Der fehlende Mosaikstein
1. Das Loch
[ 4]„Ich bring dich um, du mieser kleiner Feigling!“ „Bitte! Tun Sie mir nichts! Ich hab Ihnen doch gar nichts getan!“ „Nichts getan? Du hast mir nichts getan? Ach ja? Du kleine fiese Drecksau hast mein Leben zerstört! DU bist an allem Schuld! Du bist schuld, dass ich bin, was ich bin! Aber ich zahl’s dir heim! Du entkommst mir nicht!“ „Ich bin unschuldig! Bitte! Das muss alles eine furchtbare Verwechslung sein! Ich kenne Sie doch gar nicht! Wie soll ich denn Ihr Leben zerstört haben?“ „Halt die Schnauze, du Weichei!“[ 4]Der Schlag mit der flachen Hand explodierte förmlich in seinem Gesicht. Der gezielte Schwinger eines Profiboxers hätte ihn nicht härter treffen können. Die schon arg strapazierte Haut über seinen Wangenknochen gab den längst zum Scheitern verurteilten Kampf endlich auf und platze an der Stelle, wo die harten Fingerknöchel der ans Zuschlagen gewöhnten Hand sie trafen. Die Wucht des Schlages schleuderte seinen Kopf bis zum Anschlag in den Nacken und sein Blut zu einem fast perfekten Halbkreis auf den Boden rund um den alten Holzstuhl, an den er gefesselt war.
[ 4]Für einen Moment wurde ihm Schwarz vor Augen. Aber es machte in diesem Loch nicht wirklich einen Unterschied, ob man etwas sah, oder nicht. Die einzige Lichtquelle war ein kleines Fensterloch knapp unter der niedrigen Decke und selbst dieses Licht war befleckt und verdunkelt durch den Jahre alten Dreck auf der zersprungenen Scheibe, die vergeblich die Luke zu schließen suchte.
[ 4]Wie lange er schon von diesem Irren festgehalten wurde, wusste er nicht mehr. Es mussten Tage gewesen sein, aber ihm kam es vor, als wäre er schon Jahre hier. Tag oder Nacht, Sommer oder Winter, er konnte es nicht mehr sagen. Er hatte sein Zeitgefühl vollständig verloren und mit ihm auch die Hoffnung, hier jemals wieder lebend herauszukommen.
[ 4]Seine körperlichen Bedürfnisse waren seinem Peiniger scheißegal. Er ließ ihn in seinen eigenen Fäkalien schmoren, sterben ließ er ihn jedoch so einfach nicht. Irgendwie schaffte es das Schwein, ihn am Leben zu erhalten und ihm sogar Nährstoffe zuzuführen, aber er bekam davon nichts mit. So entkräftet wie er war, wunderte er sich nicht mehr darüber, nicht dass er noch genug Energie gehabt hätte, sich überhaupt noch über etwas zu wundern. Ob ER ihm Getränke einflösste, wenn er in kraftlosem Halbschlaf mitsamt seinem Stuhl umzukippen drohte, oder ob ER ihm sogar Infusionen gab, während er ohnmächtig war - was jetzt immer häufiger vorkam - er konnte sich beides vorstellen, sich aber an Nichts bewusst erinnern.
[ 4]Seit ER vor ein paar Stunden mit den Schlägen angefangen hatte, konnte er sich nur noch DARAN erinnern. Jeden anderen Gedanken, jede Erinnerung hatte ER aus seinem Schädel herausgeprügelt. Jede Empfindung, jedes Gefühl seines Körpers durch Schmerz ersetzt. Es fühlte sich an, als sei jeder einzelne seiner Knochen gebrochen und vermutlich war es mittlerweile auch so.
[ 4]Er wünschte sich jetzt nur noch zu sterben, aber ER ließ ihn nicht. ER quälte ihn immer weiter, immer hart am Limit, und das schlimmste daran war, dass er noch immer nicht wusste, warum.
[ 4]„Ich werde dir sagen WARUM, du Idiot! Du wirst es schon noch herausbekommen! Aber JETZT noch nicht, … nein, jetzt noch nicht! Deine Frau, die alte Schlampe, … SIE wusste es … sie hat es sofort verstanden, als sie meine schöne Axt in dem Kinderbett stecken sah. Aber sie hat sich davon gemacht! Ist abgehauen, bevor ich mit ihr fertig war! Die Sau! Aber du! DU wirst bleiben! DU wirst es bis zum Finale schaffen! Ich lasse nicht zu, dass du auch abkratzt, bevor ich mit dir fertig bin! Wenn du sie triffst, kannst du dich bei ihr bedanken, dass ich DEINE Zeit etwas länger bemessen habe! Sie wartet sicher schon auf dich … im Nirwana! Zusammen mit deinem Balg!
[ 4]Na, wie gefällt Dir das? Freust du dich schon? Na? Sind das da etwa Freudentränen, du Feigling?“ Ein weiterer Schlag erlöste ihn in die trügerische Ruhe des Boxers, der von einem tödlichen Schwinger getroffen, wehrlos zu Boden geht und schloss den blutigen Kreis um seinen Stuhl in die andere Richtung.
2. Das Mosaik
[ 4]Mein Name ist Green. Dr. Dave Green. Ich bin Psychologe im staatlichen Dienst. Meine Hauptaufgabe ist die Beurteilung und Therapie geistig verwirrter Schwerverbrecher. [ 4]Heute habe ich einen Termin mit einem meiner interessantesten Fälle. Er sitzt in lebenslanger Sicherheitsverwahrung in einer geschlossenen Anstalt in Baltimore, Maryland. Er wird mit Sicherheit nie wieder die Freiheit zurück erlangen, aber wenigstens konnte ich ihn vom elektrischen Stuhl holen. Das Verbrechen, das er begangen hat, war einfach zu abscheulich, aber sein psychologisches Profil war derart ausgeprägt, dass seine Schuldfähigkeit zum Zeitpunkt der Tat praktisch gleich Null war. Und dennoch kommen mir heute immer wieder Zweifel, ob er nicht doch nur ein perfekter Schauspieler ist. Sein Krankheitsbild ist so klassisch, er könnte glatt dem Lehrbuch entsprungen sein. Ich habe so etwas noch nie zuvor bei einem Patienten in dieser Ausprägung gesehen. Und ich mache den Job jetzt schon fast 30 Jahre.
[ 4]Eigentlich ist der Fall ja abgeschlossen und es gibt auch keine wirksame oder sinnvolle Therapie, aufgeben konnte ich ihn jedoch nie. Seit 5 Jahren versuche ich mir jetzt schon über ihn Klarheit zu verschaffen. Mittlerweile könnte ich ein Buch über ihn schreiben – um die Wahrheit zu sagen arbeite ich bereits daran – ohne mit endgültiger Bestimmtheit sagen zu können, ob ich es hier mit einem absolut perfekten Studienobjekt zu tun habe, oder ob ich die ganze Zeit einem Betrüger aufgesessen bin.
[ 4]Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf! Vielleicht finde ich ja heute das letzte Steinchen zu dem verwirrenden Mosaik seines Geistes und kann den Fall endlich für immer ad Acta legen.
3. Der Stein
[ 4]Wie immer, wenn Dr. Green so früh morgens in die Anstalt kam, hielt er am Eingang erst einmal einen kleinen, belanglosen Plausch mit dem Pförtner. Hier her zu kommen war doch wesentlich angenehmer, als der Besuch seiner Patienten im Gefängnis mit all diesen lästigen Kontrollen und Durchsuchungen. [ 4]Wie immer zog er die Treppe dem Fahrstuhl vor. Die drei Stockwerke zu Fuß zu gehen, gab ihm die Gelegenheit, sich frei zu machen und sich mental auf seinen Patienten vorzubereiten und einzustellen.
[ 4]Wie immer lag auf der Station schon das Krankenblatt für ihn bereit, das er wie immer mit einem freundlichen Gruß an die diensthabende Schwester nahm und kurz überflog. Nicht, dass dies nach so langer Behandlung noch nötig gewesen wäre – er kannte die Akte mittlerweile auswendig – aber es gehörte zu seinem üblichen Rhythmus.
[ 4]Michael Jones; Verwaltungsfachangestellter; Doppelmord; Frau: misshandelt, vergewaltigt und erschlagen; Kind: mit Axt getötet.
Er durfte nie vergessen, dass es sich bei diesem so unscheinbar und unschuldig wirkenden Mann um ein Monster handelte.
[ 4]Er machte sich wie immer auf den Weg zum Hochsicherheitstrakt der Station, als langsam in ihn das Gefühl hoch kroch, das heute kein Tag wie jeder andere war. Irgendetwas stimmte hier nicht. Es lag eine fast greifbare Spannung in der Luft, die er sich noch nicht erklären konnte. Es war eine Art sechster Sinn, der sich schon öfter gemeldet hatte, wenn er bei seinen Patienten in brenzlige Situationen zu geraten drohte.
[ 4]Als er die doppelte Schleuse passierte kam ihm schon der Pfleger entgegen. Sein Gesichtsausdruck verriet, dass er kreidebleich gewesen wäre, was bei einem Afroamerikaner jedoch unmöglich ist.
[ 4]„Doc! Gut dass Sie kommen! Kommen Sie bitte schnell mit, das müssen Sie Sich ansehen!“
„Guten Morgen Jim! Jetzt beruhigen Sie sich doch! Was ist denn eigentlich passiert?“
[ 4]„Jones ist tot!“
[ 4]„Wie bitte? Wie konnte das passieren?“
[ 4]„Ich weiß es nicht! Keiner weiß es! Wir wollten ihn gerade wecken und für Ihren Besuch vorbereiten, da haben wie ihn so gefunden! Schauen sie selbst, hier!“
[ 4]Die Szene, die sich ihm bot, hätte theatralischer nicht gestellt sein können. Jones saß in der Mitte seiner Zelle auf seinem Stuhl. Die fast schon grotesk verbogenen und wahrscheinlich gebrochenen Arme hinter seinem Rücken verschränkt. Das mit Hämatomen übersäte Gesicht an mehreren Stellen bis zum Knochen aufgeplatzt. Ebenso wie die Knöchel beider Hände.
[ 4]„War irgendjemand in seiner Zelle, letzte Nacht?“
[ 4]„Nein Doc! Das ist absolut unmöglich. Die Nachtschicht hat nach dem letzten Rundgang um 22 Uhr alle Zellen verriegelt und der Flur wird Videoüberwacht. Da konnte nicht mal eine Maus rein!“
[ 4]„Dann hat er mir endlich den fehlenden Stein gegeben.“
[ 4]„Wie meinen Sie das, Doc? Den letzten Stein?“
[ 4]„Das erkläre ich Ihnen gerne später, Jim! Verständigen Sie jetzt bitte die Polizei, falls das noch nicht geschehen ist. Verändern Sie nichts in der Zelle, bis die Spurensicherung ihre Arbeit getan hat. Ich bin sicher, der leitende Kommissar wird einige Fragen an mich haben. Richten Sie ihm bitte aus, dass er mich im Ärztezimmer findet. Ich schreibe dort meinen Bericht.“
[ 4]Der Kommissar ließ nicht lange auf sich warten und nach ein paar einleitenden Worten schilderte ihm Dr. Green seine Einschätzung der Situation:
[ 4]„Wissen Sie, Michael Jones war ursprünglich ein ganz normaler Durchschnittsbürger wie sie und ich – so schien es jedenfalls. In Wirklichkeit lebten in seinem Geist zwei unterschiedliche, voneinander unabhängige Personen, die unterschiedlicher nicht hätten sein können, und die voneinander auch nichts wussten. Die zweite Persönlichkeit – er nannte sich selbst Jack – war ein gewalttätiger und rachsüchtiger Krimineller. ER war es eigentlich, der das abscheuliche Verbrechen begangen hatte, wegen dem Jones verurteilt worden war. Der Wechsel zwischen diesen beiden Persönlichkeiten war fließend. In einem Moment sprach man mit Michael, dann schien er plötzlich mitten im Gespräch einzuschlafen nur um Sekunden später als Jack wieder aufzuwachen. Während Michael ursprünglich der Hauptcharakter war, hatte er, besonders in den letzten 12 Monaten, immer öfter die Kontrolle über seinen Körper verloren.
[ 4]Ich denke nun, dass Jack irgendwie gemerkt hat, dass er sich seinen Körper mit Michael teilen musste und angefangen hat, gegen ihn zu kämpfen. Dieser Kampf fand ursprünglich jedoch nur in Gedanken statt, sozusagen im Traum. Jack muss Michael regelrecht gefoltert haben und das über einen Zeitraum, den ich nicht abschätzen kann. Immerhin kämpften diese beiden Existenzen ja schon ein Leben lang um den einen Körper.
[ 4]Erst im finalen Stadium begann wohl der Körper auch tätlich auf diesen inneren Kampf zu reagieren. Ich vermute, die Videoaufzeichnungen werden uns zeigen, dass er in der Nacht begann, wild um sich zu schlagen, sich damit selbst zu verletzen und letztlich auch zu töten. Wie sie gesehen haben, sitzt er wie gefesselt auf seinem Stuhl. Diese geistigen Fesseln muss er sehr lange getragen haben.“
[ 4]Dr. Green gab dem Kommissar noch seine Visitenkarte als dieser sein Notizbuch schloss und ging. Er würde seine Geschichte zu Protokoll geben müssen, was aber auch selbstverständlich war.
[ 4]Für ihn war das Wichtigste, dass er nun endlich - nach fünf Jahren voller Zweifel - Gewissheit hatte, und den Fall abschließen konnte. Der Kreis hatte sich geschlossen. Am Ende hatte ER sich nur durch einen letzten Mord endlich befreien können.
[ 4]Das letzte, was er unter die Akte Jones schrieb war:
Schizophrenie – Fall abgeschlossen.