Der chinesische Staatszirkus

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Lio

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Tadeusz nähert sich lächelnd dem Bauzaun und versucht zu erkennen, was auf den nur noch in Fetzen zu ihm hin flatternden Plakaten steht. Wasser tropft an seinen dünnen, schwarzen Haaren herab, er ist bis auf die Unterhose durchnässt. Der chinesische Staatszirkus, liest er, der größte Zirkus der Welt kommt nach Breslau.
Wieder hält ein Stadtbus vorne an der Straße. Türen öffnen sich, Ein Passantenknäul, eingelullt in Wintermäntel und Wollmützen, eilt ihm entgegen. Er löst sich vom Bauzaun und wartet vor dem Bahnhofsgebäude. Es erfasst ihn keine Hektik als man an ihm vorbei hastet, ihm fast die Öse eines Regenschirms gegen die Stirn drischt, ihn anpöbelt, was er denn da so im Weg herumstehe.
„Entschuldigen Sie“, ruft Tadeusz gutgelaunt und tippt dem erstbesten Mantel auf die Schulter. „Wo ist denn hier der Ticketschalter?“
Das Gesicht, das sich zu ihm umdreht, verschwindet im Schatten einer Kapuze. Nur zwei symmetrische Nasenflügel und ein kleiner Mund sind zu erkennen.
„Ja, ich muss da sowieso hin“, antwortet ihm eine kräftige Altstimme gereizt, und ohne noch etwas hinzuzufügen, dreht sich die Kapuze wieder um und eilt den anderen Passanten hinterher, die schon bei den Türen des Haupteingangs angelangt sind.

Im Bahnhof streicht eine zierliche Hand die Kapuze vom Kopf. Zum Vorschein kommt ein ungekämmter Lockenkopf, dem Tadeusz bis zum Ticketschalter folgt. Erst dort sieht er ihr Gesicht, er denkt aufgeregt: Bascha? und sofort „Nein, nein, nein. Das ist ja nicht möglich.“
Sie klopft gegen die Scheibe des Ticketschalters. Die Vorhänge im Innenbereich sind zugezogen, so dass man nicht hineinblicken kann. „Das ist wirklich zum Kotzen hier“, sagt sie. Sie schaut sich um, ein Arbeiter sitzt auf der Bank und grinst, eine Stulle kauend, herüber.
„Hey“, ruft sie, „was klotzt du so? Kümmer dich um deinen eigenen Kram!“.
Der Arbeiter grinst noch breiter, so dass man die unzerkauten Brotstücke in seinem Mund sieht. „Ein Ticket bekommt ihr heute nicht mehr“, ruft er. „Die Zigeuner da drin arbeiten nur am Vormittag.“
Zu Tadeusz` Erstaunen huscht jetzt auch ein Lächeln über das Gesicht des Mädchens.
„Wenn das nicht mal wieder typisch ist“, sagt sie. Sie schaut Tadeusz das erste Mal an. Dann fragt sie ihn, wo er hin müsse und ob er überhaupt wisse, wo sein Gleis sei.
„Die sind seit dem Umbau hier nämlich alle verrückt geworden“, sagt sie.

Vor den Fahrplänen stellen sie fest, dass sie beide den Zug Richtung Kluzburg nehmen müssen, und dass sie ihn gerade so verpasst haben. Tadeusz legt die Stirn in Falten und lächelt das Mädchen an. Dann sagt er mit klopfendem Herzen, dass er solange in den Zirkus gehe, den größten Zirkus der Welt. Ob sie vielleicht mitkommen wolle?
Das Mädchen mustert ihn aus halbgeschlossenen Augen. „Warum sollte ich?“, fragt sie alarmiert.
“Warum solltest du nicht?“, antwortet Tadeusz freimütig. „Du musst dir doch auch die Zeit vertreiben und ich war schon sehr lange nicht mehr im Zirkus. Das letzte Mal, das war hier in Polen, in meiner Kindheit.“
„Du bist aber kein Perverser oder so ´was?“, fragt sie noch immer skeptisch. Da erschrickt Tadeusz. Er guckt an seinem durchnässten, hellgrauen Anzug hinunter. Was für einen Eindruck mache ich denn?, denkt er.
Noch bevor er etwas antworten kann, sagt sie: „Ist ja schon gut. Du brauchst nicht gleich in Ohnmacht zu fallen.“
Gemeinsam gehen sie aus dem Bahnhof heraus. Es hat aufgehört zu regnen, nasse Luft schlägt ihnen entgegen. Über ihnen türmen sich noch immer graue Cumuluswolken, aber nah beim Horizont klärt es auf.
„Wir können hier die Straße entlang gehen“, sagt sie, als Tadeuzs´ Handy klingelt. Er zieht es aus der Tasche, schaut auf das Display und drückt weg.
„Warum gehst du nicht dran?“, fragt sie.
Tadeusz schweigt und starrt auf den nassen Betonboden vor sich. Sie gehen um eine große Pfütze herum, kleine Wellen verzerren ihre Spiegelbilder.
„Nicht wichtig“, antwortet er und macht eine unbestimmte Geste.

Als sie bei dem Zirkusgelände ankommen, hat gerade eine Vorstellung begonnen. Ein pausbäckiger Chinese in einem zu eng geschnittenen, blauen Anzug erklärt ihnen, dass sie bis zum frühen Abend warten müssten.
Ob man denn wenigstens die Tiere füttern könne, fragt Tadeusz, aber auch das verneint der Chinese. Gemeinsam stehen sie noch einen Augenblick zusammen. Der Himmel verdunkelt sich wieder. Auch hier gibt es einen Absperrzaun, nach links, nach rechts, so weit das Auge reicht. Er ist innen mit blauem Tuch verkleidet, genauso wie der blaue Vorhang, vor dem der Chinese steht.
Das Mädchen kramt in der Tasche ihres unförmigen Mantels eine Zigarettenpackung hervor und reicht sie dem Chinesen. Er nimmt sie überrascht lächelnd entgegen.
„Sie müssen sich kennen“, schießt es Tadeusz durch den Kopf. „Sie gehen so vertraut miteinander um“, aber dann sagt der Chinese „Ich lauche nich“ und gibt dem Mädchen die Packung Zigaretten zurück.
Erneut klingelt Tadeuzs` Handy. Erneut zieht er es aus seiner Jackentasche und betrachtet das Display. Diesmal lächelt er und hebt ab.
„Ja, ich bin noch in Breslau“, sagt er. „Aber bald bin ich bei euch. Fangt ja nicht ohne mich an“. Er lacht.
„Mein Bruder heiratet“, erklärt er dem Mädchen strahlend, nachdem er aufgelegt hat.

Sie gehen wieder zurück, eine Weile den blauverkleideten Zaun entlang, dann erneut neben der Hauptstraße. Als sie über das Flugzeugunglück sprechen, sagt sie: „Alles nur Korrupte“ und „wir müssten noch viel mehr von denen abschießen.“
Tadeusz gefällt es, wie wütend sie ist, als sie das sagt. Er schweigt und denkt: „Wie schön ist es, nicht zu diskutieren.“ Ein LKW kommt von hinten angerast, sie rennen ein paar Schritte, um der braunen Wasserfontäne auszuweichen, die hinter ihnen auf den Bürgersteig platscht.
Das Mädchen sagt: „Ihr Deutsche versteht das nicht“. Sie meint das versöhnlich, dabei merkt sie nicht wie sich Tadeuzs` Miene verdüstert. „Ihr Deutschen“, wiederholt er leise. Es beginnt zu tröpfeln. Bis zum Bahnhofsgebäude gehen sie schweigend nebeneinander her.

Auf dem Bahngleis ist so viel los, dass sie sich aus den Augen verlieren. Tadeusz glaubt, sie einen Eingang weiter vorne einsteigen gesehen zu haben, käme sich aber albern dabei vor seinen Platz zu verlassen, um sie zu suchen. Ihr Deutschen versteht das nicht, wiederholt er in Gedanken. Ihm ist mit einem Male nicht mehr wohl zu Mute. Er spürt das Wasser in seinen Schuhsohlen, irgendjemand im Abteil isst gekochte Eier, deren Geruch ihm übel aufstoßen.
Bei jedem Halt steht er auf, öffnet das Fenster und schaut nach draußen. Kurz vor Kluzburg entdeckt er sie dann. Wie Bascha, denkt er wieder mit klopfendem Herzen. Dann beginnt sein Handy zu klingeln und Tadeusz lässt den gerade erst zum Gruß erhobenen Arm sinken. Langsam geht er zurück zu seinem Platz, setzt sich, zieht es aus der Tasche, betrachtet sehr lange und sehr ernst das Display und hebt ab.
 



 
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