Der einsame Wanderer

Drarakel

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Der einsame Wanderer
(Copyright by G.M.Cortes)

Es war Spätsommer, dennoch fegte ein heftiger, beißender Wind über die Landschaft. Mit hängenden Schultern, den Kragen seines schäbigen Mantels hochgeschlagen und gesenktem Kopf, ging er schleppendes Schrittes den matschigen Pfad entlang. Der Wind peitschte ihm mit Eiseskälte gnadenlos ins Gesicht. Doch er spürte es gar nicht, so sehr war er in Gedanken versunken. „Was ist es bloß? Was ist es bloß?“, fragte er sich immer wieder.

Ein Bauer mit einem Eselskarren voller Mohrrüben kam ihm entgegen. „Hallo einsamer Wanderer! Was führt dich her in diese trostlose Gegend? Wohin gehst du?“, fragte der Bauer freundlich. Der Wanderer hob langsam den Kopf. Sein Gesicht war von grenzenloser Traurigkeit gezeichnet. Dunkle Ränder unter den Augen ließen ihn unendlich müde und verloren aussehen. „Ich weiß es nicht“, antwortete er leise. „Wie, du weißt es nicht? Du musst doch wissen, welches dein Ziel ist?“, wunderte sich der Bauer. „Ich suche mein Ziel“, sagte der Wanderer. Der Bauer kratzte sich verwirrt am Kinn. „Hast du Hunger, Wanderer? Ich habe ein paar belegte Brote dabei. Gerne teile ich sie mit dir“, bot der Bauer an. „Nein, vielen Dank. Das ist sehr nett von Ihnen. Ich habe Hunger, aber nicht nach Essen“, erwiderte der Wanderer. „Wo nach hast du denn Hunger?“, fragte der Bauer beharrlich. Der Wanderer schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht, ich weiß nur, dass ich etwas suche, aber nicht was!“ Der Bauer konnte mit dieser Antwort nichts anfangen. „Armer Wanderer“, dachte er und wünschte ihm noch einen guten Weg. Er gab seinem Esel Kommando weiterzulaufen.

Keine hundert Meter weiter jedoch geriet der Karren in eine Furche und fuhr sich mit dem Hinterrad fest. Es war kein Vorwärtskommen möglich. Je mehr er den Esel antrieb, umso tiefer geriet er mit dem Karren in die Furche. „So ein Mist! Wie soll ich da wieder herauskommen mit dem vollbeladenen Karren?“, fluchte der Bauer. Der Wanderer hörte den Bauer und eilte zu ihm. „Ich helfe dir, lass uns von dem Baum dort einen dicken Ast abreißen und unter das hintere Rad legen. Damit müsste es gehen!“ Der Bauer nickte dankbar. Zu zweit schafften sie mit aller Kraft, den Ast abzubrechen und legten ihn unter das Rad. „Jetzt setze dich auf deinen Bock und geb deinem Esel Kommando. Ich schieb kräftig von hinten an, dann müsstest du aus der Furche herauskommen!“, rief der Wanderer. Gesagt, getan. Und tatsächlich. Mit einem kräftigen Ruck kam der Karren aus der Furche. „Vielen Dank, lieber Wanderer. Ohne dich hätte ich hier hoffnungslos festgesessen! Wie gut, dass du gerade hier warst“, rief der Bauer freudig, und fragte erneut, ob er dem Fremden nicht etwas Gutes tun könne. Dankend lehnte der Wanderer jedoch erneut ab. Der Bauer zog eine warme Decke hinter seinem Sitz hervor und rief: „Wanderer, so nimm wenigstens die Decke, auf dass sie dich ein wenig wärme!“ Er wartete gar nicht auf die Antwort des Fremden, sondern warf sie ihm einfach zu. Der Wanderer fing sie auf und legte sie sich sogleich über den Mantel. Dankbar schaute er den Bauern an. Sie nickten sich zu, und jeder zog seiner Wege.

Der Pfad wurde immer matschiger. So entschloss sich der Wanderer auf die seitlich liegende Wiese zu gehen und dort unter einem Baum ein wenig Schutz vor dem kalten Wind zu suchen. Eine dicke Eiche kam in Sicht. Die Wurzeln der Eiche bildeten eine gemütliche Kuhle, in die er sich, eingehüllt in die wärmende Decke des Bauern, hineinsetzte und an den Baum lehnte. „Wärme“, dachte er. „Wärme ist ein Teil meiner Suche!“ Er schloss müde die Augen. Schnell war er eingeschlafen. Er träumte wieder diesen seltsamen Traum, den er nicht zu deuten vermochte. In dem Traum sah er sich selbst an einer Straße und eine junge Frau, die mit ihm sprach.

„Hey, du, was machst du hier?“, rief eine ältere hohe Frauenstimme und riss ihn jäh aus seinem Traum. Vor ihm stand eine alte, dicke Frau mit einem Korb in der Hand. Er war bis zum Rand gefüllt mit Löwenzahnblättern. „Ich ruhe mich hier ein wenig aus“, meinte der Wanderer. „Hier? Bei dieser Kälte? Wieso bist du nicht zu Hause?“, sagte die Alte und musterte ihn kritisch. „Weil ich auf der Suche bin“, erwiderte der Wanderer und dachte „Zu Hause? Habe ich ein zu Hause?“ „Was suchst du denn?“, fragte sie neugierig. „Ich weiß es nicht. Ich werde es auf meinem Weg schon finden“, meinte der Wanderer. „Du bist ja ein komischer Kauz. Du suchst etwas und weißt nicht was? Merkwürdig, sehr merkwürdig!“, meckerte die Alte kopfschüttelnd. „Ich sammle jedenfalls Löwenzahn für meine vielen Karnickel. Und hier auf der Wiese gibt es, wie du an meinem Korb siehst, jede Menge davon.“ „Wie schön. Dann war es ja ein erfolgreicher Tag für Sie“, sagte der Wanderer. „Hm, na ja, erfolgreich würde ich ihn nicht nennen. Zu fressen habe ich genug für die Viecher, aber irgendetwas ist mit ihnen. Sie sterben mir eines nach dem anderen weg. Und einen Tierarzt kann ich mir nicht leisten“, jammerte die Frau und blickte zum südlichen Ende der Wiese. „Ist dort Ihr Bauernhof?“, fragte der Wanderer. Die Alte nickte. „Ich kenne mich ein wenig aus mit Tieren, vielleicht kann ich Ihnen helfen?“, bot der Wanderer an. Gerne nahm die Frau die Hilfe des Fremden an. So gingen sie gemeinsam quer über die Wiese und gelangten nach kurzer Zeit zu einem kleinen, ziemlich ärmlichen Bauernhof.

Schon von weitem sah der Wanderer etliche Käfige, in denen unzählige Karnickeln hausten. Er ging gleich auf einen der Käfige zu und nahm eines der Tiere heraus. Liebevoll streichelte er das warme, seidige Fell des Tieres. Eine Träne lief ihm die Wange herunter. „Warum weinst du?“, fragte die Frau verwundert. „Es ist so schön, dieses warme weiche Fell zu fühlen. Es berührt meine Seele“, antwortete der Wanderer. Der Fremde wurde der Frau immer rätselhafter. Der Wanderer sah sich das Karnickel genau an. Es war ungewöhnlich apathisch, gar nicht so quicklebendig, wie diese Tierchen eigentlich sind. Er nahm ein weiteres aus dem Käfig. Es verhielt sich ebenso. Schließlich nahm er alle Tiere aus dem Käfig und untersuchte den Käfig selbst. Und da fand er die Ursache. „Gute Frau, schauen Sie mal!“, rief er. Die Alte eilte herbei. Der Wanderer schob das völlig vergammelte Stroh beiseite und sagte: „Das ist der Grund. Sehen sie all das Ungeziefer im Stroh? Es muss regelmäßig gewechselt werden! Das Ungeziefer macht Ihre Tiere krank. Außerdem haben Sie viel zu viele Tiere in einem Käfig. Sie haben zu wenig Platz, können sich kaum bewegen!“, sagte er. „Aber woher soll ich denn so viele Käfige nehmen? Die Viecher vermehren sich doch wie verrückt. Stroh hätte ich ja genug vom Acker, aber Käfige nicht“, erwiderte die Alte, ein bisschen beschämt beim Anblick des vergammelten Strohs. „Aber so ein Käfig ist doch schnell gebaut. Außerdem müssen es doch nicht so kleine sein? Sie können doch ein größeres Gehege schaffen, dann können die Tiere herumlaufen, und das tut ihnen gut! Zudem können Sie dann mit einem Rechen das Stroh viel einfacher wechseln“, meinte der Wanderer, dem die Tierchen so richtig leid taten. Die Alte kratzte sich am Kinn. „Und wer soll so ein Gehege bauen? Mein Mann ist schon lange gestorben. Ich kann so etwas nicht!“ „Ich werde Ihnen ein Gehege anfertigen. Ist gar kein Problem. Ich brauche dafür nur ein paar Holzpflöcke, Draht, und frisches Stroh“, bot der Wanderer an. „Das würdest du tun? Wie viel muss ich dir dafür bezahlen?“, fragte die Frau argwöhnisch. „Nichts, ich will keinen Lohn dafür. Ich tue das gerne für die Tierchen“, sagte der Wanderer und hielt sich eines der Karnickel liebevoll an seine Wange. „Nun gut, aber dann übernachte wenigstens im Haus heute, da hast du es warm. Und ich bereite dir eine warme Suppe zum Lohn, einverstanden?“ Der Wanderer nickte nur. „Gut, dann schaffe ich alles herbei, was du brauchst“, rief die Alte freudig und eilte davon.

Stunden später hatte der Wanderer ein großes Gehege gebaut, frisches Stroh ausgelegt, Mohrrüben und Löwenzahn verteilt, und einen Bottich mit frischem Wasser hineingestellt. Das Gehege hatte er oberhalb gut mit Draht abgedichtet, damit die Tiere nicht herausspringen konnten. Dann bat er die Frau um eine Bürste, um das Ungeziefer aus dem Fell der Tiere zu bürsten. In einer mühsamen Prozedur nahm er Tier für Tier und bürstete gewissenhaft all das Ungeziefer heraus und setzte die Tierchen dann in das neue Gehege. Munter sprangen die Kleinen eins nach dem anderen hinein und hoppelten fröhlich darin herum. Als schließlich alle drin waren, freute sich der Wanderer beim Anblick von soviel Lebendigkeit. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. „Lebendig sein“, dachte er. „Dies ist ein weiteres Puzzle meiner Suche!“ Die Frau war ganz aus dem Häuschen, als sie das Gehege mit den munteren Kerlchen sah. „Oh Wanderer, ich danke dir! Das ist ja wunderbar geworden. Und jetzt brauche ich all die anderen Käfige gar nicht mehr und habe somit viel Holz für den Winter! Komm nun hinein. Du hast so hart gearbeitet. Ich habe eine gute, heiße Suppe für dich!“ Leise fügte sie noch hinzu. „Und ich verspreche dir, Stroh und Wasser regelmäßig zu wechseln!“

In der Stube nahm der Wanderer die köstlich schmeckende Suppe zu sich und legte sich alsbald schlafen, so müde war er. Vorher dachte er noch: „Arbeit, auch diese suche ich.“

Am nächsten Morgen, beim ersten Hahnenkrähen, wollte die Frau den Fremden wecken, doch er war schon fort. „Seltsamer Bursche, aber so hilfsbereit. Wo gibt es noch solche Menschen?“

Der Wanderer indessen befand sich wieder auf seinem Weg. Er näherte sich einem kleinen Dorf. Die Leuten schienen alle noch zu schlafen. Es war ganz ruhig, nur einige Hunde streunten herum. Er schlenderte gedankenversunken durch die Gassen, als er sich plötzlich inmitten von einem Rudel Hunde befand. Er setzte sich zwischen sie auf den Boden und streichelte jeden einzelnen von ihnen. Auch Welpen waren unter ihnen. Sie sahen so niedlich aus. Er drückte eines an seine Brust und fing bitterlich an zu weinen. Der kleine Welpe krabbelte fiepend an ihm hoch und schleckte ihm die Tränen ab. Der Wanderer war so gerührt über diese Geste, dass sein Herz überströmte vor Liebe. „Liebe! Ich suche Liebe!“, dachte er. Die Hundemeute herzte ihn liebevoll. Von allen Seiten wurde er zärtlich gestupst und geneckt. Schließlich lachte der Wanderer. Er war so glücklich in diesem Moment. Jede Sekunde war Balsam für seine zerrissene Seele.

Eine junge Frau hatte die bewegende Szene aus ihrem Schlafzimmerfenster beobachtet. „Endlich!“, dachte sie überglücklich. „Endlich!“ Sie zog sich rasch an und eilte hinaus.

Sie begrüßte ihn freundlich und erzählte ihm, dass sie ihn eben beobachtet habe. Er sah sie lächelnd an. „Ich habe noch nie soviel Liebe erlebt!“, rief er freudig. „Doch, das hast du!“, erwiderte sie schmunzelnd. Fragend schaute er sie an. „Komm mit mir!“, forderte sie ihn auf. Seltsamerweise wusste der Wanderer, dass es richtig war, ihr zu folgen. Seine Intuition sagte ihm, dass diese Frau der Schlüssel seiner Suche war. Aber noch ahnte er nicht, weshalb. Neugierig und mit klopfendem Herzen folgte er ihr ins Haus.

Als er eintrat, staunte er nicht schlecht. Die Stube war ganz anders eingerichtet, als er es sich vorgestellt hatte. Er befand sich in einer anderen Welt. Der Raum hatte etwas Mystisches an sich. Brennende Kerzen standen überall verteilt. Es duftete nach Räucherstäbchen, eine leise, ihm irgendwie vertraute Melodie, spielte im Hintergrund. Die Vorhänge waren zugezogen, in einem Kamin brannte Feuer. „Diese Melodie, ich kenne sie, aber woher?“, fragte er verwundert.

„Natürlich kennst du sie. Du warst schon einmal hier. Erinnerst du dich nicht?“, fragte die Frau lächelnd. „Nein, ich erinnere mich nicht! Und ich bin schon so lange auf der Suche, aber ich weiß nicht, was ich suche!“, rief der Wanderer verzweifelt.

„Komm, setz dich hier zu mir an den Kamin und schließe die Augen“, sagte die junge Frau. Er tat wie ihm geheißen. Aus irgendeinem Grunde hatte er absolutes Vertrauen zu ihr, konnte sich jedoch keinen Reim daraus machen.

„Höre zu Wanderer. Vor einiger Zeit warst du hier. Ich gabelte dich damals von der Straße auf. Du warst völlig verzweifelt, wusstest nicht mehr weiter. Du hattest nur noch einen Wunsch, und der lautete: „Ich möchte einfach alles vergessen, ich habe den Sinn meines Lebens verloren. Ich kann so nicht mehr weiter leben. Einfach nur vergessen!“ Und ich erfüllte dir diesen Wunsch, ich fragte dich vorher, ob du das wirklich willst, dir über die Folgen im Klaren bist, und du wolltest es.“ „Wieso konntest du mir diesen Wunsch erfüllen?“, fragte der Wanderer völlig verblüfft. „Weil es das Schicksal so wollte. Es sollte dir jemand begegnen, der dir diesen Wunsch erfüllen kann, und es war auch vom Schicksal so bestimmt, dass du den Weg wieder zurück zu mir findest, damit ich deinen Wunsch rückgängig machen kann, in dem Moment, in dem du fähig bist, zu erkennen und mit allen Sinnen zu spüren, was für ein glücklicher und beneidenswerter Mensch du doch bist!“ Der Wanderer schüttelte ungläubig den Kopf. Er verstand die Welt nicht mehr.

„Nun, du brauchst nur eines zu tun, nämlich dir zu wünschen, dass ich deinen Wunsch rückgängig machen soll, vertraue mir! Nimm diesen goldenen Stein in die Hand und tue es!“, sprach die junge Frau mit samtweicher Stimme. Der Wanderer zögerte keine Sekunde. Er nahm den goldenen Stein, von dem eine prickelnde, wohltuende Energie in ihn strömte, und sprach mit fester Stimme: „Ich wünsche mir, dass du meinen Wunsch rückgängig machst!“

„Papi! Papi!“ Stürmisch wurde der Wanderer von zwei Kindern umarmt. Mit großen Kulleraugen strahlten sie ihn an. Er traute seinen Augen nicht. Er war zu Hause, ja, bei sich zu Hause! Seine geliebten Kinder umarmten ihn zärtlich. „Oh mein Gott, was bin ich für ein Narr gewesen! Ich habe all das Glück der Welt und habe es nicht gesehen: Wärme, Lebendigkeit, ausreichend Arbeit und vor allem eines: Liebe, grenzenlose Liebe!“ Schluchzend umarmte er seine Kinder und weinte vor unendlicher Freude.

FIN

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