah in ein grell geschminktes Gesicht, in abweisende, etwas verschwommene Augen. Die Frau schien zu überlegen, ob sie antworten wollte. „Keine Ahnung! Ich glaub, da war eben eine Durchsage“, sagte sie schließlich langsam und unbeteiligt. „Ich glaube, Sie müssen zu Gleis 7.“ Dann wandte sie sich wieder ab.
Viktoria versuchte über die Bahnsteige hinweg zu erkennen, ob ihr Zug schon auf Gleis 7 stand. Weiter hinten wartete ein Zug. Das konnte er sein.
Sie nahm seufzend ihr Gepäck wieder auf und hetzte zurück in Richtung Treppe. Jetzt hörte sie auch die Wiederholung der Durchsage: „Die Regionalbahn nach Schifferstadt fährt heute nicht am Gleis 2 ab, sondern am Gleis 7.“
Hoffentlich erwischte sie den Zug noch! Wenn sie die Anschlusszüge nicht mehr erreichen würde, säße sie irgendwo zwischen Mannheim und Speyer für heutige Nacht fest.
Viktoria fing an zu rennen. Der Koffer schlug ihr bei jedem Schritt gegen das rechte Bein. Sie hastete die Treppe hinunter durch die düstere, zugige Unterführung. Sie trat in eine ölig schimmernde Pfütze, die sich hier angesammelt hatte. Beinah wäre sie ausgerutscht. Als sie versuchte, ihr Gleichgewicht zu halten, stieß sie gegen einen Mann, der hier im Dunkeln gestanden hatte. Sie konnte sein Gesicht in der Eile nicht erkennen. Sie rannte weiter.
Bei Gleis 7 stolperte Viktoria die Treppe wieder hinauf. Der Zug stand noch da. Nur jetzt nicht in den falschen Zug einsteigen! Mit gehetztem Blick suchte sie die Waggonwände ab nach einem Hinweis über den Zielbahnhof. Nichts war zu sehen. Aber schließlich konnte es nur ihr Zug sein.
Normalerweise setzte sie sich in die obere Etage. Von dort hatte man die bessere Aussicht. Doch jetzt blieb sie lieber gleich unten. Vom Bahnsteig aus hatte sie sehen können, dass die Sitzplätze im Zug fast alle belegt waren. Auch oben war alles voll. Sie hätte außerdem auch gar nicht mehr die Kraft, ihren Koffer und die schwere Aktentasche die schmale Treppe hinauf zu wuchten. Ihr Atem ging noch immer schwer. So ein Gepäckschnelllauf war wirklich nichts mehr für sie. Und schon gar nichts für ihren Rücken.
Viktoria betrat das Zwischenabteil, das eigentlich für Reisende mit Fahrrädern und großen Gepäckstücken vorgesehen war. Hier war reichlich Platz. Sie war ganz alleine. Sie klappte sich einen der gepolsterten Notsitze herunter. Das würde ihr reichen. In 20 Minuten könnte sie ja schon wieder aussteigen. Wenn alles gut ging. Und bisher war schließlich alles klar gegangen.
Es war angenehm warm im Zug. Das tat gut nach dem feuchten und windigen Spätherbstwetter, das sie den ganzen Tag hatte ertragen müssen. Viktoria versuchte, sich zu entspannen. Der Notsitz war etwas zu kurz. Sie streckte die Beine von sich und machte es sich trotzdem so bequem wie eben möglich.
Jetzt schlossen sich die Türen automatisch und der Zug rollte an.
Die letzten Bahnhofslichter huschten vorbei. Hinter den großen Fenstern wurde es plötzlich dunkel. Von der Welt draußen war nichts mehr zu erkennen. Hinter ihrem Rücken huschte die schwarze Nacht vorbei.
Jetzt kam ein junges Mädchen mit kurzem, schwarzem Haar die Treppe vom oberen Stock herunter. Sie stieß die Glastür zum Zwischenabteil auf und setzte sich gegenüber von Viktoria auf einen der anderen Notsitze. Sie holte ihr Handy heraus und fing sofort an zu telefonieren. Das Mädchen würdigte Viktoria keines Blickes. Viktoria betrachtete sie ungeniert. Sie hatte knallenge Jeans an und einen sehr freizügigen Busenausschnitt an ihrem Pulli. Während sie sprach, kokettierte und scharwenzelte sie ununterbrochen mit dem ganzen schlanken, aber wohlgeformten Körper, obwohl ihr Gesprächspartner sie gar nicht sehen konnte. Wie alt mochte sie sein?
Viktoria beendete ihre Beobachtungen und schaute sich weiter um durch die Glastür, die ihr Zwischenabteil zur Treppe und zum oberen Stockwerk hinauf abschlossen.
Sie bemerkte ihn sofort. Sie hatte nur für den Bruchteil einer Sekunde sein Gesicht sehen können. Die rastlose Art, wie er dasaß, war ihr sofort aufgefallen. Der Mann war noch jung, trotzdem machte der ganze Mensch einen zerschundenen und verbrauchten Eindruck. Das lag nicht nur an seiner Kleidung. Im Gesicht hatte er irgendeine schlecht versorgte Wunde. Und gleichzeitig wirkte der Mann auf sie unverschämt. Seine Augen saugten sich ohne Hemmungen an allem fest, was er ansah. Der Mann hatte gerade in dem Moment, als sie ihn erblickte, selbst in das Zwischenabteil herunter gesehen. Ihre Augen waren sich begegnet. Viktoria schaute betroffen weg. Warum bloß fingen mit einem Mal alle Alarmglocken in ihrem Kopf an zu schrillen? Unversehens fühlte sie sich von einer fast erwürgenden Welle der Abneigung überschwemmt. Es peinigte sie, mit diesem Menschen in ein und demselben Zug zu sein. Warum musste sie immer solchen Menschen begegnen?
Viktoria hoffte inständig, dass der Mann eigentlich das aufreizende junge Mädchen angestarrt hatte. Aber eigentlich war ihr längst klar, dass er sie beobachtete. Vielleicht schon die ganze Zeit über.
Viktoria blieb unverändert sitzen, obwohl sich alles in ihr mit einem Mal anspannte. Sie sah aus dem Augenwinkel heraus, dass der Mann jetzt in die andere Richtung blickte und wagte es, noch einmal zu ihm hinaufzusehen. Sein Anblick jagte ihr erneut heftige Angst ein. Er war dünn und nicht besonders groß oder kräftig. Er bewegte sich, als hätte er getrunken. Sie sah, wie er auf andere Fahrgäste einredete, die neben ihm saßen und ganz offensichtlich nicht angesprochen werden wollten. Doch das schien ihn nicht weiter zu interessieren.
Wieder blickte er zu ihr herunter mit diesem hemmungslosen und gierigen Augenausdruck. Hoffentlich hatte er nicht bemerkt, dass sie ihn beobachtet hatte!
Viktoria versuchte noch immer, locker zu bleiben. Sie kannte solche Situationen. Sie hatte so was immer irgendwie gemeistert, war immer wieder heil davon gekommen. Und sicher bildete sie sich das alles sowieso nur ein. Warum sollte er denn ausgerechnet sie im Visier haben? Sie war bestimmt gut 20 Jahre älter als er. Sie dürfte nach der anstrengenden Bahnfahrt heute auch kaum attraktiv aussehen.
Er sah schon wieder zu ihr her. Wie alt und hässlich muss man eigentlich sein, um in Ruhe gelassen zu werden? Sie schaute nach dem jungen Mädchen. Aber das telefonierte und kümmerte sich nicht darum, was um sie herum geschah.
Viktoria schloss entnervt die Augen. Vielleicht war es doch ein Fehler gewesen, erst gegen Mittag loszufahren. Jetzt musste sie in den späten, dunklen Abendstunden auf fremden Bahnhöfen herumirren. Aber sie hatte noch so viel zu erledigen gehabt am Morgen.
Außerdem sah sie das nicht ein. Warum sollte man als Frau in diesem Lande nicht am Abend im November mit der Bahn fahren können?
Meine Güte, sie wollte doch nur ihre Ruhe! Sie sehnte sich danach, sich entspannen zu können. Sie hatte keine Lust mehr, vor irgendetwas auf der Hut sein zu müssen.
Aber sie ahnte es: Vorerst war ihre Ruhe vorbei.
Jetzt sah er wieder zu ihr herunter. Sie fühlte sich auf einmal wie ein Hase, der den Geruch des Jagdhundes gewittert hat. Sie versuchte, sich tot zu stellen.
Der Zug war gerade auf einem Bahnhof eingelaufen und stand jetzt still. Am liebsten wäre sie jetzt einfach hier ausgestiegen. Sie konnte dem heftigen Impuls nur mit Mühe widerstehen. Aber das durfte sie nicht: Sie würde sonst sicher heute Abend nicht mehr von hier wegkommen. In Schifferstadt aber stand ihr Anschlusszug und in knapp 10 Minuten wäre sie dann endlich in Speyer. Dort wartete ein warmes Zimmer mit einem frisch bezogenen Bett. Dort wäre sie in Sicherheit, vor wem auch immer!
Das junge Mädchen hatte aufgehört, zu telefonieren. Jetzt nahm sie ihre Tasche und ging ins nächste Abteil. Die Tür schloss sich hinter ihr. Viktoria saß jetzt wieder ganz alleine da. Der Schaffner war eben schon durch ihr Abteil gegangen und würde vorerst nicht wieder kommen.
Sie wusste es, bevor es wirklich geschah. Sie konnte es nicht verhindern. Er kam die Treppe herunter, er kam direkt auf sie zu. Sie saß in der Falle. Sie würde nicht einfach weggehen können mit ihrem schweren, sperrigen Gepäck. Es blieb ihr nichts übrig, als zu bleiben wo sie war. Die zehn Minuten, die es jetzt noch bis Schifferstadt dauerte, musste sie einfach durchstehen.
Er kam die Treppe herunter, stieß mit einer etwas zu heftigen Bewegung die Glastür auf und setzte sich ihr gegenüber auf einen der anderen Notsitze.
Viktoria beobachtete ihn ohne ihn offen anzusehen. So von Nahem wirkte er nicht wirklich gewalttätig, eher etwas angeschlagen. Vielleicht hatte sie sich in ihm getäuscht? Was wollte er also wirklich? So, wie er da saß, wollte er mit ihr reden, sonst nichts. Ein einsamer, gekränkter, nach menschlicher Wärme hungriger Wolf? Aber sicher war das nicht. Und auch solchen Wölfen ist nicht zu trauen. Viktoria bemühte sich mit aller Kraft, gleichmütig auszusehen.
„Haste ne Zigarette?“, fragt er jetzt.
‚Warum bloß ich?‘, denkt sie ärgerlich. ‚Warum bloß sucht sich der ausgerechnet mich aus?‘
Dass er sie duzt, ist vielleicht gar nicht als Provokation gemeint, überlegt sie. Vielleicht auch doch. Er muss eigentlich sehen, dass sie nicht aus seiner Gesellschaftsecke kommt. Was also an ihr bringt ihn dazu, herunter zu kommen und mit ihr anzubändeln? Und was will er von ihr? Hat er einfach seinen Spaß daran, ihr Angst einzujagen oder sucht er Kontakt?
„Ich rauche nicht.“ Sie versucht, es freundlich zu sagen. Sie ist auf der Hut. Sie will ihn nicht reizen.
„Kann ich mal dein Handy haben?“
„Ich hab keins“, lügt sie und wirft ihm einen kurzen Blick zu. Er scheint nicht sauer zu sein.
„Wo kommste denn her?“, setzt er seine Konversation fort. Was soll sie tun? Wenn sie schweigt, rastet er womöglich aus. Wenn sie antwortet, macht sie ihm Hoffnung.
„Aus Jena.“
„Ach, da aus dem Osten! Das wollte ich mir die ganze Zeit auch mal angucken. Die Leute reden immer nur so, aber da leben ja schließlich auch Menschen.“
Viktoria sieht überrascht auf. Irgendwie ist er fast rührend. Sie lächelt. Das scheint ihn zu ermutigen.
„Ich komm aus Hamburg. Ich arbeite da, weißt du? Jetzt fahre ich zu meinen Eltern. Die wohnen hier in Liebenheim.“
„Ach ja?“
„Wo musst du denn raus?“
Er möchte also reden. Das ist was wert.
„In Schifferstadt. Das muss jetzt gleich kommen.“
Erst in diesem Moment wird ihr bewusst, dass der Zug immer noch still steht. Es hat offenbar einen unerwarteten Aufenthalt gegeben. Sie muss trotzdem durchhalten. Wie lange bloß noch?
„In Hamburg ist es ganz schön“, fängt er wieder an. „Kennst du Hamburg?“
„Ja, kenn ich. Mir gefällt es auch.“
„Weiß du, ich bin Autolackierer. Ich hab die ganzen Jahre Arbeit gehabt, eine gute Stelle. Das ist heutzutage nicht mehr selbstverständlich!“
Sie nickt. Sie sieht ihn an. Der bedrohliche Eindruck von vorhin ist jetzt fast vollständig gewichen. Er kommt ihr nun eher vor wie ein allein gelassener Junge, der eine Mutter sucht. Das wäre dann also die harmlosere Variante, denkt sie unsicher.
„Komm doch mit nach Liebenheim!“, schlägt er jetzt vor.
„Ich muss doch noch weiter. Ich will noch nach Speyer. Da muss ich in Schifferstadt aussteigen, jetzt gleich.“
Das hätte sie ihm nicht auf die Nase binden dürfen, das mit Speyer, fällt ihr ein. ‚Wenn er jetzt einfach mit ihr aussteigt?’ Viktoria merkt, wie ihr plötzlich übel wird. Wenn doch nur der Zug endlich losfahren würde!
„Bist du verheiratet?“
„Nein.“
„Single?“
„Auch nicht.“
Er sieht sie zweifelnd an.
„Gibst du mir deine Telefonnummer?“ Er lässt nicht locker! Irgendwie muss sie ihn stoppen, denkt sie, irgendwo muss sie ihm die Stirn bieten.
„Ich glaube nicht“, wagt sie zu sagen. „Ich gebe nicht jedem meine Telefonnummer, den ich so treffe.“
Er sieht sie an und schweigt. Er wirkt traurig, nicht böse. Er sieht sie lange an, ohne jede Scham, wie ein Kind.
„Was machst du denn so, beruflich, mein ich?“
Viktoria seufzt. Sie hasst diese Frage. Was bloß soll sie sagen? Aber was soll er mit einer Professorin? Vielleicht macht ihn das sauer?
„Ich bin Lehrerin.“ Das scheint ihr nicht so provokativ.
„Hey, toll. Ich kenne jemanden, der ist Lehrerin!“, freut er sich. „Was denn für eine?“
„Was denken Sie denn?“ Das Fragespiel verbraucht Zeit. Das ist gut.
„Grundschule?“
„Nein.“
„Was denn dann?“
Viktoria zuckt mit den Achseln.
„Hauptschule?“
Sie schüttelt den Kopf.
„Realschule?“
„Nein.“
„Dann also Gymnasium, echt!?“ Er betont jede Silbe des fremden Wortes. Er ist stolz, dass er es aussprechen kann.
Sie hat das Gefühl, dass sie nicht noch weiter gehen darf, dass sie ihm nicht mehr zumuten kann. Sie nickt.
„Mensch, toll! So gebildet! Echt, das finde ich richtig gut!“
Er ist ehrlich begeistert.
Sie lächelt verloren. Sie spürt, wie ihr langsam die Luft ausgeht.
„Ich hab nur den Dingsda, den Hauptschulabschluss.“ Er sagt das zu ihr, wie man ein Schuldbekenntnis ausspricht. Der Mann hat angefangen, zu stottern. Er ist richtig aufgeregt.
„Das ist doch auch was! Das schafft doch heute auch nicht mehr jeder!“, hört sie sich sagen.
Er sieht sie an wie ein Hund, der gewohnt ist, nur Tritte zu bekommen, und der plötzlich gestreichelt wird.
Jetzt setzt sich der Zug wieder in Bewegung. Endlich! In etwa zehn Minuten müssen sie jetzt in Schifferstadt sein. Aber sie wird in jedem Fall an der nächsten Station aussteigen. Sie kann nicht mehr. Egal, ob es dann wirklich Schifferstadt ist oder nicht.
„Ich glaube, wir sind jetzt gleich in Schifferstadt“, sagt sie vorsichtig. „Ich gehe am besten schon vor zur Tür.“
„Gibst du mir dann deine Telefonnummer?“
„Ich hab Ihnen doch schon gesagt, dass ich das nicht mache.“
„Schade.“ Er sieht vor sich hin, ein wenig traurig, ein wenig vergnügt.
„Eine Lehrerin! War das eigentlich schwer, das Studieren?“
„Ach, nicht besonders. Es ging so.“
„Ich wäre auch gerne so was.“
„Ist Autolackierer nicht gut?“
Er schluckt. Wahrscheinlich hat er schon vergessen, dass er ihr das erzählt hat. Er kommt von ganz weit unten, das sieht ja jeder. Und sie sieht es sowieso.
Jetzt schweigen beide.
Verstohlen schielt sie auf ihre Uhr. Höchstens noch drei Minuten.
„Jetzt muss ich gleich aussteigen“, sagt sie und erhebt sich. Der Notsitz klappt sofort hoch.
„Dann möchte ich aber einen Abschiedskuss!“
Der Albtraum ist also noch nicht vorüber! Wenn sie sich weigert, was dann? Sie kann in ihrem Kopf schon sehen, wie sein Gesicht sich in Sekundenschnelle verwandelt und verzerrt, wie er sich von einem traurigen Tramp in einem brutalen Schläger verwandelt! Vielleicht tut sie ihm ja auch unrecht. Sie würde etwas darum geben, zu wissen, ob er ihre Angst spürt.
Er legt seinen Arm um ihre Schulter und küsst sie auf die rechte und dann auf die linke Wange. Und nun hält er ihr seine hin. Sie handelt wie ein Automat. Sie spürt weder Furcht noch Ekel. Das hier ist der Preis. Das muss gezahlt werden. Sonst entkommt sie nicht.
Dann lässt er sie gehen. Er bietet ihr nicht an, ihr Gepäck zum Ausgang zu tragen.
An der Tür steht bereits ein gut gekleideter, älterer Herr mit einem großen Koffer. Sie stellt ihr Gepäck daneben und schaut durch die Glasscheibe in die Dunkelheit hinaus. Jetzt fliegen die ersten Lichter vorbei. Der Zug verlangsamt die Fahrt und rollt in einen Bahnhof ein. Es kommen immer mehr Menschen die Treppe herunter.
Sie fühlt sich wieder sicher. Er steht an der Zwischentür hinter all den Menschen, die mit ihr aussteigen wollen. Sie sieht ihn kaum hinter den Köpfen der anderen.
„Tschüß“, sagt er und wirkt auch jetzt noch traurig.
„Tschüß“, murmelt sie, sie sagte es zur Tür, nicht in seine Richtung.
Als sie auf dem Bahnsteig steht, merkt sie plötzlich, wie stark ihr Herz klopft.
Viele sind mit ihr ausgestiegen. Die meisten von ihnen wohnen offenbar hier. Der Bahnsteig leert sich rasch. Nur wenige Fahrgäste wollen noch weiter. Der Anschlusszug ist schon weg, er hat natürlich nicht gewartet. Nun wird der Zug erst in 45 Minuten kommen. Und das ist dann für heute der letzte.
Mit Viktoria zusammen ist eine junge Frau ausgestiegen, die sich sehr ärgert, weil sie den Zug verpasst haben. Der Mann mit dem Koffer, der mit ihnen zusammen den Zug verlassen hat, ist nirgends mehr zu sehen. Weiter hinten im dämmrigen Licht sieht Viktoria ein aufgeregtes Pärchen, das heftig gestikuliert und laut mit einander spricht. Irgendwo im Dunklen steht halb verdeckt von einer Betonsäule ein Mann und schaute zu ihnen herüber. Sonst ist der Bahnsteig leer.
Viktoria steht mit ihrem Gepäck neben der jungen Frau.
„Was bin ich froh, dass ich da raus gekommen bin!“
Die Frau lächelt dünn und schweigt. Sie scheint an einem Gespräch nicht interessiert zu sein.
Der einsame Mann ist näher gekommen. Er steht noch immer im Schatten, sie kann sein Gesicht nicht erkennen. Er hat sich eine Zigarette angezündet. Er hat kein Gepäck.
Die Frau, die neben ihr steht, hat auf einem anderen Bahnsteig weiter hinten einen Bekannten entdeckt. Sie nimmt sie ihr Gepäck und läuft zu ihm.
Viktoria steht alleine wieder neben ihrem Koffer.