Der ganz normale Wahnsinn

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Estrella

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Der ganz normale Wahnsinn

Punkt sieben Uhr – mein Radiowecker sprang an und riss mich mit einem Song von Brian Adams unsanft aus tiefen Träumen. Eigentlich mochte ich diesen Sänger sehr gerne, doch nicht nach einer Nacht, in der ich höchstens nur drei Stunden geschlafen hatte. Mißmutig drückte ich auf den Ausknopf. Auf der Bettseite neben mir regte sich noch nichts. Nur ein paar schwarze Haarsträhnen schauten unter dem dicken Plumeau hervor. Gleichmäßige Schnarchtöne verrieten mir, dass meine bessere Hälfte den Wecker mal wieder schlichtweg überhört hatte.

Ich drehte mich auf die andere Seite, um noch wenigstens zehn Minuten die wohlige Wärme meines Bettes zu genießen. Schließlich stellte ich den Wecker extra immer etwas früher ein, weil ich genau wusste, dass ich nicht zu den Personen gehörte, die frisch und gut gelaunt nach den ersten Wecktönen aus dem Bett sprangen, um sogleich vor weit geöffnetem Fenster Morgengymnastik zu betreiben. Doch gerade, als ich wieder ins Land der Träume gleiten wollte, setzte Phase zwei meines morgendlichen Weckvorgangs ein. Von rechts sprang etwas Schweres auf mich drauf, und eine nasse Zunge fuhr liebevoll über mein Gesicht. Gleichzeitig zerrte etwas von links ungeduldig an meinem Arm, und ein scharfer Gegenstand traf mich am Kinn. Schlagartig öffnete ich die Augen, gab einen undefinierbaren Brummlaut von mir und erblickte Bobby, unseren Labradormischling und Pia, meine kleine Tochter. Der Erstgenannte blies mir mit heraushängender Zunge seinen Frolikatem ins Gesicht, und Letztere hielt mir ein Bilderbuch vor die Nase, welches ja bereits Bekanntschaft mit meinem Kinn gemacht hatte. Ich schubste den Hund vom Bett, und hätte mit meiner kleinen Tochter am liebsten das gleiche getan, schließlich hatte ich mir ihretwegen die halbe Nacht um die Ohren geschlagen. Aber wie immer siegten meine Muttergefühle. Sie sah aber auch zum Anknabbern süß aus, mit ihren zerzausten Haaren und den vom Schlaf noch geröteten Wangen. Also klappte ich das Bilderbuch auf und las bestimmt zum fünfzigsten Mal: „Der kleine Bagger Baggy Bax“ vor.

Inzwischen waren auch undefinierbare Grunzlaute von rechts zu hören und das zerknitterte unrasierte Gesicht meines Mannes Uwe taucht unter der Bettdecke auf.
„Morgen ihr Süßen“, murmelte er.
Mit einem lauten Indianergeschrei landete Tobias, unser Zehnjähriger, unsanft auf Uwes Rücken, seinen imaginären Tomahawk wild durch die Luft schwenkend. Der Hund war mittlerweile auch wieder aufs Bett gesprungen und versuchte in Tobias´ Plüschpantoffeln zu beißen. Die Riesendinger hatten die Form eines Löwenkopfes und schienen Bobby immer wieder zum Kampf herauszufordern. Pia saß am Kopfende meiner Bettseite und hatte sich aus ihrem Schlafoverall gepellt. Ich konnte sie gerade noch davon abhalten, sich auch ihrer randvollen Windel zu entledigen.
„Jetzt aber alle raus aus dem Bett!“, forderte ich mit strenger Stimme. Natürlich nahm keiner davon Notiz, noch nicht einmal der Hund. So bewegte wenigstens ich mich in Richtung Badezimmer und kriegte zunächst einmal einen Schreck, als ich einen ersten Blick in den Spiegel wagte.

“Oh man, Katja, wie siehst du denn aus”, jammerte ich. Diese Person mit den schwarzverschmierten Augen – ich hatte mal wieder vergessen, mich abzuschminken, bevor ich ins Bett gegangen war – und den Abdrücken eines Uhrarmbandes auf der Wange konnte doch unmöglich ich sein. Meine Haare sahen auch nicht viel besser aus. Die fünfundzwanzig Wirbel auf meinem Kopf zeigten sich von ihrer besten Seite und ließen die Hoffnung auf eine vernünftige Frisur wie Butter in der heissen Pfanne zerfliessen. Ich klatschte mir eine Gesichtsmaske auf die Wangen – eine, die laut Beipackzettel wahre Wunder gegen Rötungen versprach und schmierte eine halbe Tube Gel in die Haare, um die wild abstehenden Büschel zu bändigen. Das Ergebnis war allerdings sehr dürftig.
Meine Frisur sah nun aus, als hätte ich mir seit einem halben Jahr die Haare nicht mehr gewaschen und die mittlerweile erstarrte hellblaue Schicht in meinem Gesicht trug auch nicht gerade zur Verbesserung meines äußerlichen Erscheinungsbildes bei.

„Oh nein, Katja, komm mal schnell!“, Uwes Schrei liess nichts Gutes verheissen. Ich stürmte ins Schlafzimmer und erntete zunächst einmal einen Lacher von Tobias.
„Die Mama sieht ja aus wie ein Zombie“, grölte er.
Dann erblickte ich auch schon, was ich am Liebsten nie gesehen hätte: Pia saß vor dem Spiegel unseres Kleiderschrankes und hatte sich eines knallroten Lippenstiftes bemächtigt, den ich – Schande über mein Haupt – gestern Abend unglücklicherweise auf der Frisierkommode liegen gelassen hatte. Pia quietschte vor Vergnügen, während sie mit dem Stift Kreise und Striche auf den Spiegel malte. Ein Blick in ihr Gesicht genügte, um zu erkennen, dass sie vorher bereits versucht hatte Mamas Schminktricks nachzuahmen.
„Habt ihr denn nicht gesehen, was sie da macht?“, wandte ich mich an Uwe und Tobias.
„Nö, haben wir nicht“, kam es einstimmig vom Bett her, wo die beiden noch immer unter der Bettdecke eingekuschelt waren.
„Was musst du auch so´n Kram ´rumliegen lassen.“
Na prima, jetzt war es wieder meine Schuld. Genervt nahm ich Pia den Lippenstift aus der Hand oder sagen wir mal lieber, das, was davon noch übrig war. Pia fing natürlich an zu heulen, wahrscheinlich eher aus Schreck, als sie das blaue Gesicht ihrer Zombiemutter über sich sah. Ich hätte am liebsten mitgeflennt, der Lippenstift war nagelneu gewesen und nicht etwa die Billigmarke meiner Stammdrogerie, sondern ein sehr teures Luxus-Exemplar von Christian Dior. Was musste ich auch so´n Kram rumliegen lassen.

Ich schnappte mir Pia und legte sie auf den Wickeltisch in ihrem Zimmer. Dort befreite ich sie von der roten Lippenstiftschicht in ihrem Gesicht und einer braunen in der Windel.
„Mama, Slumpf“, brabbelte sie und klopfte mit ihren kleinen Fingern auf die blaue Zementmaske in meinem Gesicht. Ich schaute auf die Uhr, oh je, die Maske wirkte jetzt schon doppelt so lange ein, wie auf der Packung angegeben. Hoffentlich würde das keine Folgen haben.
„Mama, wo ist meine schwarze Sporthose?“, erklang es aus Tobias Zimmer.
„In der Waschmaschine, zieh eine andere an“, rief ich zurück.
„Och menno, ich brauch aber die heute, die anderen sind voll uncool.“
„Die Schwarze ist nass, also musst du eben heute mal uncool rumlaufen.“
„Frag mich doch vorher, ob du sie waschen darfst.“
„Klar, ich werde jetzt jeden von euch vorher extra fragen, ob ich darf, bevor ich eure Sachen in die Trommel schmeisse! Bei dir piept´s wohl.“

Kaffee, nur ein starker schwarzer Kaffee würde mir jetzt noch helfen.
Die Maske war runter, doch meine Gesichtsfarbe machte nun jedem Pavianhintern Konkurrenz. Nur weil ich sie ein kleines bisschen länger draufgelassen hatte.
Schade, dass ich nicht in Amerika wohnte, dann würde ich der Kosmetikfirma jetzt eine Millionen-Schadensersatzklage an den Hals hängen.
Das Kaffeekochen war morgens Uwes Aufgabe, während ich mich um Pia kümmerte.
Gott sei Dank war er auch heute dieser Pflicht bereits nachgekommen.
Die erste Tasse Kaffe am frühen Morgen ist das Zweitbeste, dass es gibt, auf dieser Welt und um nichts würde ich darauf verzichten. Schön stark musste er sein, ohne Milch und Zucker, so mochte ich ihn am liebsten. Doch was war denn das? Nicht kohlrabenschwarz, sondern hellbraun und durchsichtig schimmerte die Flüssigkeit in der Glaskanne. Schreckliches ahnend öffnete ich den Deckel der Maschine und sah das Malheur. Der Filter war umgeklappt und das Wasser daneben durchgelaufen.
Uwe, du...
Noch nicht einmal mein Kaffee war mir vergönnt, an diesem Morgen.


Speichern und erst einmal ausdrucken. Zufrieden blicke ich auf den Monitor meines Computers. Sollte ich die Geschichte hier beenden und Katja aus ihrem morgendlichen Wahnsinn erlösen oder die Arme vielleicht noch mehr Pannen erleben lassen?
Während der Drucker die Seiten langsam ausspuckt, gähne ich und strecke mich ordentlich. Schreiben macht müde. Ein Blick auf meine Uhr sagt mir, dass es erst halb neun ist, also noch viel zu früh, um aufzustehen.
Ich gehe zurück ins Schlafzimmer und kuschle mich noch einmal unter die Decke.
Ein oder zwei Stündchen werde ich jetzt noch schlafen, dann wecke ich meinen Liebsten auf die mir eigene besondere Art, und nach einer gemeinsamen Dusche werden wir das, von unserer Hausperle Theresa liebevoll zubereitete Frühstück, genießen.

Das Leben ist herrlich!
 



 
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