Der dritte Anruf

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Der dritte Anruf

Wie so oft, hatte sie Recht gehabt. Doch dieses Mal hat sie wirklich einen außergewöhnlichen, ja nahezu gespenstischen Weg gefunden, um es mir mitzuteilen. Sie konnte nicht anders, aber leider hat sie mir den Grund verschwiegen. Bis uns beiden nichts als Stille geblieben ist.
Ich habe bis heute nicht verstehen können, wie sie es gemacht hat. So sehr ich mich auch bemühe, in dieser Angelegenheit einen Sinn, eine Ordnung zu finden, so gelange ich automatisch am Ausgangspunkt zurück. Ich habe längst die Hoffnung aufgegeben, je die Wahrheit verstehen zu können. Vielleicht liegt sie ja direkt vor meinen Augen, doch der Verstand findet einfach nicht den Weg zu ihr. Möglicherweise, weil alles offensichtlicher ist, als es mir erscheint. Vielleicht weil ich im Nebel das suche, was sich bei klarem Tageslicht deutlich offenbart.
Sofern alles tatsächlich so verlaufen ist, wie ich es erlebt habe.
Meine letzte Möglichkeit ist, es hier so genau aufzuschreiben, wie es mir nur erlaubt ist. Nein, vor meinen Augen wird sich die Wahrheit nicht entschleiern. Aber vielleicht vor Ihren!

Es begann an einem Freitag. Natürlich war es ein besonderer Tag, aber darum geht es hier eigentlich gar nicht. Na ja, zumindest nur nebensächlich. Seit sieben Jahren bin ich bereits mit Sarah zusammen. Aber wenn ich sieben Jahre sage, dann meine ich garantiert nicht volle sieben Jahre. Je tragischer unsere Trennungen waren, umso intensiver war die restliche Zeit. Jede Trennung schien immer die endgültige zu sein. Bei unseren Versöhnungen war ich mir allerdings nie sicher, ob es diesmal halten würde. Doch wenn man Mitte dreißig ist, dann sollte man auch die Reife (oder zumindest die Zuversicht) besitzen, sich für eine Richtung zu entscheiden. Ich hatte mich entschieden. Das Ergebnis meiner Entscheidung befand sich in meiner Jackentasche, in Form (und im Wert) eines Verlobungsringes.
Um Ihnen auch deutlich zu machen, wie wichtig es mir war, ist es völlig ausreichend zu erwähnen, dass ich mir für den gleichen Preis die Anzahlung für mein neues (Traum-) Auto hätte leisten können! Selbstverständlich würde ich es Sarah nicht erzählen. ...Eventuell würde ich es mir für unseren nächsten großen Streit aufbewahren. Sollte sich dies tatsächlich irgendwann mal ereignen.
Ich hatte einen Tisch im Nobelrestaurant reserviert. Ich gestehe, es war das erste Mal in sieben Jahren. Ich hatte mich beinahe fertig gemacht um auszugehen, als um genau 18:36 das Handy klingelte. Mein erster Gedanke war: Sie hat abgesagt! Innerhalb einer einzigen Sekunde hatte ich den Kauf des Ringes verflucht, und die verschobene Anzahlung für mein Auto bedauert. Völlig grundlos, denn es war meine Mutter. Erst dort wurde mir klar, dass ich sie bereits seit über zwei Wochen nicht mehr gesehen hatte. Als ich sie zuletzt besuchte, hatte sie kräftige Kopfschmerzen gehabt, weshalb sie kein Wort gesprochen hatte. In diesen zwei Wochen wollte ich sie mehrmals besuchen, aber mein Vater hatte mir mitgeteilt, ihre Kopfschmerzen würden zwar unregelmäßig, aber unvorhersehbar und umso heftiger erscheinen, daher könnte ich mir vorerst die Fahrt ersparen.
Ich begrüßte sie und wollte ihr eigentlich nur mitteilen, dass ich es eilig hatte, da ich um sieben Uhr verabredet war. Ihre Stimme war nicht zu hören, nur ein Rauschen, und zudem noch ein leises. Doch sie war da, ich konnte ihre Anwesenheit spüren; aber leider nicht hören, weshalb ich nach einigen Versuchen auflegte. Sie hätte mich umgehend zurückgerufen, ich wusste es mit Sicherheit. Und tatsächlich geschah es auch so.
Vor über zehn Jahren hatte ich meinen Eltern ihr erstes Handy geschenkt. Sie haben es nie benutzt, und mit nie meine ich auch wirklich nie. Vor wenigen Monaten habe ich einen zweiten Versuch unternommen, und ihnen einen Smartphone geschenkt. Meine Mutter benutzte es ausschließlich, um mit mir zu telefonieren, nur um mich nicht zu enttäuschen. Zwar hatte ich ihnen die wichtigsten Funktionen erklärt (telefonieren, einschalten, ausschalten), aber mir war klar, sie würden es schnell wieder vergessen. Vermutlich hatte sie nun irgendetwas verstellt, es womöglich unbeabsichtigt auf Stumm geschaltet.
Es klingelte nochmals, und zunächst war da nichts als Stille. Aber ich verspürte dabei ein seltsames Gefühl der Leere, der Ferne... ...der Dunkelheit! Ich weiß wirklich nicht, weshalb mir damals Dunkelheit und nicht Stille eingefallen ist. Jetzt weiß ich es allerdings. Aber ich kann es nach wie vor nicht verstehen. Plötzlich war sie da! Nicht ihre Stimme, aber sie war da. Dann folgte wieder das Rauschen, als würde es absichtlich ihre Stimme verbergen. Es war aber kein Defekt, es hörte sich einfach nicht danach an. Ich rief sie mehrmals, immer lauter, obwohl ich genau wusste, dass sie mich gut verstehen konnte. Ich wollte sie unbedingt hören. Ich musste sie unbedingt hören! ...Ihre Kopfschmerzen! Es musste wohl daran liegen. Mir war klar, dass sie mich nur angerufen hatte, damit ich mir keine Sorgen um sie machen musste, da ich sie in den letzten Wochen mehrmals besuchen wollte. Ihre Stimme hatte offensichtlich versagt, sie konnte einfach nicht sprechen, und plötzlich hatte ich ihr schmerzverzerrtes Gesicht klar vor Augen! Wie sie versuchte, sich zusammenzureißen. …Dieses unerklärliche Gefühl der Ferne! Es war gespenstisch, sie schien weit weg zu sein, und dennoch anwesend. Auf einmal war nichts mehr da, kein Rauschen, gar nichts. Ich betrachtete mein Handy. Und falls die Ursache dafür bei mir läge? Dann wäre sie diejenige, die sich gerade Sorgen machte! Ich wusste, meine Mutter würde mich in den nächsten Minuten nochmals anrufen, ein drittes Mal. Ich wartete. Und ich überlegte. Wie konnte ich mir dieses Gefühl der Leere am anderen Ende der Leitung erklären? Ich wartete. Sollte ich Sarah eine Nachricht senden, weil ich mich bestimmt um fünf Minuten verspäten würde? Das Handy klingelte. Die Nummer meiner Mutter erschien, so antwortete ich hastig. Kein Rauschen, keine Stimme, aber alles kam mir so klar vor, ...klar, und irgendwie friedlich, doch der Eindruck einer unerklärlichen Ferne war geblieben, war im Grunde sogar wesentlich deutlicher geworden! Plötzlich war sie da! Ihre Stimme war da, denn sie war die ganze Zeit da gewesen. Die Stimme war kaum vernehmbar, sie musste irgendetwas an ihrem Smartphone verstellt haben. Ich hätte es mir in den darauf folgenden Tagen mal ansehen, beim nächsten Besuch.
Sie klang seltsamerweise so... zufrieden, geruhsam. So leise und entfernt sie auch schien, so harmonisch sprach sie zu mir, wie ich sie schon lange nicht mehr gehört hatte. Aus dem Nichts offenbarte sich mir eine vage, doch gleichzeitig vertraute Erinnerung. Sie hatte ihren Ursprung in den ersten Jahren meiner Kindheit, ich hatte den Eindruck, damals kaum älter als ein Jahr gewesen zu sein, und mir war absolut nicht bewusst gewesen, Erinnerungen aus dieser Zeit gespeichert zu haben. Eine Art Kurzschluss hatte sie offensichtlich erweckt und schlagartig bis zur Oberfläche der Gegenwart geführt. Eigentlich handelte es sich um eine sehr flüchtige Erinnerung: ich hörte die Stimme meiner Mutter, und sie klang identisch mit ihrer... jetzigen Stimme, wie ich sie gerade hörte!
Während wir uns im Laufe des Lebens zeitgleich mit der Gegenwart bewegen, werden uns Veränderungen kaum bewusst, bis wir die Gelegenheit haben, unsere Zeit mit der Vergangenheit zu vergleichen. Natürlich hatte sich ihre Stimme mit den Jahren verändert, aber auf einmal hatte ich dieses Fragment einer längst verflossenen Situation klar vor Augen. Sie sprach zu mir als ich es selbst noch nicht konnte, und ihre Stimme beinhaltete alle Liebe der Welt. Es war die gleiche Stimme wie die am Telefon, unverändert nach fünfunddreißig Jahren! Aber ihre jetzige Stimme klang viel weiter entfernt selbst als die aus meiner Erinnerung, die sich blitzartig wieder verflüchtigte.
Ja, sie hatte wohl einfach etwas an der Lautstärke geändert; vielleicht war es auch ein Kontakt, oder ich müsste ihr einen Patch herunterladen. Sie schien fast aus einer anderen Dimension zu sprechen! Aber was sagte sie gerade? Ich konnte es kaum vernehmen, daher wiederholte ich “sprich lauter, sprich bitte lauter!” Sie hatte mich offensichtlich nicht gehört, denn sie ignorierte mich, und sprach unverändert weiter. Ich versuchte, etwas zu verstehen. Es waren nur Bruchstücke: “Vergib ihr!” ...Hatte sie dies gesagt? Vergib ihr? Wem sollte ich vergeben? Dann folgten weitere Sätze: “Sei etwas geduldig, und ihr werdet glücklich sein!” Sie hatte genau das gesagt, und sie klang dabei so friedlich. “Meine Enkelkinder... … ...”.
“Was redest du da, welche Enkelkinder?”, hätte ich sie beinahe unterbrochen. Ich tat es nicht, denn sie war abrupt verschwunden. Sie hatte sich irgendwie rapide entfernt, als sie den Satz beenden wollte. Sie wurde... weggebracht, denn sie wollte diesen Satz beenden, ihn vielleicht sogar wiederholen, weil es ihr wichtig war. Wieder war alles still. Still und leer, diesmal endgültig.
Ich war bereits zu spät, mindestens zehn Minuten. Und dabei hatte ich vorgehabt, Sarah einen Antrag zu machen!
Ich beeilte mich, schaffte es dennoch nicht rechtzeitig bis zum Restaurant. Als ich eintrat, schaute ich mich nervös um; das Restaurant war voll, aber von Sarah keine Spur. Ich sagte am Eingang wegen der Reservierung bescheid, wartete aber draußen. Sie kam nach einer halben Stunde; ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. Tatsächlich schien danach alles reibungslos zu laufen, aber dann... … . Ich kann mir wirklich nicht erklären, wie solch eine Situation überhaupt zustande kommen konnte. Es ist, wie wenn sich harmlose kleine Wolken rasch zu einer mächtigen, dunkelgrauen Wolke vereinen, aus der blitzartig ein unerwarteter Sturm herausbrechen kann! Ich hatte eigentlich nur auf den richtigen Zeitpunkt gewartet, um ihr den Ring zu zeigen. Natürlich wollte ich zunächst das Gespräch in diese Richtung führen, das passende Lied im Hintergrund abwarten, doch irgendwie... … . Diesmal war es wirklich nicht meine Schuld! Wirklich nicht! Sie wurde... wie soll ich sagen... einfach nur zickig! Sie hatte auch überhaupt keinen Grund dafür gehabt, denn schließlich hatte die ganze Zeit nur sie geredet. Ich weiß wirklich nicht, weshalb sie mir plötzlich irgendwelche Dinge vorwarf, von denen ich kurz zuvor gar nicht wusste, dass man sie mir überhaupt vorwerfen konnte! Aber ich bewahrte die Ruhe, oder versuchte es zumindest. Dabei dachte ich ununterbrochen: “Ich werde nun diese Lage unter Kontrolle behalten!” Oder: “Irgendwann wird sie schon noch damit aufhören, sei es auch nur, um zwischendurch mal Luft zu holen!” Oder auch: “Warum muss sie nicht jetzt zur Toilette, sondern immer nur dann, wenn es wirklich unangebracht ist?”
“Diesmal nicht!”, dachte ich, “Diesmal bin ich der Vernünftige, und bleibe ruhig! Mit einem einzigen Satz werde ich in der Lage sein, die Situation zu entspannen, und sobald sie den Ring sieht... ...”.
Ich wiederholte diesen Satz mehrere Male in meinen Gedanken, dann stand ich auf, warf die Serviette vor mich hin, und sagte nur: “Das war’s zwischen uns beiden!”
Ich ging zur Kasse, versuchte vergebens (aber so was von vergebens!) mir nichts anmerken zu lassen, bezahlte, verfluchte die Summe, die ich gerade bezahlt hatte, dann noch die, die ich für diesen nutzlosen Ring ausgegeben hatte, und lief einfach raus.
Ich war zu Fuß gekommen, da ich nur zehn Minuten entfernt wohnte. Nach einigen Minuten der Leere in meinen Gedanken überlegte ich, meinen besten Freund anzurufen. Als ich den Pub vor meinen Augen erblickte, ging ich einfach rein, nicht ohne davor mein Handy auszuschalten. Ich wollte nichts mehr hören.
Was dann geschah... ...nun ja, ich weiß wirklich nicht, ob es sich auch tatsächlich so ereignet hat. Wie viel Zeit war vergangen? Vielleicht eine Stunde, vermutlich weniger. Ich hatte viel getrunken, denn ich wollte alles vergessen, was zuvor geschehen war. Leider habe ich nur das vergessen, was danach geschah. Irgendwann drehte ich mich um, und sie stand neben mir! Meine Ellbogen waren am Tresen gelehnt, mein Kopf zwischen den Armen halb versunken, während meine Hände ihn stützten. Sie hatte nichts gesagt, sie stand nur da und lächelte. Die richtige Frage wäre gewesen: “Wer bist du?” Stattdessen fragte ich: “Kommst du von einer Pyjama-Party, oder gehörst du zu einer dieser Sekten, die ständig den Weltuntergang prophezeien? Warum bist du so komisch gekleidet?”
Das war sie in der Tat. Sie trug ein offensichtlich altmodisches, langes, weißes Kleid. Sie hatte dunkelbraune Haare, und ihre Frisur war mindestens so altmodisch wie ihr Kleid. Was mir aber sofort auffiel war die große, bernsteinfarbene Haarbrosche in Form eines Schmetterlings, die seitlich an ihren Haaren befestigt war. Wer war dieses Mädchen? Warum kam sie mir so vertraut vor? Sie war wesentlich jünger als ich, kaum älter als zwanzig.
Sie lächelte mir zu; vielleicht hatte ich zurückgelächelt, doch wahrscheinlich hatte ich sie dabei nur merkwürdig angesehen. Ihr Ausdruck veränderte sich nicht; sie war glücklich, mich zu sehen, als wollte sie mich trösten. Nach einiger Zeit streckte sie ihre Hand nach mir aus und legte sie sanft auf meine Schulter; wenige Sekunden später sagte sie nur: “Habe etwas mehr Geduld mit ihr! Du wirst schon sehen, es wird sich lohnen!”
Sie klang außerordentlich vertrauenswürdig; ihr Ausdruck wirkte sehr besänftigend. Obwohl ich betrunken war, merkte ich sehr wohl, dass sie noch anderes sagen wollte. Auf einmal wirkte ihr Gesicht schmerzverzerrt, obwohl sie versuchte, es zu verbergen. Heute kenne ich auch den Grund dafür: weil sie mich verlassen musste, und zwar für immer!
Was danach geschah, war mir zum ersten Mal passiert, und hoffentlich auch zum letzten: ich habe keine Ahnung, wie ich nach Hause gekommen bin! Habe ich überhaupt alle Drinks bezahlt? Als ich aufwachte, war es Samstag um zwei Uhr nachmittags. Ich kam nicht sofort auf den Gedanken, das Handy wieder einzuschalten, da ich vergessen hatte, es überhaupt ausgeschaltet zu haben. Ich fand mehrere Nachrichten, zwei waren von meinem Vater, eine von meiner Schwester. Alle waren sehr seltsam. Sie hatten mich gebeten, zu ihnen nach Hause zu fahren. Zunächst dachte ich, meine Schwester sei unerwartet zu Besuch gekommen, dann überlegte ich, wann ich sie überhaupt das letzte Mal gesehen hatte. Ich wusste es nicht, aber es war ziemlich lange her! Warum aber klangen sie so... apathisch?
Ich hatte es bevorzugt, zuerst zu duschen; keine vierzig Minuten später war ich da. Ich erblickte von weitem den VW Polo meiner Schwester, der vor der Haustür parkte. Weitaus überraschender war aber der alte Opel Senator meines Onkels, dem älteren Bruder meiner Mutter. Er und meine Tante erschienen eigentlich nur zu Weihnachten oder zu Ostern, ausnahmslos! Es war schon immer so gewesen, seit meiner Kindheit.
Wäre ich nicht erst seit einer Stunde wach gewesen, wären nicht die Umstände des letzten Tages gewesen, dann hätte ich meinem mulmigen Gefühl mehr Aufmerksamkeit geschenkt, während ich im Vorgarten zur Tür lief, und sie öffnete, da ich selbstverständlich noch die Schlüssel besaß. Ich war in dem Haus aufgewachsen, aber ich hatte es nie so still erlebt, wie als ich es gerade betrat. Eigentlich sollten doch alle zu Hause sein, oder befanden sie sich vielleicht hinten, im Garten? Die Küche war leer, im Flur war niemand, aber ich sah zwei Handtaschen, die meiner Schwester und meiner Tante. Aus dem Wohnzimmer hörte ich ein Flüstern, und näherte mich. Sie saßen alle schweigend am Tisch. Nein, nicht alle! Mein Vater, meine Schwester, mein Onkel und meine Tante. Meine Mutter fehlte. Ihre Blicke waren ernst, doch sie trauten sich kaum, mich anzusehen. Sie taten es trotzdem. Mein Vater stand umgehend auf und lief mir entgegen; ich war an der Türschwelle stehen geblieben. Die Frage nach meiner Mutter wäre sinnlos gewesen, ich konnte sofort erspähen, wie er geweint hatte. Er musste den ganzen Vormittag geweint haben, vermutlich auch die ganze Nacht, und hatte gerade ausreichend Kraft gefunden, um sich wieder zu fangen. Worte waren nicht notwendig. Wir entfernten uns gemeinsam, schweigend. Durch die Küche gelangten wir zur Veranda. Ich konnte mir nicht ansatzweise vorstellen, welche Kraft mein Vater aufbringen musste, um sich zu beherrschen, um seine Tränen zu zügeln! ...Nein, nicht ansatzweise! Ich erblickte den alten Sessel auf der Veranda; dort hatte ich meine Mutter zum letzten Mal gesehen. Wir blieben genau davor stehen. Die Augen meines Vaters glitten zum Sessel; nach mehreren Sekunden, unterbrach er das Schweigen. Erst dort merkte ich, wie gebrochen seine Stimme in Wirklichkeit war: “Hier hat sie die letzten vier Wochen ihres Lebens verbracht! Sie hat kein Wort mehr gesprochen. In fast vierzig Jahren haben wir uns alles gesagt, was es zwischen zwei Menschen zu sagen gibt, und dennoch ersehnte ich ihre Stimme, als hätte ich sie nie zuvor vernommen, als hätte ich ihr gerade einen Antrag gemacht, und würde ihr < Ja > abwarten! Tag für Tag habe ich mich danach gesehnt, jeden Tag mehr und mehr. Aber ich wusste, dass die Zeit immer knapper wurde. Eigentlich war Sie bereits vor vier Wochen abgelaufen. Ich kann mich genau an ihre letzten Worte erinnern: < Es war ein herrlicher Tag, nun ist die Sonne untergegangen. Zeit für etwas Ruhe! > Es war sieben Uhr nachmittags, wie immer, als ich sie zu Bett brachte. Hier hat sie ununterbrochen gesessen; die milde Sonne blendete ihr ins Gesicht, aber es machte ihr offensichtlich nichts aus. Ihre Augen bewegten sich nicht, sie nahm mich nicht mehr war, und starrte vor sich hin. Sie ist noch geblieben, weil sie noch etwas zu sagen hatte. Sie hatte dir etwas zu sagen! Sie wollte nicht, dass du kommst, weil sie nicht dazu imstande war. ...Ich wünschte, sie hätte einen Weg gefunden, was auch immer es war, was sie dir zu sagen hatte!”
Dann schwieg mein Vater, aber ich wollte sein Schweigen nicht unterbrechen. Nach fast einer Minute fuhr er fort: “Gestern Abend um sechs Uhr habe ich ihr wie immer das Abendessen gebracht. Sie hat es verweigert. Es war das erste Mal. Da wusste ich, dass es zu Ende war. Ich wollte die letzten Augenblicke mit ihr verbringen, ich habe es aber nicht geschafft, bei ihr zu bleiben. Ich... ...ich musste ununterbrochen an die Wochen vor unserer Verlobung denken, vor vierzig Jahren, als alles noch am Anfang war. Dies aber war nun das Ende! Ich blieb draußen, als ich sie dann um sieben ins Bett bringen wollte. Ich dachte, sie würde über Nacht friedlich einschlafen, während meine Gedanken in der Vergangenheit schwelgten, als ich versuchte zu verstehen, wie ich diese wundervolle, unberechenbare Zwanzigjährige erobern könnte. Ich hatte mir vorgenommen, während der ganzen Nacht ununterbrochen ihre Hand zu halten, wie damals, kurz nachdem sie < Ja > gesagt hatte, und wir unsere Pläne schmiedeten, die gerade die letzte, weiße Seite erreicht hatten. Als ich aber um sieben Uhr abends sah, wie die letzten Sonnenstrahlen ihr Gesicht erhellten, wusste ich, dass ihr Blick diesmal leer war. Ich rief den Arzt... den Rest kannst du dir vorstellen. Ich habe tatsächlich die ganze Nacht an unsere erste gemeinsame Zeit gedacht, an das, was davor war. Zum ersten Mal seit damals war ich allein im Bett. Als müsste ich sie noch erobern!”
Nun ja, mein Vater ist glücklicherweise mit Anfang sechzig noch sehr gut in Form, und er war auch immer ein sehr lebensfroher Mensch. Er wird in den nächsten Jahren der Welt noch viele, viele interessante Facetten und Erfahrungen abgewinnen können. Doch plötzlich machte er ein besorgtes, oder eher überraschtes Gesicht, und fügte hinzu: “Eines habe ich dennoch nicht verstehen können: gestern Abend, kurz nachdem sie... ...kurz nach sieben betrat ich unser Schlafzimmer, als ich auf unserem Bett etwas unerwartetes erblickte: es war ein altes, weißes Kleid, das sie an dem Tag trug, als ich ihr damals den Antrag machte! Danach hat sie es nie wieder getragen, aber ich kann mir wirklich nicht erklären, wie sie es geholt und so sorgfältig hingelegt haben kann, da sie sich nicht mehr selbstständig bewegt hatte! Ich verstehe es wirklich nicht! Wir... wir werden sie mit ihrem Kleid begraben”
Dann überraschte ich ihn mit einer Frage: “War vielleicht auch eine Brosche in Form eines Schmetterlings dabei?” “Woher weißt du das?”
Ja, er war wirklich überrascht, fügte dann hinzu: “Auf dem Kleid lag ihr Verlobungsring! Ich konnte mir damals natürlich nichts Wertvolles leisten, aber es hatte seinen Zweck erfüllt. Sie hat es nach der Hochzeit nicht mehr getragen, hat aber mehrmals den Wunsch geäußert, dass du ihn deiner... deiner zukünftigen Ehefrau schenken solltest!”
Wir sprachen noch eine Weile, gingen dann ins Wohnzimmer zurück. Ich suchte mir ein altes Fotoalbum, das einzige aus der Zeit vor ihrer Verlobung. Ich suchte ein bestimmtes Foto, und fand es auch: plötzlich sah ich das Mädchen aus dem Pub! Das gleiche Kleid, die gleiche Brosche an ihren Haaren. Ein paar Jahre später würde ich zum ersten Mal ihre Stimme hören, bis diese viele Jahre später, aber viel zu früh versagen würde.
Meine Schwester blieb noch einige Tage; ich habe darüber hinaus noch sehr viel Zeit mit meinem Vater verbracht.
Sarah kam mich besuchen, um mir ihr Beileid auszudrücken. Sie blieb nur wenige Minuten, fügte aber noch hinzu, mir weiteres mitteilen zu wollen, aber an einem anderen Tag... hoffentlich so bald wie möglich.
Ich meldete mich bei ihr drei Tage später, und wir verabredeten uns. Sie war sehr direkt: “Es gibt kein Weg zurück, ich bin schwanger!”
Ich kann mir meine Reaktion kaum vorstellen, sie muss aber wirklich sehr komisch ausgesehen haben. Unberechenbar wie sie ist, hat sie sofort versucht, mich zu verwirren: “...Und du bist der Hauptverdächtige!” Danach muss mein Gesicht noch komischer ausgesehen haben. “Das war jetzt ein kleiner Scherz, du Dummkopf. ...Ich meine, der letzte Teil des Satzes war ein kleiner Scherz, nicht der erste!”
Sie schwieg einige Sekunden, dann fügte sie den wichtigsten Satz meines Lebens hinzu: “Du bist der einzige, der dafür je infrage käme!”
Ich habe ihr den Antrag gemacht, und ihr den Ring meiner Mutter geschenkt. Den anderen habe ich zurückgegeben. Mit dem Geld werde ich die Anzahlung für das neue Auto leisten, allerdings wird es ein Familienauto sein, und kein Coupé!
Als ich Sarah den Antrag gemacht habe, war es kurz nach sieben Uhr am Abend. Die letzten, milden Sonnenstrahlen erhellten ihr glückliches, lächelndes Gesicht. Ich werde versuchen, diesen Augenblick für die nächsten Jahrzehnte zu vergessen, oder zumindest zu verdrängen. Sollte eines Abends ihr Lächeln erlöschen, so wird dieser Moment wieder erscheinen, lebendig und unverändert. Ich hoffe aber, er wird sich stattdessen Tag für Tag erneuern!

Raphael Vercott.
 

Ilona B

Mitglied
Hallo Raphael,
die Geschichte hat mir gefallen. Dein Schreibstil ist ansprechend und ich konnte mich gut in die Situation hinein versetzen. Mir war schnell klar was passieren wird. Allerdings bin ich mir nicht sicher ob die Ehe halten wird, na' auf jeden Fall wird sie nicht langweilig werden.
Liebe Grüße Ilona B
 
Hallo Ilona B!
Danke für Dein Kommentar. Ich bin mir sicher, die Ehe wird schon halten... die Vorzeichen zumindest stehen eigentlich recht gut, oder?

Schöne Grüße, Raphael
 

Ilona B

Mitglied
Hallo Raphael Vercott,

- er ärgert sich den Ring gekauft zu haben, weil das Telefon
schellt, obwohl er gar nicht weiß wer dran ist
- sie könnte jetzt mal auf die Toilette gehen, wo sie sonst
immer zur unpassenden Zeit geht
- sie kommen beide zu spät
- sie scheinen sich sehr oft zu zanken
- nachdem sie nun schwanger ist, bleibt keine andere Wahl

So verliebt hört sich das für mich nicht an.
Ich habe mehr den Eindruck, als stände das Paar kurz vor der Trennung.

Liebe Grüsse Ilona B
 

Karinina

Mitglied
Für Raphael

Ja, mir hat Deine Geschichte auch sehr gut gefallen. Am Anfang hat sie mich etwas an meinen eigenen Stil erinnert,obwohl ich auch leider zu oft langatmige Sätze schreibe.
Ich denke aber, Du könntest sie durchaus kürzen, denn wohin es zielt, ist schon eher klar. Leider bin ich in der Beurteilung fremder Geschichten nicht so bewandert und kann Dir deshalb keine konkreten Vorschläge machen, eines nur irritiert mich: Das Unterschwellige, das Mystische, ist mir zu konkret und da ich kein in dem Sinne gläubiger Mensch bin, etwas zu abwägig.Ich wünsch Dir was
Karin
 
Hallo Karin,

leider komme ich erst heute dazu, Dir zu antworten. Ich habe nicht ganz verstanden, ob du lange Sätze grundsätzlich als langatmig definierst. Teils etwas längere Sätze gehören zu meinem Schreibstil; ich finde, sie können durchaus ihre Eleganz haben, ohne dabei langatmig zu wirken. Über konkrete Verbesserungsvorschläge bin ich natürlich immer dankbar.
Die Seite dieser Geschichte, die Du als mystisch definierst, ist eigentlich eher gespenstisch, und hat mit Mystik nichts zu tun. Insofern ist es auch nicht notwendig, sie mit Glauben zu interpretieren. Daher kann sie jeder deuten, wie er möchte und persönliche Gedanken, Schlussfolgerungen oder Erinnerungen damit assoziieren, wie es der Protagonist selbst auch macht.

Schöne Grüße.
Raphael
 

Karinina

Mitglied
Für Raphael

Lieber Raphael, ja, ich habe mich vielleicht nicht klar genug ausgedrückt. Ich mag kurze Sätze, vor allem in Kurzgeschichten. Ich bin früher ein Fan von Hemingway gewesen und versuche in meinen eigenen Kurzgeschichten mich an seine Schreibe anzulehnen, was mir natürlich nicht perfekt gelingt. Aber, und das meinte ich, haben manchmal auch lange und geschachtelte Sätze einen ganz besonderen Reiz für mich, sie verlocken zu langen Exkursen mit einem manchmal auch bissigen Humor.
Bei Dir nun kommen mir Deine Sätze sehr entgegen, so mag ich sie auch. An dem Inhalt stoß ich mich. Aber das ist mein Problem. Das kann ich Dir nicht anlasten...
Liebe Grüße von Karin
 



 
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