Der gesunde Kranke

ergusu

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Der gesunde Kranke

Vor Jahren lebte in der kleinen Ortschaft Himmelshausen der
städtische Angestellte Unwohl. Als Schrecken aller Ärzte wurde er auch fast allen Einwohnern bekannt, da ein Gedicht über ihn im „Anzeiger“ erschien:

Wenn’s vorne oder hinten zwickt,
wenn’s oben oder unten drückt,
denkt er an seine Erben;
und sind selbst nur die Finger wund,
so ist das gleich für ihn ein Grund
zu glauben, er muss sterben.
Falls dann der Arzt im Urteil schwankt,
glaubt Unwohl, der sei selbst erkrankt,
denn eines weiß er besser:
Bald muss er unters Messer.

Unwohl misstraute seiner Gesundheit immer und ewig. Seine Zweifel erreichten einen neuen Höhepunkt, als sich eines Tages seine Kollegen besorgt über seine blasse Gesichtsfarbe äußerten. Noch am Abend betrachtete er sich misstrauisch im Spiegel: Schwarzes Haar, braune Augen, ovales Gesicht – wie sechzig sah er eigentlich nicht aus. Aber waren da nicht neue Schatten und Falten? Im fahlen Licht seiner Taschenlampe fühlte er sich bestätigt: Er war todkrank. Da er noch nicht sterben wollte, suchte er seine Hausärztin auf.
„Guten Tag, Herr Unwohl, wo fehlt es denn diesmal?“ fragte die junge, attraktive Medizinerin.
„Ich fühle mich schlapp und elend. Außerdem habe ich nach meinem Rosenkohltag Bauchschmerzen“, antwortete er mit schwacher Stimme und verschwieg, dass er außerdem drei Stück Streuselkuchen und einige Leckereien verzehrt hatte.
Nach kurzer Befragung prüfte die Ärztin den Bauchraum mittels Ultraschall.
„Ja, ich sehe, der Dickdarm ist hier geweitet.Das kommt durch die Pflanzenkost.“
„Aber die Schmerzen...“
„Herr Unwohl Sie sind nicht krank, aber zuviel Erdnüsse sind ungesund,“ unterbrach ihn die Ärztin.
„Woher wissen Sie von den Erdnüssen?“ stotterte Unwohl.
„Ich sehe es an der Tüte, die aus Ihrer Tasche schaut.“
„Aber Frau Doktor, schauen Sie bitte, wie schlecht ich im Gesicht aussehe.“ Unwohl ließ nicht locker.
„Es ist Ihre Seele, die Sie so müde erscheinen lässt, wir nehmen noch Blut, dann sehen wir weiter“, beruhigte sie ihren Patienten.
Enttäuscht von der mageren Diagnose ging Unwohl nach Hause. Nur noch wenige Jahre - statistisch gesehen - würde er leben. Verzweifelt trank er drei Bier und aß die restlichen Erdnüsse.

„Brunhilde, mein Urin ist rot.“ Fassungslos redete Unwohl auf seine Frau ein.
„Das ist kein Wunder, gestern warst du wieder gierig und hast Unmengen roter Bete vertilgt,“ erwiderte sie.
„Aber ohne Vitamine kann ich schlecht schlafen.“
„Du kannst nicht schlafen, weil du dauernd auf die Toilette rennst. Lass die Biere und schiebe dein Problem nicht auf die Vitamine.“
„Aber ich kann...“
„Du kannst einen krank machen“, unterbrach sie ihn wütend.
Unwohl war tief beleidigt, eilte zum Telefon und versuchte, den Termin für das Schlaflabor vorzuziehen.

Selbst als bei Unwohl eine ausgezeichnete Tiefschlafphase festgestellt wurde, blieb er misstrauisch und forderte weitere Untersuchungen. Zucker- und Schilddrüsentest, Belastungs-EKG, Blutdruckuntersuchung, Darm- und Blasenspiegelung – Unwohl testete erfolgreich die Geduld seiner gutmütigen Hausärztin und das Wohlwollen der Krankenkasse. Alle medizinischen Ergebnisse bestätigten ihm eine zufriedenstellende Gesundheit. Der Logik seiner Hausärztin folgend, dachte er erstmals über seinen seelischen Zustand nach und war endlich mit einer psychosomatischen Behandlung einverstanden.

Die Therapie war für Unwohl bitter. Diätwahn und Fresslust, Faulheit zu Hause und Übereifer im Büro, Geltungssucht und schlampiges Aussehen – viele Widersprüche seines Charakters kamen zur Sprache. Er verstand immerhin soviel, dass Erdnüsse und Rosenkohl nicht zusammen passen. Deshalb wollte er in Zukunft auf Sonnenblumenkerne ausweichen. Entscheidend jedoch war, dass die hübsche Therapeutin ihn eine starke Persönlichkeit nannte, bei der sie selbst Schutz suchen würde. Das war der Durchbruch, und Unwohl war wieder optimistisch. Nach der zehnten Sitzung verließ er geheilt die völlig erschöpfte Therapeutin und eilte fröhlich mit einem Blumenstrauß zu seiner Brunhilde.
Nach langer Zeit neckte er wieder seine Frau.Doch als er sie scherzend durch das Zimmer trug, knackte es in seinem Rücken. Nur durch beharrliches Zureden konnte Brunhilde ihn bewegen, die Hausärztin aufzusuchen.

„Guten Tag, Herr Unwohl, was haben Sie denn diesmal?“
„Eigentlich nichts“, antwortete er trotz seiner Schmerzen.
Aber die Hausärztin war bereits durch Brunhilde vorinformiert. Nach kurzer Untersuchung überwies sie ihren Patienten zum Orthopäden.

Der Spezialist stellte einen Verschleiß der Lendenwirbel mit Nervenreizung fest. Die verordneten Medikamente und die Rückenschule ignorierte Unwohl. Seine Therapeutin hatte ihm beigebracht, dass er nicht krank war. Allen Bekannten, die ihn über die Straße schleichen sahen und ihn nach seinen Beschwerden fragten, beteuerte er: „Ich bin gesund.“

Unwohls Verhalten sprach sich auch in Ärztekreisen herum. Sie empörten sich über seinen Gesundheitswahn, denn an ihm, der gerne mit einer zusätzlichen und privat bezahlten Untersuchung einverstanden gewesen war, konnte man nun nicht mehr verdienen.
Die Quelle von Unwohls Heilerfolg war schnell gefunden. Seine Therapeutin sah sich den penetranten Vorwürfen der Ärzteschaft ausgesetzt.
Schließlich wurde Unwohls Hausärztin bedrängt, dem wasserscheuen Unwohl eine Kneippkur zu verordnen, denn Himmelshausens Ärzte erhofften sich einen Rückfall.
Erst nach einiger Zeit minderten sich die Attacken, zumal sich herausstellte, dass Himmelshausen wieder zwei gut betuchte neue Dauerpatienten gewonnen hatte: Die Therapeutin und die Hausärztin.
 
R

rilesi

Gast
ergusu

hallo ergusu

du schreibst von der geschichte der krankengeschäftsindustrie. als zum teil geschädigte von den zum teil widersinnigen abläufen dort, gefiel mir deine geschichte gut.

beste grüsse, von rilesi
 



 
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