Der aufgeblasene Hund

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claudianne

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Und da roch sie es wieder: diesen ekelerregenden Gestank nach nassem Hund, der einem sofort die Luft anhalten ließ.
Das Schlimmste aber daran war die Gewissheit, dass es nicht nur nach nassem Hund roch, sondern dass es sich tatsächlich um einen nassen Hund handelte.
Nass vom eigenen Sabber, der ihm - wie all diesen faltigen Rassen die aussehen als hätten sie einmal zu oft mit der Nase gebremst - beständig aus dem Mund rann.
Und groß war er, groß wie ein kleines Damenrad.
„Okay, Luft anhalten und dann schnell vorbei“, beschwor Mina sich selbst, „nur nicht stehen bleiben.“
Langsam schlich sie den Gartenzaun entlang. Nur kein Geräusch machen, nur nicht den Hund auf sich aufmerksam machen. Und am Wichtigsten: wenn es darauf ankommt, nur nicht stehen bleiben. Schon war sie am Tor angekommen, hinter dem der Hund saß. Mina war sich sicher, dass er dort auf sie wartete. Jeden Morgen aufs Neue machte er ihr den Schulweg zum Albtraum.

So, noch ein Schritt und da saß er schon. Der Hund. Mina kannte seinen Namen nicht und hatte auch gar nicht das Bedürfnis ihn kennenzulernen.
„Geh weiter“, forderte Mina sich selbst auf, „geh einfach weiter!“
Aber wie jeden Morgen gehorchten ihre Beine nicht mehr und sie stand bewegungslos vor ihm.
Seine Spucke tropfte auf den Boden.Tropfte und tropfte und tropfte und dann passierte es wieder: Erst langsam und dann immer schneller schüttelte der Hund seinen Kopf.
Wie ein Rasensprenger verteilte er seinen schlontzigen Sabber in alle Richtungen.
Auch - und besonders - in Minas Richtung.
Flatsch. Schon wieder traf sie Schlodder im Gesicht und sie hatte das Gefühl, dass der Hund dabei grinste. Minas Kopf lief rot an vor Wut, vor Scham und besonders vor Ekel.
Jetzt erst konnte sie wieder laufen.
Der große Schulranzen hüpfte auf Minas Rücken - so schnell lief sie - bis ihr die Puste ausging.

Da war sie Gott sei Dank schon in dem kleinen Park angekommen. Dort stand ihre Bank.
Sie stand etwas abgelegen, von Gestrüpp fast verdeckt, und war ihr Zufluchtsort nach jeder Hundesauerei – zum Luft schnappen und, noch wichtiger, um sich das Gesicht abzuputzen.
Dafür hatte sie nun extra schon ein altes Geschirrtuch im Schulranzen dabei, heimlich aus Mamas Wäschekorb stibitzt.
„Nein, nicht auch das noch“, dachte Mina, als sie sah, dass da schon jemand saß auf ihrer Bank. Ein Mann mit Bart und einer ganzen Menge Plastiktüten um sich herum. Brabbelnd wurstelte er darin herum.
„Hey“, sagt Mina beleidigt zu ihm,
„das ist meine Bank! Kannst du Deine Tüten nicht woanders sortieren?“
„Wo denn?“, fragt der Mann mit Bart freundlich und streckt Mina seine nicht ganz saubere Hand zum Gruß hin, „ich bin der Josef und für mich gibt’s kein Woanders.“
„Wie jetzt?“, fragt Mina, „ein Woanders gibt’s doch immer. Zum Beispiel daheim in deinem Zimmer oder einfach drei Meter weiter hinten?“
„Ja, also mein Daheim ist momentan hier, mein Zimmer ist die Bank und drei Meter weiter hinten sitze ich mitten im Gestrüpp. Da ist kein Platz für mich“, entgegnet Josef.
„Na dann setzt dich halt zwei und einen halben Meter weiter hinter, neben das Gestrüpp“, schlägt Mina vor.
„Aber warum sollte ich das tun: Hier steht die Bank und nicht woanders. Und ich denke sie ist groß genug, dass du deinen feinen Popo auch noch mit dazu setzen kannst.
Schau ich rutsch noch ein Stück. Herzlich willkommen bei mir daheim!“, lächelt Josef und klopft einladend neben sich auf die Bank.
„Na gut“, sagt Mina und setzt sich an den Rand der Bank.
Umständlich nestelt sie an ihrem Schulranzen herum, weil sie sich nicht traut einfach ihr Geschirrtuch auszupacken.
„Was machst du denn da?“, fragt Josef.
„Ach nichts, ich muss mir nur mal die Nase putzen“, antwortet Mina und zieht das Geschirrtuch heraus.
„Du hast aber ein großes Taschentuch“, sagt Josef, „aber wenn ich Dich genau anschaue, hängt Dir auch eine ganz schöne Menge Rotz im Gesicht. Das kann doch nicht alles aus deiner Nase gekommen sein. Die ist ja doch eher klein.“
„Nein“, flüstert Mina reserviert, „das kommt vom Hund.“
„Aha verstehe“, sagt Josef, „und wie kommt Hunderotz in dein Gesicht?“
Mina hat eigentlich keine Lust ihre morgendliche Qual mit irgendwem zu teilen, aber diesen Josef, den findet sie irgendwie nett. Und viele Freunde, denen er es weitererzählen könnte, hat er bestimmt auch nicht.
„Na der Hund, vorne in der Straße“, fängt Mina an,
„der, der so besonders stinkt und dem dauernd die Spucke aus dem Mund tropft.“
„Ja, kenn ich“, erwidert Josef, „der kleine Faltige mit dem Sabberproblem, was ist mit dem?“
„Na der mag mich nicht. Er zwingt mich ihn anzustarren und dann schüttelt er mir seinen Schlabber ins Gesicht, jeden Morgen, seit die Schule wieder angefangen hat. Und ich komm zu spät, trau mich nicht sagen warum und dann krieg ich geschimpft und so einen blöden Stempel in mein Hausaufgabenheft. Einen weinenden Clown. Wenn ich zehn davon habe, muss Mama zum Direktor“, jammert Mina.
„Und warum gehst dann nicht einfach woanders auf deinem Schulweg?“, fragt Josef.
„Da gibt’s kein Woanders“, sagt Mina, „die anderen Wege dauern viel viel länger.“
„Weißt du was“, sagt Josef, „ich überleg mir was. Jetzt sieh zu, dass du schnell in die Schule kommst und wir treffen uns morgen früh wieder hier auf der Bank. Ich schau mir den Hund inzwischen nochmal an.“
„Na gut“, seufzt Mina und saust Richtung Schule.

Am nächsten Morgen, kurz vorm Hund ist sich Mina noch ganz sicher, dass sie es schaffen wird, einfach vorbeizugehen. Wenn er doch nur nicht so groß wäre.
So einen kleinen Wadenzwicker könnte man ja vielleicht einfach übersehen.
Noch drei Schritte, noch zwei, noch einer, schon kommt das Gartentor und da sitzt der Hund. Wie immer. Bewegungslos. Einfach weitergehen.
Mina hebt einen Fuß und dann den Zweiten, denkt sich gerade, „ja es geht, meine Füße funktionieren!“, da knurrt er.
Nur ganz leise und auch nur einmal, aber das reicht. Mina steht wie angewurzelt vor dem Tor. Ihre Füße sind mit dem Gehweg verschmolzen.
Sie kann nicht mehr weitergehen. Langsam bewegt der Hund seinen Kopf. Hin und her. Hin und her. Dann wird er schneller und die Tropfen regnen nur so auf Mina herunter. Und dann fängt sie wie jeden Morgen das Rennen an.

Josef sitzt schon auf der Bank. Mina hat nun keine Scheu mehr ihr Geschirrtuch sofort aus dem Schulranzen zu reißen und putzt sich gleich das Gesicht.
„War das wieder der Burli?“, fragt Josef.
„Wer ist der Burli?“, fragt Mina.
„Ja der kleine Hund von dem du erzählt hast“, erwidert Josef.
„Keine Ahnung, wie der heißt - das interessiert mich auch nicht. Klein ist der jedenfalls nicht. Der ist riesig. Wahrscheinlich sogar größer als du“, sagt Mina zu Josef.
„Ach Schmarrn!“, erwidert Josef, „der ist klein, wenn nicht sogar winzig. Der bläst sich bloß auf – wie ein Luftballon. Eigentlich ist er nicht größer als Dein Daumennagel.“
„Ja, ja, das sagst du jetzt bloß so. Riesig ist der und stinken tut er auch gewaltig“, sagt Mina trotzig.
„Heißt das du glaubst ich lüge? Mir kann man ja viel nachsagen, aber einen Schmarrn erzähl ich nie. Schon gar keinem netten kleinen Fräulein wie Dir. Ich kanns Dir beweisen, wenn du mir nicht glaubst“, sagt Josef.
„Natürlich glaub ich Dir nicht. Ich steh dem Hund ja jeden Tag gegenüber. Wir schauen uns direkt in die Augen, auf gleicher Höhe. Bloß dass er sitzt und ich stehe“, sagt Mina.
„Ich sag ja, dass er sich aufbläst“, wiederholt Josef, „komm einfach nach der Schule noch mal vorbei. Dann wirst du es schon sehen.“
In der Schule bekommt Mina heute ihren neunten weinenden Clown und sie kann es kaum erwarten, wieder zu Josef auf die Bank zu kommen.
Noch während des Gongs zum Stundenende läuft Mina aus der Schule.

Im Park angekommen sieht sie gleich, dass die Bank leer ist. Kein Josef. Kein Beweis.
„Also doch nur ein Sprüchmacher!“, schimpft Mina enttäuscht.
„Bin schon da,“ hört sie Josef da hinter sich, „ich hab bloß noch was organisieren müssen. Komm, wir müssen gleich weiter.“
„Ist es weit?“, fragt Mina,
„Mama wartet daheim mit dem Essen und sie soll nichts merken. Schon gar nicht, wo ich heute den neunten Clown bekommen habe.“
„Nein, ist gleich da drüben. Wir gehen in die Kirche“, antwortet Josef.
„Oh je“, sagt Mina, „meinst du, wir brauchen den lieben Gott, dass er aus dem Hund die Luft raus lässt?“
„Nein“, erwidert Josef, „den brauchen wir dafür nicht. Das kannst du schon selbst. Und ein bisserl brauchen wir Hans, den Mesner, der hat uns die Tür zum Kirchturm aufgesperrt.“
„Aha“, sagt Mina neugierig und ein bisschen verschreckt,
„aber da oben sitzt jetzt nicht der Hund und wartet auf mich?“
„Nein, der ist wo er immer ist. Und wir schauen ihn uns jetzt einmal ganz genau an“, sagt Josef.
Mina saust die Kirchturmtreppe hinauf und Josef kommt keuchend hinterher.
„Riechst du die gute Luft“, fragt er oben angekommen, „hier oben bin ich immer, wenn ich eigentlich woanders sein will. Weit weg. In den Bergen oder den Wäldern. Da schau ich dann runter und bin schon fast dort. So hab ich dann neulich das Geheimnis vom Burli entdeckt. Dass der eigentlich ganz klein ist.“
„So, jetzt schnauf einmal ganz tief ein“, fordert Josef die Mina auf, „ganz tief in den Bauch.“
Mina schnauft, bis keine Luft mehr in ihren Bauch hineinpasst.
„So“, sagt Josef dann, „jetzt ist der aufgeblasene Burli ganz klein geworden. Schau nur runter.“
Mina beugt sich über die Brüstung. Gegenüber ist das verhasste Gartentor mit dem Hund. Er sitzt da wie immer.
„Was redest du denn“, sagt Mina enttäuscht, „der schaut ja aus wie immer.“
„Genau“, sagt Josef, „klein wie immer. Nicht größer als dein Daumennagel, hab ich gesagt. Probiers halt aus.“
Mina hält ihren Daumen in die Luft und versucht den Hund damit abzudecken. Und es klappt tatsächlich. Hinter ihrem Daumen verschwindet der ganze Hund. Sie probiert alle Finger durch und sogar der winzig kleine kleine Finger verdeckt den Hund. Mit der ganzen Hand kann sie sogar das verhasste Gartentor inklusive des gesamten Gartens abdecken. Lustig.
„Gut, du hast gewonnen“, gibt Mina zu, „aber von oben schaut ja alles kleiner aus. Wenn ich ihm morgen früh wieder gegenüberstehe, ist aber doch wieder alles beim Alten.“
„Nein, das glaub ich nicht“, antwortet Josef, „du weißt ja jetzt, dass der Burli eigentlich ganz klein ist.“
„Hm“, seufzt Mina, „mal schauen ob das was nutzt.“
Am nächsten Morgen - der Tag, der den zehnten weinenden Clown verspricht - rennt Mina schon auf dem Weg zum Hundegarten. Vielleicht kann sie ja schon vorher Zeit sparen, damit sie nicht ganz so spät in die Schule kommt, nach dem Hundeschlamassel.
Wieder ist das Gartentor in Sichtweite. Schon steht sie davor. Und da sitzt er wieder. Stinkend wie immer. Triefend wie immer. Und Mina steht bewegungslos vor ihm.
Wie immer. Doch etwas ist anders. Mina steht da, weil sie stehen bleiben will.
Sie schnauft ganz tief ein. Durch die Nase, obwohl es so stinkt. Ihr Mund ist nämlich voll. Den ganzen Weg hierher hat sie Spucke in ihren Backen gesammelt. Und noch bevor der Hund - sie nennt ihn jetzt Burli - loslegen kann. Lässt sie ihre Spucke langsam aus dem Mund tropfen. Auf den Boden. Vor Burli. Flatsch. Der schaut Mina an, fängt an zu hecheln. Legt sich auf den Boden, wälzt sich hin und her und her und hin und - grunzt zufrieden.
Mina ist baff. Und trocken.

Gerade will sie gehen, da geht ein Fenster auf und Burlis Frauchen ruft heraus: „Ja Burli, tust du schön spielen, hast du eine neue Freundin gefunden?“
Und zu Mina gewandt: „Gell, der Burli ist ein ganz ein braver. Ich hab dich schon ein paarmal hier stehen sehen, magst ihn recht gern, oder? Vielleicht magst du ja mal mit ihm Gassi gehen. Ich bin nicht mehr so gut zu Fuß.“
„Ja, vielleicht“, sagt Mina, viel zu überrascht, um überhaupt nachzudenken und ist auch schon weg.
In der Schule wartet kein Clown auf sie und nach der Schule wartet kein Josef auf der Bank.
Traurig will Mina gerade nach Hause gehen, da fällt ihr ein wo sie Josef finden wird.
Und tatsächlich ist er wieder oben auf dem Turm.
„Und?“, fragt Josef nur als er Mina sieht.
„Ich hab mehr Spucke als er“, sagt Mina bloß,
„und offensichtlich einen neuen Freund.
Störts dich, wenn der Burli hin und wieder mit uns auf der Bank sitzt?“
„Nein“, sagt Josef,
„dann sitz ich aber woanders. Vielleicht zweieinhalb Meter weiter hinten. Weil - bei aller Liebe - stinken tut der Burli schon.“
 

Silberpfeil

Mitglied
Liebe Claudianne,

deine Geschichte ist wirklich niedlich und ich habe sie gerne gelesen. Josef gefällt mir besonders gut und seine Idee, wie er Mina helfen kann den Hund mit anderen Augen zu betrachten, finde ich klasse. Auch das Ende ist geglückt.
Vielleicht kannst du einige Stellen noch kürzen und darauf achten, das nicht so viele Wortwiederholungen vorkommen.

VG, Silberpfeil
 

Ofterdingen

Mitglied
Hallo Claudianne,

Eine sehr hübsch erzählte Geschichte mit spannendem Anfang und später überraschenden Wendungen. Habe ich gern gelesen.

Wenn du Silberpfeil nett bittest, sagt er dir vielleicht, an welchen Stellen du seiner Meinung nach kürzen solltest. So furchtbar viel Überflüssiges habe ich nicht entdeckt, aber das liegt vielleicht am angenehmen Erzählfluss, der einen mitzieht.

Gleich am Anfang solltest du etwas ändern:

"Und da roch sie es wieder: diesen ekelerregenden Gestank nach nassem Hund, der [red]einem[/red] (muss heißen: [blue]einen[/blue]) sofort die Luft anhalten ließ."

Du bist sonst sprachlich sehr sicher, doch hier und da fehlt ein Komma.

Du bist gut. Schreibe weiter!

Viele Grüße aus München,

Ofterdingen
 

claudianne

Mitglied
Und da roch sie es wieder: diesen ekelerregenden Gestank nach nassem Hund, der einen sofort die Luft anhalten ließ.
Das Schlimmste aber war die Gewissheit, dass es nicht nur nach nassem Hund roch, sondern dass es auch ein nasser Hund war. Nass vom eigenen Sabber, der ihm - wie all diesen faltigen Rassen die aussehen als hätten sie einmal zu oft mit der Nase gebremst - beständig aus dem Mund rann. Und groß war er, groß wie ein kleines Damenrad.
„Okay, Luft anhalten und dann schnell vorbei“, beschwor sich Mina selbst, „nur nicht stehen bleiben.“
Langsam schlich sie den Gartenzaun entlang. Nur kein Geräusch machen, nur nicht den Hund auf sich aufmerksam machen. Schon war sie am Tor angekommen. Mina war sich sicher, dass er dort auf sie wartete. Jeden Morgen aufs Neue machte der Hund ihr den Schulweg zum Albtraum.

So, noch ein Schritt und da saß er schon. Der Hund. Mina kannte seinen Namen nicht und wollte ihn auch gar nicht wissen.
„Geh weiter“, forderte Mina sich selbst auf, „geh einfach weiter!“
Aber wie jeden Morgen gehorchten ihre Beine nicht und sie stand bewegungslos vor ihm.
Seine Spucke tropfte auf den Boden. Tropfte und tropfte und tropfte und dann passierte es wieder: Erst langsam und dann immer schneller schüttelte der Hund seinen Kopf. Wie ein Rasensprenger verteilte er seinen schlontzigen Sabber in alle Richtungen. Auch - und besonders - in Minas Richtung. Flatsch. Schon wieder traf sie Schlodder im Gesicht und sie meinte, dass der Hund dabei grinste. Minas Kopf lief rot an vor Wut, vor Scham und besonders vor Ekel. Erst jetzt konnte sie wieder laufen. Der große Schulranzen hüpfte auf Minas Rücken - so schnell lief sie - bis ihr die Puste ausging.

Da war sie Gott sei Dank schon in dem kleinen Park angekommen. Dort stand etwas abgelegen ihre Bank.
Sie war ihr Zufluchtsort nach jeder Hundesauerei. Zum Luftschnappen und - noch wichtiger - um sich das Gesicht abzuputzen. Dafür hatte sie extra schon ein altes Geschirrtuch im Schulranzen dabei, heimlich aus Mamas Wäschekorb stibitzt.
„Nein, nicht auch das noch“, dachte Mina, als sie sah, dass auf ihrer Bank schon jemand saß. Ein Mann mit Bart und einer ganzen Menge Plastiktüten. Brabbelnd wurstelte er darin herum.
„Hey“, sagte Mina beleidigt zu ihm, „das ist meine Bank! Kannst du deine Tüten nicht woanders sortieren?“
„Wo denn?“, fragte der Mann mit Bart freundlich und streckte Mina seine nicht ganz saubere Hand hin, „ich bin der Josef und für mich gibt’s kein Woanders.“
„Wie jetzt?“, fragte Mina, „ein Woanders gibt’s doch immer. Zum Beispiel daheim in deinem Zimmer oder einfach drei Meter weiter hinten?“
„Ja, also mein Daheim ist momentan hier, mein Zimmer ist die Bank und drei Meter weiter hinten sitze ich mitten im Gestrüpp“, entgegnete Josef.
„Na dann setzt dich halt zwei und einen halben Meter weiter hinter, neben das Gestrüpp“, schlug Mina vor.
„Aber warum sollte ich das tun: Hier steht die Bank und nicht woanders. Und ich denke, sie ist groß genug, dass du deinen feinen Popo auch noch mit dazu setzen kannst. Schau ich rutsch noch ein Stück“, sagte Josef und klopfte einladend neben sich auf die Bank.
„Na gut“, sagte Mina und setzt sich an den Rand.
Umständlich nestelte sie an ihrem Schulranzen herum, weil sie sich nicht traute einfach ihr Geschirrtuch auszupacken.
„Was machst du denn da?“, fragte Josef.
„Ach nichts, ich muss mir nur mal die Nase putzen“, antwortete Mina und zog das Geschirrtuch heraus.
„Du hast aber ein großes Taschentuch“, sagte Josef, „aber wenn ich Dich genau anschaue, hängt Dir auch eine ganz schöne Menge Rotz im Gesicht. Das kann doch nicht alles aus deiner Nase gekommen sein.“
„Nein“, flüsterte Mina reserviert, „das kommt vom Hund.“
„Aha verstehe“, sagte Josef, „und wie kommt Hunderotz in dein Gesicht?“
Mina hatte eigentlich keine Lust ihre morgendliche Qual mit irgendwem zu teilen, aber diesen Josef, den fand sie nett. Und viele Freunde, denen er es weitererzählen könnte, hatte er bestimmt nicht.
„Na der Hund, vorne in der Straße“, fing Mina an, „der, der so besonders stinkt und dem dauernd die Spucke aus dem Mund tropft.“
„Ja, den kenn ich“, erwidert Josef, „der kleine Faltige mit dem Sabberproblem, was ist mit dem?“
„Na der mag mich nicht. Er zwingt mich ihn anzustarren und dann schüttelt er mir seinen Schlabber ins Gesicht, jeden Morgen, seit die Schule wieder angefangen hat. Und ich komm zu spät, trau mich nicht sagen warum und dann krieg ich geschimpft und so einen blöden Stempel in mein Hausaufgabenheft. Einen weinenden Clown. Wenn ich zehn davon habe, muss Mama zum Direktor“, jammerte Mina.
„Und warum gehst dann nicht einfach woanders auf deinem Schulweg?“, fragte Josef.
„Da gibt’s kein Woanders“, sagte Mina, „die anderen Wege sind viel zu lang.“
„Weißt du was“, sagte Josef, „ich überleg mir was. Jetzt sieh zu, dass du schnell in die Schule kommst und wir treffen uns morgen früh wieder hier auf der Bank. Ich schau mir den Hund inzwischen noch mal an.“
„Na gut“, seufzte Mina und sauste Richtung Schule.

Am nächsten Morgen, kurz vorm Hund war sich Mina sicher, dass sie es schaffen würde, einfach vorbeizugehen. Wenn er doch nur nicht so groß wäre.
Noch drei Schritte, noch zwei, noch einer, schon kam das Gartentor und da saß der Hund. Wie immer. Bewegungslos. Einfach weitergehen. Mina hob einen Fuß und dann den zweiten, dachte sich gerade, „ja es geht, meine Füße funktionieren!“, da knurrte er.
Ganz leise und auch nur einmal, aber das reichte. Mina stand wie angewurzelt vor dem Tor. Ihre Füße waren mit dem Gehweg verschmolzen. Langsam bewegte der Hund seinen Kopf. Hin und her. Hin und her. Dann wurde er schneller und die Tropfen regneten nur so auf Mina herab. Und dann fing sie wie jeden Morgen an zu rennen.

Josef saß schon auf der Bank. Mina hatte nun keine Scheu mehr ihr Geschirrtuch sofort aus dem Schulranzen zu reißen und putzte sich gleich das Gesicht.
„War das wieder der Burli?“, fragte Josef.
„Wer ist der Burli?“, fragte Mina.
„Ja der kleine Hund, von dem du erzählt hast.“
„Keine Ahnung, wie der heißt - das interessiert mich auch nicht. Klein ist der jedenfalls nicht. Der ist riesig. Wahrscheinlich sogar größer als du.“
„Ach Schmarrn!“, erwiderte Josef, „der ist klein, wenn nicht sogar winzig. Der bläst sich bloß auf – wie ein Luftballon. Eigentlich ist er nicht größer als dein Daumennagel.“
„Ja, ja, das sagst du jetzt bloß. Riesig ist der und stinken tut er auch gewaltig“, sagte Mina trotzig.
„Mir kann man ja viel nachsagen, aber einen Schmarrn erzähl ich nie. Schon gar keinem netten kleinen Fräulein wie dir. Ich kanns dir beweisen, wenn du mir nicht glaubst“, sagte Josef.
„Natürlich glaub ich dir nicht. Ich steh dem Hund ja jeden Tag gegenüber. Wir schauen uns direkt in die Augen. Bloß dass er sitzt und ich stehe“, sagte Mina.
„Ich sag ja, dass er sich aufbläst“, wiederholte Josef, „komm einfach nach der Schule wieder vorbei. Dann wirst du es schon sehen.“
In der Schule bekam Mina heute ihren neunten weinenden Clown und sie konnte es kaum erwarten, wieder zu Josef auf die Bank zu kommen.
Noch während des Gongs zum Stundenende lief Mina aus der Schule.

Aber die Bank war leer. Kein Josef. Kein Beweis.
„Also doch nur ein Sprüchmacher!“, schimpfte Mina enttäuscht.
„Bin schon da,“ hörte sie da Josef hinter sich, „ich hab bloß noch was organisieren müssen. Komm, wir müssen gleich weiter.“
„Ist es weit?“, fragte Mina, „Mama wartet daheim mit dem Essen und sie soll nichts merken.“
„Nein, ist gleich da drüben. Wir gehen in die Kirche.“
„Oh je, meinst du, wir brauchen den lieben Gott, dass er aus dem Hund die Luft raus lässt?“
„Nein, den brauchen wir dafür nicht. Das kannst du schon selbst. Und ein bisserl brauchen wir Hans, den Mesner, der hat uns die Tür zum Kirchturm aufgesperrt.“
„Aha“, sagte Mina neugierig und ein bisschen verschreckt, „aber da oben sitzt jetzt nicht der Hund und wartet auf mich?“
„Nein, der ist, wo er immer ist. Und wir schauen ihn uns jetzt einmal ganz genau an“, sagte Josef.
Mina sauste die Kirchturmtreppe hinauf und Josef kam keuchend hinterher.
„Riechst du die gute Luft“, fragte er oben angekommen, „hier oben bin ich immer, wenn ich eigentlich woanders sein will. Weit weg. In den Bergen oder den Wäldern. Da schau ich dann runter und bin schon fast dort. So, jetzt schnauf einmal ganz tief ein“, forderte Josef die Mina auf, „ganz tief in den Bauch.“
Mina schnaufte, bis keine Luft mehr in ihren Bauch hineinpasste.
„So“, sagte Josef dann, „jetzt ist der aufgeblasene Burli ganz klein geworden. Schau nur runter.“
Mina beugte sich über die Brüstung. Gegenüber war das verhasste Gartentor mit dem Hund.
„Was redest du denn“, sagte Mina enttäuscht, „der schaut ja aus wie immer.“
„Genau“, sagte Josef, „klein wie immer. Nicht größer als dein Daumennagel, hab ich gesagt. Probiers halt aus.“
Mina hielt ihren Daumen in die Luft und versuchte den Hund damit abzudecken. Und es klappte tatsächlich. Hinter ihrem Daumen verschwand der ganze Hund. Sie probierte alle Finger durch und sogar der winzige kleine Finger verdeckte den Hund. Mit der ganzen Hand konnte sie sogar das Gartentor inklusive des gesamten Gartens abdecken. Lustig.
„Gut, du hast gewonnen“, gab Mina zu, „aber von oben schaut ja alles kleiner aus. Wenn ich ihm morgen früh wieder gegenüberstehe, ist aber doch wieder alles beim Alten.“
„Nein, das glaub ich nicht“, antwortete Josef, „du weißt ja jetzt, dass der Burli eigentlich ganz klein ist.“
„Hm“, seufzte Mina, „mal schauen, ob das was nutzt.“
Am nächsten Morgen - der Tag, der den zehnten weinenden Clown versprach - rannte Mina schon auf dem Weg zum Hundegarten. Vielleicht konnte sie schon vorher Zeit sparen, damit sie nicht ganz so spät in die Schule kam, nach dem Hundeschlamassel.
Wieder war das Gartentor in Sichtweite. Schon war sie dort und da saß er wieder. Stinkend wie immer und triefend wie immer. Mina stand bewegungslos vor ihm. Wie immer. Doch etwas war anders: Mina stand da, weil sie stehen bleiben wollte.
Sie atmete ganz tief ein. Durch die Nase, obwohl es so stank. Ihr Mund war nämlich voll: Den ganzen Weg hierher hatte sie Spucke in ihren Backen gesammelt. Und noch bevor der Hund - sie nannte ihn jetzt Burli - loslegen konnte, ließ sie ihre Spucke langsam aus dem Mund tropfen. Burli schaute Mina an, fing an zu hecheln. Legte sich auf den Boden, wälzte sich hin und her und her und hin und - grunzte zufrieden.
Mina war baff. Und trocken.

Gerade wollte sie gehen, da ging ein Fenster auf und eine Frau rief heraus: „Ja Burli, tust du schön spielen, hast du eine neue Freundin gefunden?“
Und zu Mina gewandt: „Gell, der Burli ist ein ganz ein braver. Ich hab dich schon ein paar Mal hier stehen sehen, hast ihn recht gern, oder? Vielleicht magst du ja mal mit ihm Gassi gehen. Ich bin nicht mehr so gut zu Fuß.“
„Ja, vielleicht“, sagte Mina, viel zu überrascht, um überhaupt nachzudenken und war auch schon weg.
In der Schule wartete kein Clown auf sie und nach der Schule wartete kein Josef auf der Bank.
Traurig wollte Mina gerade nach Hause gehen, da fiel ihr ein, wo sie Josef finden würde.
Und tatsächlich, er war wieder oben auf dem Turm.
„Und?“, fragte Josef nur, als er Mina sah.
„Ich hab mehr Spucke als er“, sagte Mina, „und offensichtlich einen neuen Freund. Störts dich, wenn der Burli hin und wieder mit uns auf der Bank sitzt?“
„Nein“, sagte Josef, „ich sitz dann aber woanders. Vielleicht zweieinhalb Meter weiter hinten. Weil - bei aller Liebe - stinken, tut er schon.“
 



 
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