Der glückliche Thomas

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Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Der glückliche Thomas


Das wenige Licht, das durch die farbigen Scheiben sickerte, reichte gerade aus, um das Kirchenschiff in ein angenehmes Halbdunkel zu tauchen. Der Reiseleiter hatte seine Ausführungen beendet, und nun strebte die Gruppe dem Ausgang zu.
Karsten Beck zwängte sich durch zwei Bankreihen, hinüber zum Mittelgang. Als er seinen bis dahin im Chorgewölbe weilenden Blick nach vorn richtete, gewahrte er keine drei Schritte vor sich das helles T-Shirt.
Marina!
Automatisch beschleunigte er seine Schritte und befand sich unversehens so dicht hinter der Frau, dass er nur den Arm hätte ausstrecken müssen, um ihre schmalen Schultern zu berühren. Zu spät bemerkte er, dass sie abrupt stehen geblieben war und wäre fast aufgelaufen. Verwirrt wollte er den Rückwärtsgang einlegen, als sie unerwartet beide Arme weit nach hinten streckte. Schon fühlte er ihre Hände auf seinen Hüften. Gleichzeitig trat sie einen halben Schritt zurück. Irgendwo zwischen Brust und Bauch spürte er ihre schmalen Schultern.
„Oh!“, machte er. Und noch einmal: “Oh!“
Sie warf den Kopf nach hinten, und er sah ein undefinierbares Lächeln um ihre Lippen spielen. Das war so schnell gegangen, dass nicht mehr als ein Atemzug dazwischen lag. Und ehe er ein drittes Mal „Oh!“ sagen konnte, drehte sie sich herum. Ihre Arme lagen jetzt in seinem Nacken. Ganz nahe kam ihr Antlitz. Verwirrt suchte er in den grau-blauen und jetzt ganz dunkel gewordenen Augen nach einer Erklärung. Augen, deren Blicke er bereits seit drei Tagen vergeblich zu deuten suchte. Doch schon schoben sich ihre zart gefälteten Lider über die Pupillen. Dafür öffneten sich die dezent geschminkten Lippen. Durfte er diese unerwartete Einladung annehmen? Das berauschende Weich ihres Mundes, enthob ihn der Antwort. Ihr Kuss war von einer Zärtlichkeit, die ihm bis in die Haarwurzeln drang und einen kaum zu beschreibenden Jubel in ihm auslöste. Als sich ihre Lippen voneinander lösten, hätte er vor Glück schreien mögen, doch es kam nur ein geflüstertes „Endlich!“ heraus.
„Ja, endlich!“ hauchte sie zurück. Sie schien noch etwas hinzusetzen zu wollen, doch da trat plötzlich Erschrecken in ihren Blick.
„Unerhört!“, kreischte eine Altweiberstimme und sofort fielen noch weitere ein. Die komplette Reisegruppe kam mit vor Entrüstung verzerrten Gesichtern und wild fuchtelnden Armen durch die Bankreihen auf das Paar zu gestürzt. Karsten legte seine Arme schützend um Marina, vermochte aber nicht zu verhindern, dass ihr eine schwere Handtasche zwischen die Schulterblätter fuhr. Im gleichen Moment traf ihn ein Regenschirm am Hinterkopf. Und nun prasselte es Schläge von allen Seiten.
„Der Mann wartet ahnungslos draußen im Rollstuhl und das Flittchen wirft sich diesem Lustgreis an den Hals!“
„Und das in diesem Alter – ein Skandal!“
Karsten wollte sich wehren, der rasenden Meute entgegentreten, aber er brachte keinen Laut über die Lippen. Er vermochte nicht einmal die Arme zu heben, um sich vor den Angriffen zu schützen. Beide waren sie längst im Tumult untergegangen.
Doch plötzlich wurde es still. Die Menschentraube löste sich buchstäblich in Luft auf, und mit ihr die Wände der Kirche. Auch Marina war verschwunden. Um ihn herum nur ein sanftes Rauschen und das gedämpfte Wummern der Schiffsdiesel.
Allmählich kam Karsten zu sich und öffnete die Augen. Durch einen Spalt zwischen den schweren Fenstervorhängen drangen die Strahlen der Abendsonne. Er richtete sich auf und setzte sich auf die Bettkante.
„Nur ein scheußlicher Traum!“, dachte er und fühlte sich erlöst. Doch da bemerkte er, wie seine Erleichterung von einem zunehmenden Bedauern verdrängt wurde. Marina hatte ihn geküsst. War die Sehnsucht danach in ihm so übermächtig geworden, dass er sie bereits im Traum zu erfüllen suchte?
Er glaubte, diesen Kuss noch zu spüren, als er bereits unter der Dusche stand und sich vergeblich bemühte den Traum aus dem Kopf zu spülen. Doch der beherrschte ihn noch, als er bereits in feinen Zwirn gehüllt, die Treppe vom Haupt- zum Promenadendeck hinauf stieg. Am Eingang zum Speisesaal verhielt er den Schritt und schaute prüfend in den dort angebrachten Spiegel. War ihm anzusehen, wie sehr ihn dieser Traum noch immer beschäftigte? Er war sich nicht sicher.
Möglichst lässig, eine Hand in der Hosentasche vergraben, durchmaß Karsten den Speisesaal. Geschickt umging er die am Salatbuffet kämpfende Menschentraube und versuchte jenen auszuweichen, die sich mit völlig überladenen Tellern auf dem Siegeszug zu ihren Plätzen befanden. Das heißt: Ganz gelang ihm das nicht, denn plötzlich zischte es neben ihm: „Können sie nicht aufpassen?!“
Er sah eine aufgerüschte Mittsechzigerin, die sich eine Olive aus dem Ausschnitt angelte.
‚Geschieht dir recht‘, dachte Karsten, denn er hatte in ihr diejenige erkannt, die Marina so brutal die Handtasche ins Kreuz gepfeffert hatte.
Marina!
Dort saß sie. Sie und ihr Mann hatten die beiden Fensterplätze am Sechsertisch inne. Das Ehepaar, das außen saß, war auch schon da. Mit einem artigen „Guten Abend!“ zwängte sich Karsten auf den Stuhl, der zwischen den beiden Männern stand. Der ihm gegenüber liegende Platz blieb zwangsläufig frei. Eigentlich hätte dort Kathrin sitzen müssen. Karsten hatte diese Schiffsreise nur ihretwegen gebucht, weil er wusste, wie sie sich normaler Weise darüber gefreut hätte. Doch „Normalerweise“ gab es nicht mehr! Es war lediglich ein letzter Versuch gewesen, um noch einmal Kitt in die Ritzen der bröckelnden Beziehung zu drücken. Kathrin hatte dankend abgelehnt.
Fünf Jahre war es her, dass ihre Liebesbezeugungen es vermocht hatten, seine Zweifel so aufzulösen, wie es Schwefelsäure mit einem Zinkbecher vermag. Fünf Jahre Sonnenschein und dann … Nur noch dicke Wolken. Hatte es daran gelegen, dass der berühmt-berüchtigte Zahn der Zeit deutlich an ihm zu nagen begann? Erste kleine Wehwehchen, kaum mehr zu kaschierender Bauchansatz, erste teuer überbrückte Zahnlücken und die Potenz mit allmählich sinkender Tendenz. Näherte er sich mit seinen 57 Lenzen bereits dem Verfallsdatum? In den Augen der deutlich jüngeren Kathrin schien es wohl schon erreicht.
Nun saß er hier aus lauter Trotz. Er hatte sich vorgenommen, nicht im Selbstmitleid zu ersaufen, sondern die Reise in der noch ungewohnten Rolle eines Singles zu genießen. Er wollte sein neues Dasein inmitten der um ihn herum wuselnden Ehepaare als das allein glücklich machende erfahren. Und das, was er um sich herum wahrnahm, schien ihm zum Großteil Recht zu geben.
Doch richtig glücklich fühlte er sich nicht, so sehr er sich das auch einzureden versuchte. Und Schuld war allein diese Frau, die ihm schräg gegenüber saß, Marina hieß und die seine Gedanken und Empfindungen bereits seit vier Tagen Achterbahn fahren ließ. Nach seiner Trennung von Kathrin hatte er lange resümiert, was mit der Feststellung endete: „Karsten, das war es für dich. Da kommt nichts mehr.“
Von da an hatte er nichts ausgelassen, um die angenehmen Seiten des Alleinseins auszuleben und den erlittenen Verlust als Gewinn zu betrachten. Und nun?
Da saß diese Frau, die sein sorgfältig gebasteltes Kartenhaus urplötzlich zum Einsturz gebracht hatte. Innerhalb weniger Stunden hatte er sich völlig in diese kleine, schmale Person verknallt. Wenn man ihn gefragt hätte, was ihn besonders an ihr faszinierte, wäre er wahrscheinlich eine Antwort schuldig geblieben oder hätte sich ein schlichtes „Alles“ abgerungen.
Allein ihre Blicke und ihre Mimik besaßen eine breite Palette. Mal ernsthaft prüfend, mal heiter gelöst, mal verunsichert, mal voller Selbstbewusstsein. Manchmal glaubte er sogar seine Gefühle erwidert. Aber diesem heimlichen Einverständnis folgte prompt eine freundliche Distanz. Ähnlich verhielt es sich mit der Körpersprache. Ihre Gestik verhieß Temperament, ihre Haltung kündete von Selbstsicherheit und ihr Gang besaß etwas durch und durch erotisches. Wenn er sie anschaute, fühlte er sich wie ein pubertierender Schüler, der kaum dem Unterricht folgen kann, weil seine junge und aufreizend hübsche Lehrerin nur Chaos in seinem Kopf anrichtet.
Auch jetzt, wo der Kellner den 1. Gang servierte, vermochte Karsten nur schwer seinen auffällig bewundernden Blick von Marina zu lösen. Erst als diese ihren Kopf leicht in seine Richtung wandte und er sich offen von ihr gemustert fühlte, glaubte er sich wieder einmal ertappt und versuchte, sich ganz den Speisen auf seinem Teller zu widmen. So wie sein rechter Tischnachbar, der bereits in genüssliches Schmatzen verfallen war. Es dauerte geraume Zeit, bis der alte Herr das sich rhythmisch wiederholende Zischen und die mahnenden Blicke seiner Frau Gemahlin wahrnahm und seine Kaugeräusche für kurze Zeit minimierte.
Karsten grinste in sich hinein und entdeckte aus den Augenwinkeln auch das amüsierte Lächeln, das um Marinas Mundwinkel spielte.
Der Kellner servierte den Hauptgang. Zander….
Oh jeh“, hörte er Marina stöhnen. „das ist kein Schiff, sondern eine schwimmende Maststation.“
Schon versuchte sie, etwa die Hälfte von ihrem Fisch auf der Gabel zu jonglieren.
„Möchtest du?“ Damit meinte sie Thomas, ihren Mann, der wie hingegossen zu Karstens Linken im Rollstuhl saß. Den massigen Oberkörper leicht nach vorn gebeugt, stocherte er lustlos auf seinem Teller herum.
„Danke, Schatz. Aber mein Appetit hält sich in Grenzen.“
Das klang schroffer, als es Karsten von dem stets ausgeglichen wirkenden und in sich ruhenden Thomas gewöhnt war.
Marina ließ die Gabel auf den Teller zurück sinken und schaute ihren Mann eindringlich an.
„Wir haben Urlaub“, sagte sie mit einem Nachdruck in der Stimme, den Karsten nicht verstand.
Er sah, wie sie beide Hände über den Tisch streckte und seine Unterarme streichelte. Für den innigen Blick, den der glückliche Tom von ihr entgegen nehmen durfte, hätte ihn Karsten erwürgen können.
Marina ließ ihre Hände noch ein wenig dort verharren, ehe sie sich wieder ihrem Fisch zuwandte, um ihn jetzt Karsten anzubieten.
Möchten sie? Wäre doch schade drum.“
„Ja – ja, sehr gern.“
Obwohl er ihr den Teller entgegenstreckte, musste sie sich ihm etwas entgegen beugen, wobei sie ihm einen hübschen Einblick in ihr Dekolletee bot. Selbst die kleinen und nicht mehr kaschierbaren Fältchen auf der Haut über den Brustansätzen besaßen für ihn etwas Bezauberndes.
Jetzt wurde ihm der Mund staubtrocken, und er hatte bis zum Nachtisch zu tun, um diesen Zustand halbwegs zu überwinden.
„So, jetzt noch ein schönes Pfeifchen und die Welt ist komplett in Ordnung“, sagte Thomas und lehnte sich im Rollstuhl zurück.
„Wir müssen uns aber erst einen Tisch im Salon reservieren“, mahnte Marina.
„Das kannst du doch inzwischen erledigen. Am besten gleich einen Sechsertisch, oder wollen Sie nicht mitkommen?
„Doch, doch“, beeilte sich die Frau, die beim Essen ihre ganze Energie aufgewandt hatte, um ihren Mann anzuzischen, zu versichern. „Wir wollen auch rüber in den Salon – nicht wahr Friedhelm?“
Der Alte, der schon eine Weile in den Anblick der vorbeiziehenden Lichter am Flussufer versunken war, schrak auf und nickte dann beflissen.
„Schaffst du das allein?“, fragte Marina und schaute ein wenig skeptisch.
Statt zu antworten, legte Thomas seine schwere Hand auf Karstens Schulter. Der zuckte leicht zusammen. Es war das erste Mal, dass Marinas Mann ihn so vertraulich behandelte.
„Sie gehen doch bestimmt auch erst noch eine Rauchen“, hörte er ihn sagen. Gleichzeitig erhöhte die Pranke des Rollstuhlfahrers den Druck.
Karsten nickte. „Na klar“, krächzte er, denn sein Mund war schon wieder trocken. Nur wusste er diesmal nicht warum.
Die Gesellschaft erhob sich von ihren Plätzen. Karsten klemmte sich brav hinter den Rollstuhl und folgte dem glücklichen Tom zum Ausgang des Speisesaales. Das Flusskreuzfahrschiff war ganz neu und hervorragend ausgestattet. Auch an die Behinderten hatte man bei der Planung gedacht. Ohne Mühe gelangten sie zum Fahrstuhl, der sie zum Sonnendeck hinauf brachte. Jetzt handelte es sich allerdings mehr um ein Monddeck, denn der treue Erdtrabant hing bereits in voller Größe über den Bergen der Wachau und ließ das Wasser im Pool silbern glitzern.
„Ist das nicht herrlich?“, fragte Thomas und ließ sich zum Vorschiff rollen.
Direkt an der Reling stellte er die Bremsen fest. Während Karsten in den Taschen seines Jacketts nach Zigaretten und dem Feuerzeug suchte, stopfte Thomas seine teure Markenpfeife und drückte den Tabak dabei mit bedächtiger Sorgfalt fest. Fast gleichzeitig flammten die Feuerzeuge auf. Während Thomas genüsslich an der Pfeife sog und dem Mond dicke Wolken ins Gesicht blies, nuckelte Karsten nervös an seiner Zigarette und schaute, über die Reling gebeugt, in das dunkel dahinschießende Wasser.
„Ist das nicht ein herrlicher Spätsommerabend?“, wiederholte Thomas, drehte den Kopf in verschiedene Richtungen und ließ die Nasenflügel beben. „Es gab Zeiten, da bin ich an solchen Abenden auf meinen Lieblingsberg gestiegen, nur um dem Universum ein Stück näher zu sein – mich eins zu fühlen mit Milliarden von Sternen…“ Und plötzlich die Stimme hebend, deklamierte er: „Und heute?“
Milliarden Sternenpixel!
Feine Lichtnadeln
perforieren die Seele
machen sie durchlässig.
Lassen das Falsche entweichen.
Mein Schmerz irrt
durch die Unendlichkeit
hin zur Milchstraße,
dieser glitzernden Spur
des Vergessens,
bis sie stupf wird im Staub der Gefühle.
Von Druck des Sehnens befreit
Ich
Leer und kalt
harr ich der Sonne.“

Thomas schwieg. Karsten drehte verlegen die Zigarette in den Händen.
‚Was soll das? Ich habe kein Wort verstanden‘, dachte er und laut sagte er: „Das ist hübsch.“
„Das habe ich vor sehr langer Zeit geschrieben“, sagte Thomas, wieder einen normalen Tonfall anschlagend. „Oben auf dem Hörselberg. Das sagt Ihnen nichts?“
„Nein.“
„Wissen Sie, was ich seit meiner Behinderung am meisten vermisse? Auf diesem Berg zu stehen. Die Lichter der Stadt zu Füßen. Aber da komme ich nicht mehr hoch, und Füße habe ich auch keine mehr.“
Einen Moment herrschte Schweigen zwischen den Männern. Der eine schien mit seinen Gedanken weit weg zu sein, und Karsten fühlte sich peinlich berührt. Verlegen drückte er seine Zigarette aus.
„Seit wann haben sie das schon?“, fragte er schließlich. Ich meine, wie ist es passiert? Ein Unfall?“
Thomas lachte auf. Bitterkeit lag in diesem Lachen.
„Es sollte wie ein Unfall aussehen. Es passierte ausgerechnet auf einer Flusskreuzfahrt. An Bord hatte ich gerade die Frau meines Lebens gefunden. Ihr Mann konnte das wohl nicht ertragen. Er hat mich von der Kaimauer gestoßen, als gerade ein Schiff anlegte. Ich fiel nicht komplett in den sich schließenden Spalt zwischen Mauer und Schiffsrumpf. Jemand kam mir geistesgegenwärtig zu Hilfe. Nur die Beine wurden zerquetscht. Mordversuch aus Eifersucht! Bis dahin hatte ich gedacht, das gibt es nur in schlechten Filmen.“
Tom lachte wieder sein bitter-dunkles Lachen. Dann schaute er zu Karsten, und der fühlte trotz der Dunkelheit den eindringlichen Blick auf sich ruhen.
„Eifersucht ist etwas völlig Überflüssiges. Sie ändert ja doch nichts. Wenn die Uhr zwischen zwei Liebenden abgelaufen ist, sollten es beide akzeptieren. Was hat es ihm denn eingebracht? Er hat nicht nur die Frau sondern auch für etliche Jahre seine Freiheit verloren. War es das wert? Ich habe nur meine Beine verloren, aber die wunderbarste Frau der Welt gewonnen. Fast müsste ich ihm dankbar sein. Dadurch, dass ich meinen Beruf nicht mehr ausüben konnte, besaß ich plötzlich sehr viel Zeit, die ich mit ihr teilen durfte und die ich obendrein für etwas nutzen konnte, das ich schon immer wollte. Mit zwei gesunden Beinen wäre ich nie Schriftsteller geworden.“
Er machte eine Pause und stieß eine dicke Qualmwolke aus.
„Ich durfte mein Leben von da an mit einer Frau verbringen, die mir unglaublich viel bedeutet und – was noch viel wichtiger ist - der ich genauso viel bedeute. Obendrein vermochte ich in meinen Büchern genau das zu vermitteln, das schon lange in mir brannte. Hätte ich mehr erwarten können?“
Da sich der Mond gerade hinter einer dicken Wolke versteckt hielt, vermochte Karsten nur die Silhouette von Thomas auszumachen. Aber er wusste, dass der Mann mit der Pfeife auf eine Antwort wartete.
„Ich weiß nicht“, gab er zu. „Ich bin kein Schriftsteller. ‚Die Ticken ja wohl auch ganz anders als unsereiner‘, setzte er in Gedanken hinzu.
„Aber die Faszination, die eine Frau in uns auszulösen vermag“, dürfte ihnen doch wohl auch nicht fremd sein.“
War da ein lauernder Unterton? Ausgelöst durch Karstens schlecht verborgene Blicke, mit denen er Marina förmlich in sich aufzusaugen suchte? Was wollte dieser Thomas von ihm? Er glaubte plötzlich nicht mehr an einen Zufall, der sie beide hier auf das Sonnendeck verschlagen hatte. Während er ein „da haben sie natürlich recht“ nuschelte, suchte er in einem Anfall von Nervosität wieder nach den Zigaretten. Wie hatte Thomas gerade erst gesagt? „Eifersucht ist etwas völlig Überflüssiges.“ Wollte er jetzt seine eigenen Worte Lügen strafen?
Der große Mann im Rollstuhl nuckelte genüsslich an seiner Pfeife und schien Karsten gar nicht zu beachten.
Vom Salon drang plötzlich Musik zu ihnen herauf. Die Tanzveranstaltung hatte begonnen.
Karsten atmete auf und meinte dann: „Wir sollten wieder nach unten gehen.“
„Tun sie das“, kam es ruhig zurück. Ich möchte hier noch ein wenig allein sein.“
„Und sich einen neuen Roman ausdenken?“, fragte Karsten, der froh war, dass sich das Gespräch sang- und klanglos aufzulösen schien. Die erwartet peinlichen Fragen waren ausgeblieben.
„Nein“, sagte Thomas. „Es wird keinen neuen Roman mehr geben. Da drin ist nichts mehr.“
Er klopfte sich mit der freien Hand zuerst an den Kopf und dann an die Brust. „Was ich zu sagen hatte, ist gesagt. Jetzt bin ich leergebrannt, genauso wie es diese Pfeife bald sein wird.“
„Man kann sie neu stopfen“, sagte Karsten.
„Stimmt, aber genau das unterscheidet mich von diesem Stück Holz.“
Karsten wusste mal wieder keine Antwort. Verlegen von einem Bein auf das andere tretend, stand er neben dem Rollstuhl.
„Nun hauen sie doch endlich ab“, brummte Thomas, und aus seiner Stimme klang Gutmütigkeit. Im Tonfall ähnelte er einem Vater, der seinen Sohn zu dessen ersten Rendezvous entlässt.
„Na dann, bis gleich“, murmelte Karsten und trollte sich zur schmalen Treppe, die zum Promenadendeck führte. Er hatte sie gerade erreicht, als er ein lautes Halt in seinem Rücken vernahm.
Verdutzt drehte sich Karsten um.
„Können Sie mir einen Gefallen tun?“, hörte er Thomas sagen.
„Ja gern. Worum handelt es sich denn?“
„Können sie tanzen?“
„Na ja – so leidlich.“
„Bitte tanzen sie mit meiner Frau. Sie hat es so lange nicht mehr getan. Sie würden mir und vor allem ihr eine große Freude damit bereiten.“
‚Und am allermeisten mir‘, dachte Karsten und laut rief er:„Aber gern. Wird gemacht.“
Dann nahm er die steilen Stufen nach unten.

„Na endlich! Ich habe mir schon Sorgen gemacht“, wurde er im Salon von Marina empfangen. Sie saß allein am Tisch, denn der guten Friedhelm hatte gerade mit seiner dominanten Elvira einen langsamer Walzer durchzustehen.
„Darf ich?“
Karsten wartete ihre Antwort nicht ab, sondern nahm neben ihr Platz.
„Wo ist mein Mann?“
„Er wollte noch ein wenig die Abendluft genießen.“
„Aha“, sagte sie nur und schob ihm ein volles Cocktailglas zu. „Trinken wir – bevor er noch wärmer wird. Was haben Sie eigentlich so lange gemacht, dort oben?“
„Wir haben uns unterhalten. Ihr Mann hat mir auch von der schlimmen Sache erzählt. Es tut mir sehr leid, was mit ihm passiert ist.“
Marina hatte das Glas wieder zurück gestellt und schaute nachdenklich zur Tanzfläche.
„Komisch – früher hat er kaum die Zähne auseinander bekommen, wenn er über diese Ereignis erzählen sollte. Seit einiger Zeit scheint er aber jegliche Hemmung verloren zu haben. Schließlich sind Sie doch ein wildfremder Mensch für ihn.“
„Wildfremd?“, fragte Karsten mit einem Unterton, der sie zwang, ihn anzuschauen. Ihren Blick und das feine Lächeln vermochte er allerdings nicht zu deuten.
„Sie haben Recht“, sagte sie schließlich, griff wieder zum Cocktail und hob das Glas bis unter die Kinnspitze. Und nach einem kurzen Zögern: „Was hindert uns eigentlich daran, „Du“ zueinander zu sagen?“
„Nichts“, kratzte es aus ihm heraus.
Das Zusammenstoßen der Gläser und der flüchtige Kuss verschwammen im Dunst seiner freudigen Erregung.
Die Frontfrau der Bordkapelle intonierte gerade Andrea Bergs Dauerbrenner „Du hast mich tausendmal belogen, du hast mich tausendmal verletzt…“ und mindestens hundert Kehlen fielen ein. Mehr oder weniger gesangstalentiert, schleuderten sich die Tanzpaare diese Worte entgegen. Nicht wenige unter ihnen wussten oder ahnten, dass sie damit voll ins Schwarze trafen.
„Tanzen wir?“
Karsten wunderte sich, wie einfach und mühelos ihm diese Aufforderung über die Lippen kam.
„Gern.“
Schon sprang sie auf und lief zur Tanzfläche. Geschickt wuselte sie durch die Tanzenden hindurch, bis sie einen freien Fleck gefunden hatte. Karsten vermochte ihr kaum zu folgen.
Und dann hatte er sie im Arm. Endlich! Und was ihn am meisten überraschte – er empfand es als etwas Selbstverständliches. Alles ging wie von selbst. Wie hatte er sich vor Minuten noch gefürchtet, sich zu verkrampfen. Nichts dergleichen. Marina passte sich ihm mühelos an. Als Tanzpartnerin war sie kaum zu spüren – als Frau umso mehr. Zum ersten Mal fühlte er ihre schmalen Hände an seinem Körper, durfte auch er sie berühren. Er atmete ganz aus der Nähe ihren Duft, von dem er geglaubt hatte, dass er seine Sinne in einen regelrechten Rausch versetzen würde. Nein – er empfand ihn nur als ausgesprochen angenehm und er trug lediglich zu seiner heiteren Gelöstheit bei.
„Sie tanzen hervorragend“, sagte er und führte dabei seinen Mund ganz dicht an ihr Ohr.
„Danke. Du aber auch!“, lachte sie zurück, das Du dabei betonend.
„Entschuldigung – an das Du muss ich mich erst gewöhnen.“
Seine Heiterkeit bekam einen Dämpfer, als er daran dachte‚ dass eine solche Gewöhnungsphase vielleicht mehr Zeit in Anspruch nehmen könnte, als ihnen überhaupt verblieb. Plötzlich war ihm, als würde sich ein Rollstuhl zwischen sie drängen, sie zwingen einander loszulassen. Hatte Marina zur gleichen Zeit die gleiche Vision? In der nächsten Runde spürte er Unruhe in ihr aufkommen. Das übertrug sich auch auf die Bewegungen, die immer mehr von ihrer fließenden Leichtigkeit verloren. Die letzten Takte absolvierten beide reichlich verkrampft.
Als sie zum Tisch zurückkehrten, saß da immer noch niemand.
„Donnerwetter, die beiden haben aber eine Kondition“, staunte Marina und meinte damit den müden Friedhelm und die dominante Elvira.
„Na ja – je oller, je doller“, schmunzelte Karsten und schob Marinas Stuhl zurecht.
„Na ja – so wahnsinnig viel trennt uns ja auch nicht mehr von diesem Alter“, dämpfte sie ihn.
Er nickte und deklamierte: „Darum nutze den Tag, es könnte…“
„Och nöö, nicht diesen abgedroschenen Spruch“, maulte sie und führte ihr Glas an den Mund.
Auch er nuckelte am Trinkhalm.
„Wo er nur bleibt?“
In ihren Augen las er Unruhe.
„Vielleicht ist das Sonnendeck so eine Art Ersatz für seinen Lieblingsberg?“
„Er hat Dir davon erzählt?“ Sie zog die Stirn in leichte Falten. „Er hat sich verändert“, sagte sie dann, und es war als spräche sie mit sich selbst. „Ich habe stets seine Abgeklärtheit bewundert – eine innere Ruhe aus der er seine Kraft schöpfte. In letzter Zeit spüre ich immer öfter eine Nervosität bei ihm, die ich bisher nicht kannte.“
„Du liebst ihn sehr, nicht wahr?“
Sie schaute Karsten an und ihr Blick war für ihn wieder einmal nicht zu deuten.
„Wir gehören zusammen“, sagte sie schließlich und senkte die Augen ins Glas. „Zwischen uns herrscht eine wunderbare Harmonie. Jetzt scheint sie gestört zu sein.“
„Hast du eine Erklärung dafür?“, glaubte Karsten nachhaken zu müssen.
Ohne den Kopf zu heben, sagte sie: „Ich fürchte, es hängt mit meinem Ex-Mann zusammen.
Er wird bald aus der Haft entlassen und Thomas hat wohl Angst, dass er mir etwas antun könnte. Und er ist verzweifelt, weil er glaubt, mich im Ernstfall nicht beschützen zu können. Immer wieder spricht er dieses Thema an. Erst vor einigen Tagen hat er gerufen: ‚Marina. Wie soll ich dich schützen – hier an dieses Scheiß-Vehikel gefesselt!‘ Dabei hat er mit beiden Händen auf die Lehnen des Rollstuhles eingeschlagen. So habe ich ihn noch nie erlebt.“
Sie schwieg, und Karsten sah, wie ihre Hände fahrig über das Tischtuch wischten.
„Ich muss zu ihm!“, sagte sie plötzlich und sprang abrupt auf.
Karsten hielt sie an einer Hand fest, stand aber ebenfalls auf.
„Ich begleite dich. Wer weiß, vielleicht steckt er irgendwo fest.“
War da Dankbarkeit in ihren Augen, als sie ihm zunickte?
Draußen empfing sie eine frische Brise. Die sonnig warmen Tage konnten nicht darüber hinweg täuschen, dass der Herbst bereits im Hintergrund lauerte.
„Er wird sich verkühlen!“ In ihrer Stimme schwang echte Besorgnis.
Schon eilte sie die schmale Treppe zum Sonnendeck hinauf, und er hatte Mühe ihr zu folgen. Oben angekommen, blickte sie suchend um sich.
„Wir müssen zum Vorschiff“, erklärte Karsten und ging voraus. Dann erkannte er die sich in der Dunkelheit schwach abhebenden Umrisse des Rollstuhles.
„Was habe ich gesagt, er genießt noch immer die Abendluft“, lachte Karsten. Marina antwortete nicht, sondern beschleunigte ihre Schritte. Schon waren sie soweit heran, dass er sie hören musste.
„Heh Tom!“, rief ihn Marina an. „Du willst dir wohl eine Lungenentzündung holen? Nun komm aber. Ich werde dich…!“ Sie stockte unvermittelt und plötzlich ein gellender Aufschrei: „Thomas!“ Und noch einmal: "Thomas!"
Karsten war neben sie getreten, schaute verwirrt auf die kleine Frau, die immer noch schrie und jetzt nach vorn stürzte, vor dem Rollstuhl auf die Knie ging und das dunkle Gefährt mit den Armen umschlang. Karsten durchlief es eiskalt. Er fühlte sich starr werden.
„Oh nein“, stöhnte aus ihm heraus.
Der Rollstuhl war leer.
 

FrankK

Mitglied
Hallo Ralph
Eine fein gewobene, unaufgeregte Geschichte über Beziehungen und deren Verwicklungen schilderst Du uns.
Da ist zum einen Karsten, frischgebackener Single, der sich von seiner Kathrin nach wenigen Jahren getrennt hat.
Da ist zum anderen Thomas, der Behinderte, dessen Frau Marina er einst einem anderen Mann ausgespannt hat.
Und da sind schließlich noch Friedhelm und seine Frau Elvira, die subtil im Hintergrund zeigen, dass es auch über lange Jahre funktionieren kann.

Gesamteindruck:
Erzählt wird die Geschichte in Form einer Suche. Die Suche Karstens, nach einer neuen Freiheit, die er gerne mit Marina teilen möchte, die Suche Thomas, nach einem Nachfolger für sich, der Marina besser (effektiver) beschützen kann.
Die einleitende Traumsequenz zeigt anschaulich die Leidenschaft, die sich noch immer in Karsten verbirgt und demonstriert sein Schuldbewusstsein in der Buhlerei um eine Frau, die einem anderen „gehört“.

Erbsenzählerei:
Einige winzige Stolpersteinchen trüben den Gesamteindruck. Ich werfe Dir einfach mal alles vor die Füße, was mir aufgefallen ist. ;)
gewahrte er keine drei Schritte vor sich das [blue]helles[/blue] T-Shirt.
Korrektur: helle

Doch schon schoben sich ihre zart [blue]gefälteten[/blue] Lider über die Pupillen.
Duden empfiehlt: gefältelten oder gefalteten

Das berauschende Weich ihres [blue]Mundes, enthob[/blue] ihn der Antwort.
Kein Komma hinter „Mundes“

„Ja, [blue]endlich!“ hauchte[/blue] sie zurück.
Komma hinter wörtlicher Rede.

weil er wusste, wie sie sich [blue]normaler Weise[/blue] darüber gefreut hätte.
Kurz danach schreibst Du „Normalerweise“ zusammen.

Wenn er sie anschaute, fühlte er sich wie ein pubertierender Schüler, der kaum dem Unterricht folgen [blue]kann[/blue], weil seine junge und aufreizend hübsche Lehrerin nur Chaos in seinem Kopf [blue]anrichtet[/blue].
Zeitfehler?

Oh jeh“, hörte er Marina [blue]stöhnen. „das[/blue] ist kein Schiff,
Einleitende Anführungszeichen fehlen. Hinter „stöhnen“ ein Komma und klein weiter oder ein Punkt und groß weiter

Möchten sie? Wäre doch schade drum.“
Einleitende Anführungszeichen fehlen.

wobei sie ihm einen hübschen Einblick in ihr [blue]Dekolletee[/blue] bot.
Duden empfiehlt: Dekolleté
Alternativ aber auch so möglich. (Klingt mir persönlich nur zu sehr nach einem Heissgetränk ;) )

Das [blue]Flusskreuzfahrschiff[/blue] war ganz neu und hervorragend ausgestattet.
Korrektur: Flusskreuzfahrtschiff

Und plötzlich die Stimme hebend, deklamierte er: „[blue]Und heute?“
Milliarden[/blue] Sternenpixel!
...
bis sie [blue]stupf[/blue] wird im Staub der Gefühle.
Von Druck des Sehnens befreit
Ich
Leer und kalt
harr ich der Sonne.“
Die Anführungszeichen hinter dem „Und heute?“ sind überflüssig oder (nicht wirklich) vor den „Milliarden“ fehlt eines.
Korrektur: stumpf (?)

„Seit wann haben sie das schon?“, fragte er [blue]schließlich. Ich[/blue] meine, wie ist es passiert? Ein Unfall?“
Anführungszeichen vor „Ich meine“ fehlen.


Er hat nicht nur die [blue]Frau sondern[/blue] auch für etliche Jahre seine Freiheit verloren.
Komma vor „sondern“.

„Ich bin kein [blue]Schriftsteller. ‚Die[/blue] Ticken ja wohl auch ganz anders als unsereiner‘, setzte er in Gedanken hinzu.
Abschließende Anführungszeichen hinter „Schriftsteller.“

„Aber die Faszination, die eine Frau in uns auszulösen [blue]vermag“, dürfte[/blue] ihnen doch wohl auch nicht fremd sein.“
Zur Abwechslung mal Anführungszeichen zu viel. ;)

‚Und am allermeisten mir‘, dachte Karsten und laut rief [blue]er:„Aber[/blue] gern. Wird gemacht.“
Hier fehlt nur ein Leerzeichen.

Sie saß allein am Tisch, denn der [blue]guten[/blue] Friedhelm hatte gerade mit seiner dominanten Elvira einen [blue]langsamer[/blue] Walzer durchzustehen.
Korrektur: gute
Korrektur: langsamen

[blue]Dauerbrenner „Du [/blue]hast mich tausendmal belogen, du hast mich tausendmal [blue]verletzt…“ und[/blue] mindestens hundert Kehlen fielen ein.
Eventuell Doppelpunkt hinter "Dauerbrenner".
Erläuterungen zu den drei Punkten siehe unten.
Komma vor dem „und“. Ich würde das "und" weglassen und groß mit den "Mindestens hundert ..." weitermachen

Ich habe stets seine Abgeklärtheit bewundert – eine innere [blue]Ruhe aus[/blue]der er seine Kraft schöpfte.
Komma hinter „Ruhe“

„Oh nein“, [blue]stöhnte aus[/blue] ihm heraus.
???
„stöhnte es aus ihm heraus“ ?


Der Kellner servierte den Hauptgang. [blue]Zander….[/blue]
...
mich eins zu fühlen mit Milliarden von [blue]Sternen…[/blue]
...
„Darum nutze den Tag, [blue]es könnte…“[/blue]
...
„Du willst dir wohl eine Lungenentzündung holen? Nun komm aber. Ich werde [blue]dich…!“[/blue]
Das Auslassungszeichen (drei Punkte)
- ersetzt ein ganzes Wort oder mehr: Leerzeichen davor.
- ersetzt einen Teil des Wortes: kein Leerzeichen davor
- am Ende eines Satzes: Ersetzt den Punkt, aber nicht die anderen Satzendezeichen.

Der Titel:
„Der glückliche Thomas“ insistiert, dass Thomas damit zufrieden ist, einen Nachfolger für sich gefunden zu haben und er nun beruhigt in den Tod gehen könnte.
Als Leser wird mir noch nicht ganz deutlich, warum ausgerechnet Karsten dieser „Jemand“ sein sollte. Er wird als zu durchschnittlich gezeichnet, nichts, was ihn aus der Masse hervorhebt. Es wäre etwas logischer, wenn Karsten zumindest Groß gewachsen wäre, von kräftigerer Statur, sportlichere Gestalt – irgendetwas, was ihn „prädestiniert“.


Eine unaufgeregte Geschichte über sich liebende und sich sorgende Menschen.
Gerne gelesen.


Abendliche Grüße aus Westfalen
Frank
 
O

orlando

Gast
Hallo Ralph,
ein paar Erbsen hat Frank schon ins Töpfchen geworfen. -
Mir ist die Erzählung zum Finale hin etwas zu überfrachtet /erklärend.
Der Abschnitt

„Zwischen uns herrscht eine wunderbare Harmonie. Jetzt scheint sie gestört zu sein.“
„Hast du eine Erklärung dafür?“, glaubte Karsten nachhaken zu müssen.
Ohne den Kopf zu heben, sagte sie: „Ich fürchte, es hängt mit meinem Ex-Mann zusammen.
Er wird bald aus der Haft entlassen und Thomas hat wohl Angst, dass er mir etwas antun könnte. Und er ist verzweifelt, weil er glaubt, mich im Ernstfall nicht beschützen zu können. Immer wieder spricht er dieses Thema an. Erst vor einigen Tagen hat er gerufen: ‚Marina. Wie soll ich dich schützen – hier an dieses Scheiß-Vehikel gefesselt!‘ Dabei hat er mit beiden Händen auf die Lehnen des Rollstuhles eingeschlagen. So habe ich ihn noch nie erlebt.“
Sie schwieg, und Karsten sah, wie ihre Hände fahrig über das Tischtuch wischten.
könnte wohl entfallen.

Ebenso die Episode Elvira / Friedhelm. - Wäre es nicht besser, sich ganz auf die Hauptpersonen zu konzentrieren und Vorgeschichte und Umwelt lediglich als Kulisse in ein zwei Sätzen anzudeuteten, jedoch im Ungewissen zu belassen?

In meinen Augen ergeben sich am Ende zwei Speerspitzen. Nur eine kann treffen.

Freundliche Grüße
orlando
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Der glückliche Thomas


Das wenige Licht, das durch die bunten Scheiben sickerte, reichte gerade aus, um das Kirchenschiff in ein angenehmes Halbdunkel zu tauchen. Der Reiseleiter hatte seine Ausführungen beendet, und nun strebte die Gruppe dem Ausgang zu.
Karsten Beck zwängte sich durch zwei Bankreihen, hinüber zum Mittelgang. Als er seinen bis dahin im Chorgewölbe weilenden Blick nach vorn richtete, gewahrte er keine drei Schritte vor sich das helle T-Shirt.
Marina!
Automatisch beschleunigte er seine Schritte und befand sich unversehens so dicht hinter der Frau, dass er nur den Arm hätte ausstrecken müssen, um ihre schmalen Schultern zu berühren. Zu spät bemerkte er, dass sie abrupt stehen geblieben war und wäre fast aufgelaufen. Verwirrt wollte er den Rückwärtsgang einlegen, als sie unerwartet beide Arme nach hinten warf. Schon fühlte er ihre Hände auf seinen Hüften. Gleichzeitig trat sie einen halben Schritt zurück. Irgendwo zwischen Brust und Bauch spürte er ihre kantigen Schulterblätter.
„Oh!“, machte er. Und noch einmal: “Oh!“
Sie warf den Kopf nach hinten, und er sah ein undefinierbares Lächeln um ihre Lippen spielen. Das war so schnell gegangen, dass nicht mehr als ein Atemzug dazwischen lag. Und ehe er ein drittes Mal „Oh!“ sagen konnte, drehte sie sich herum. Ihre Arme lagen jetzt in seinem Nacken. Ganz nahe kam ihr Antlitz. Verwirrt suchte er in den grau-blauen und jetzt ganz dunkel gewordenen Augen nach einer Erklärung. Augen, deren Blicke er bereits seit drei Tagen vergeblich zu deuten versuchte. Doch schon schoben sich ihre zart gefältelten Lider über die Pupillen. Dafür öffneten sich die dezent geschminkten Lippen. Durfte er diese unerwartete Einladung annehmen? Das berauschende Weich ihres Mundes enthob ihn der Antwort. Ihr Kuss war von einer Zärtlichkeit, die ihm bis in die Haarwurzeln drang und einen kaum zu beschreibenden Jubel in ihm auslöste. Als sich ihre Lippen voneinander lösten, hätte er vor Glück schreien mögen, doch es kam nur ein geflüstertes „Endlich!“ heraus.
„Ja, endlich!“, hauchte sie zurück. Sie schien noch etwas hinzusetzen zu wollen, doch da trat plötzlich Erschrecken in ihren Blick.
„Unerhört!“, kreischte eine Altweiberstimme und sofort fielen noch weitere ein. Die komplette Reisegruppe kam mit vor Entrüstung verzerrten Gesichtern und wild fuchtelnden Armen durch die Bankreihen auf das Paar zu gestürzt. Karsten legte seine Arme schützend um Marina, vermochte aber nicht zu verhindern, dass ihr eine schwere Handtasche zwischen die Schulterblätter fuhr. Im gleichen Moment traf ihn ein Regenschirm am Hinterkopf. Und nun prasselte es Schläge von allen Seiten.
„Der Mann wartet ahnungslos draußen im Rollstuhl und das Flittchen wirft sich diesem Lustgreis an den Hals!“
„Und das in diesem Alter – ein Skandal!“
Karsten wollte sich wehren, der rasenden Meute entgegentreten, aber er brachte keinen Laut über die Lippen. Er vermochte nicht einmal die Arme zu heben, um sich vor den Angriffen zu schützen. Beide waren sie längst im Tumult untergegangen.
Doch mit einem Mal wurde es still. Die Menschentraube löste sich buchstäblich in Luft auf, und mit ihr die Wände der Kirche. Auch Marina war verschwunden. Um ihn herum nur ein sanftes Rauschen und das gedämpfte Wummern der Schiffsdiesel.
Allmählich kam Karsten zu sich und öffnete die Augen. Durch einen Spalt zwischen den schweren Fenstervorhängen drangen die Strahlen der Abendsonne. Er richtete sich auf und setzte sich auf die Bettkante.
„Nur ein scheußlicher Traum!“, dachte er und fühlte sich erlöst.
Doch da bemerkte er, wie seine Erleichterung von einem zunehmenden Bedauern verdrängt wurde. Marina hatte ihn geküsst. War die Sehnsucht danach in ihm so übermächtig geworden, dass er sie bereits im Traum zu erfüllen suchte?

Er glaubte, diesen Kuss noch zu spüren, als er bereits unter der Dusche stand und sich bemühte den Traum aus dem Kopf zu spülen. Doch der beherrschte ihn noch, als er, in feinen Zwirn gehüllt, die Treppe vom Haupt- zum Promenadendeck hinauf stieg. Am Eingang zum Speisesaal verhielt er den Schritt und schaute prüfend in den dort angebrachten Spiegel. War ihm anzusehen, wie sehr ihn dieser Traum noch immer beschäftigte? Er war sich nicht sicher.
Möglichst lässig, eine Hand in der Hosentasche vergraben, durchmaß Karsten den Speisesaal. Geschickt umging er die am Salatbuffet kämpfende Menschentraube und versuchte jenen auszuweichen, die sich mit völlig überladenen Tellern auf dem Siegeszug zu ihren Plätzen befanden. Ganz gelang ihm das nicht, denn plötzlich zischte es neben ihm: „Können sie nicht aufpassen?!“
Er sah eine aufgerüschte Mittsechzigerin, die sich eine Olive aus dem Ausschnitt angelte.
‚Geschieht dir recht‘, dachte Karsten, denn er hatte in ihr diejenige erkannt, die Marina so brutal die Handtasche ins Kreuz gepfeffert hatte.
Marina!
Dort saß sie. Sie und ihr Mann hatten am Sechsertisch die beiden Fensterplätze inne. Das Ehepaar, das außen saß, war auch schon da. Mit einem artigen „Guten Abend!“ zwängte sich Karsten auf den Stuhl, der zwischen den beiden Männern stand. Der ihm gegenüber liegende Platz blieb zwangsläufig frei. Eigentlich hätte dort Kathrin sitzen müssen. Karsten hatte diese Schiffsreise nur ihretwegen gebucht, weil er wusste, wie sie sich normalerweise darüber gefreut hätte. Doch „normalerweise“ gab es nicht mehr! Es war lediglich ein letzter Versuch gewesen, um noch einmal Kitt in die Ritzen der bröckelnden Beziehung zu drücken. Kathrin hatte dankend abgelehnt.

Fünf Jahre war es her, dass ihre Liebesbezeugungen es vermocht hatten, seine Zweifel so aufzulösen, wie es Schwefelsäure mit einem Zinkbecher vermag. Fünf Jahre Sonnenschein und dann … Nur noch dicke Wolken.
Hatte es daran gelegen, dass der berühmt-berüchtigte Zahn der Zeit deutlich an ihm zu nagen begann? Erste kleine Wehwehchen, kaum mehr zu kaschierender Bauchansatz, erste teuer überbrückte Zahnlücken und die Potenz mit allmählich sinkender Tendenz. Näherte er sich mit seinen 57 Lenzen bereits dem Verfallsdatum? In den Augen der deutlich jüngeren Kathrin schien es wohl schon erreicht.

Nun saß er hier aus lauter Trotz. Er hatte sich vorgenommen, nicht im Selbstmitleid zu ersaufen, sondern die Reise in der noch ungewohnten Rolle eines Singles zu genießen. Er wollte sein neues Dasein inmitten der um ihn herum wuselnden Ehepaare als das allein glücklich machende erfahren. Und das, was er um sich herum wahrnahm, schien ihm zum Großteil Recht zu geben.
Doch richtig glücklich fühlte er sich nicht, so sehr er sich das auch einzureden versuchte. Schuld war allein diese Frau, die ihm schräg gegenüber saß, Marina hieß und die seine Gedanken und Empfindungen bereits seit vier Tagen Achterbahn fahren ließ.
Nach seiner Trennung von Kathrin hatte er lange resümiert, was mit der Feststellung endete: „Karsten, das war es für dich. Da kommt nichts mehr.“
Von da an hatte er nichts ausgelassen, um die angenehmen Seiten des Alleinseins auszuleben und den erlittenen Verlust als Gewinn zu betrachten. Und nun?
Da saß diese Frau, die sein sorgfältig gebasteltes Kartenhaus urplötzlich zum Einsturz gebracht hatte. Innerhalb weniger Stunden hatte er sich in diese kleine, schmale Person verknallt. Wenn man ihn gefragt hätte, was ihn besonders an ihr faszinierte, wäre er wahrscheinlich eine Antwort schuldig geblieben oder hätte sich ein schlichtes „Alles“ abgerungen.
Allein ihre Blicke und ihre Mimik besaßen eine breite Palette. Mal ernsthaft prüfend, mal heiter gelöst, mal verunsichert, mal voller Selbstbewusstsein. Manchmal glaubte er sogar seine Gefühle erwidert. Aber diesem heimlichen Einverständnis folgte prompt eine freundliche Distanz. Ähnlich verhielt es sich mit der Körpersprache. Ihre Gestik verhieß Temperament, ihre Haltung kündete von Selbstsicherheit und ihr Gang besaß etwas durch und durch erotisches. Wenn er sie anschaute, fühlte er sich wie ein pubertierender Schüler, der kaum dem Unterricht folgen kann, weil seine junge und aufreizend hübsche Lehrerin nur Chaos in seinem Kopf anrichtet.
Auch jetzt, wo der Kellner den 1. Gang servierte, vermochte Karsten nur schwer seinen auffällig bewundernden Blick von Marina zu lösen. Erst als diese ihren Kopf leicht in seine Richtung wandte und er sich offen von ihr gemustert fühlte, glaubte er sich wieder einmal ertappt und versuchte, sich ganz den Speisen auf seinem Teller zu widmen. So wie sein rechter Tischnachbar, der bereits in genüssliches Schmatzen verfallen war. Es dauerte geraume Zeit, bis der alte Herr das Zischeln und die mahnenden Blicke seiner Frau Gemahlin wahrnahm und seine Kaugeräusche für kurze Zeit minimierte.
Karsten grinste in sich hinein und entdeckte aus den Augenwinkeln auch das amüsierte Lächeln, das um Marinas Mundwinkel spielte.
Der Kellner servierte den Hauptgang. Zander mit …
„Oh jeh“, hörte er Marina stöhnen. „Das ist kein Schiff, sondern eine schwimmende Maststation.“
Schon jonglierte sie die Hälfte von ihrem Fisch auf der Gabel.
„Möchtest du?“ Damit meinte sie Thomas, ihren Mann, der wie hingegossen zu Karstens Linken im Rollstuhl saß. Den massigen Oberkörper leicht nach vorn gebeugt, stocherte er lustlos auf seinem Teller herum.
„Danke, Schatz. Aber mein Appetit hält sich in Grenzen.“
Das klang schroffer, als es Karsten von dem stets ausgeglichen wirkenden und in sich ruhenden Thomas gewöhnt war.
Marina ließ die Gabel auf den Teller zurück sinken und schaute ihren Mann eindringlich an.
„Wir haben Urlaub“, sagte sie mit einem Nachdruck in der Stimme, den Karsten nicht verstand.
Er sah, wie sie beide Hände über den Tisch streckte und seine Unterarme streichelte. Für den innigen Blick, den der glückliche Tom von ihr entgegen nehmen durfte, hätte ihn Karsten erwürgen können.
Marina ließ ihre Hände noch ein wenig dort verharren, ehe sie sich wieder ihrem Fisch zuwandte, um ihn jetzt Karsten anzubieten.
„Möchten sie? Wäre doch schade drum.“
„Ja – ja, sehr gern.“
Obwohl er ihr den Teller entgegenstreckte, musste sie sich ihm etwas entgegen beugen, wobei sie ihm einen hübschen Einblick in ihr Dekolleté bot. Selbst die kleinen und nicht mehr kaschierbaren Fältchen auf der Haut über den Brustansätzen besaßen für ihn etwas Bezauberndes.
Jetzt wurde ihm der Mund staubtrocken, und er hatte bis zum Nachtisch zu tun, um diesen Zustand halbwegs zu überwinden.
„So, jetzt noch ein schönes Pfeifchen und die Welt ist komplett in Ordnung“, sagte Thomas und lehnte sich im Rollstuhl zurück.
„Wir müssen uns aber erst einen Tisch im Salon reservieren“, mahnte Marina.
„Das kannst du doch inzwischen erledigen. Am besten gleich einen Sechsertisch, oder wollen Sie nicht mitkommen?
„Doch, doch“, beeilte sich die Frau, die beim Essen ihre ganze Energie aufgewandt hatte, um ihren Mann anzuzischen, zu versichern. „Wir wollen auch rüber in den Salon – nicht wahr Friedhelm?“
Der Alte, der schon eine Weile in den Anblick der vorbeiziehenden Lichter am Flussufer versunken war, schrak auf und nickte dann beflissen.
„Schaffst du das allein?“, fragte Marina und schaute ein wenig skeptisch.
Statt zu antworten, legte Thomas seine schwere Hand auf Karstens Schulter. Der zuckte leicht zusammen. Es war das erste Mal, dass Marinas Mann ihn so vertraulich behandelte.
„Sie gehen doch bestimmt auch erst noch eine Rauchen“, hörte er ihn sagen. Gleichzeitig erhöhte die Pranke des Rollstuhlfahrers den Druck.
Karsten nickte. „Na klar“, krächzte er, denn sein Mund war schon wieder trocken. Nur wusste er diesmal nicht warum.

Die Gesellschaft erhob sich von ihren Plätzen. Karsten klemmte sich hinter den Rollstuhl und folgte dem glücklichen Tom zum Ausgang des Speisesaales. Bei der Planung dieses modernen Flusskreuzfahrtschiffes hatte man auch an die Behinderten gedacht. Ohne Mühe gelangten sie zum Fahrstuhl, der sie zum Sonnendeck hinauf brachte. Jetzt handelte es sich allerdings mehr um ein Monddeck, denn der treue Erdtrabant hing bereits in voller Größe über den Bergen der Wachau und ließ das Wasser im Pool silbern glitzern.
„Ist das nicht herrlich?“, fragte Thomas und ließ sich zum Vorschiff rollen.
Direkt an der Reling stellte er die Bremsen fest. Während Karsten in den Taschen seines Jacketts nach Zigaretten und Feuerzeug suchte, stopfte Thomas seine teure Markenpfeife und drückte den Tabak dabei mit bedächtiger Sorgfalt fest. Fast gleichzeitig flammten die Feuerzeuge auf. Während Thomas genüsslich an der Pfeife sog und dem Mond dicke Wolken ins Gesicht blies, nuckelte Karsten nervös an seiner Zigarette und schaute, über die Reling gebeugt, in das dunkel dahinschießende Wasser.
„Ist das nicht ein herrlicher Spätsommerabend?“ Thomas drehte den Kopf in verschiedene Richtungen und ließ die Nasenflügel beben. „Es gab Zeiten, da bin ich an solchen Abenden auf meinen Lieblingsberg gestiegen, nur um dem Universum ein Stück näher zu sein – mich eins zu fühlen mit Milliarden von Sternen…“
Übergangslos begann er zu deklamieren.
„Milliarden Sternenpixel!
Feine Lichtnadeln
perforieren die Seele,
machen sie durchlässig.
Lassen das Falsche entweichen.
Mein Schmerz irrt
durch die Unendlichkeit
hin zur Milchstraße,
dieser glitzernden Spur
des Vergessens.
Von Druck des Sehnens befreit
Ich
Leer und kalt
harr ich der Sonne.“


Thomas schwieg. Karsten drehte verlegen die Zigarette in den Händen.
‚Was soll das? Ich habe kein Wort verstanden‘, dachte er und laut sagte er: „Das ist hübsch.“
„Das habe ich vor sehr langer Zeit geschrieben“, sagte Thomas, wieder einen normalen Tonfall anschlagend. „Oben auf dem Hörselberg. Das sagt Ihnen nichts?“
„Nein.“
„Wissen Sie, was ich seit meiner Behinderung am meisten vermisse? Auf diesem Berg zu stehen. Die Lichter der Stadt zu Füßen. Aber da komme ich nicht mehr hoch, und Füße habe ich auch keine mehr.“
Einen Moment herrschte Schweigen zwischen den Männern. Thomas schien mit seinen Gedanken weit weg zu sein. Karsten fühlte sich peinlich berührt. Verlegen drückte er seine Zigarette aus.
„Seit wann haben sie das schon?“, fragte er schließlich. „Ich meine, wie ist es passiert? Ein Unfall?“
Thomas lachte auf. Bitterkeit lag in diesem Lachen.
„Es sollte wie ein Unfall aussehen. Es passierte ausgerechnet auf einer Flusskreuzfahrt. An Bord hatte ich gerade die Frau meines Lebens gefunden. Ihr Mann konnte das wohl nicht ertragen. Er hat mich von der Kaimauer gestoßen, als gerade ein Schiff anlegte. Ich fiel nicht komplett in den sich schließenden Spalt zwischen Mauer und Schiffsrumpf. Jemand kam mir geistesgegenwärtig zu Hilfe. Nur die Beine wurden zerquetscht. Mordversuch aus Eifersucht! Bis dahin hatte ich gedacht, das gibt es nur in schlechten Filmen.“
Tom lachte wieder ein bitter-dunkles Lachen. Dann schaute er zu Karsten, und der fühlte trotz der Dunkelheit den eindringlichen Blick auf sich ruhen.
„Eifersucht ist etwas völlig Überflüssiges. Sie ändert ja doch nichts. Wenn die Uhr zwischen zwei Liebenden abgelaufen ist, sollten es beide akzeptieren. Was hat es ihm denn eingebracht? Er hat nicht nur die Frau, sondern auch für viele Jahre seine Freiheit verloren. War es das wert? Ich habe nur meine Beine eingebüßt, aber die wunderbarste Frau der Welt gewonnen. Fast müsste ich ihm dankbar sein. Dadurch, dass ich meinen Beruf nicht mehr ausüben konnte, besaß ich plötzlich sehr viel Zeit, die ich mit ihr teilen durfte und die ich obendrein für etwas nutzen konnte, das ich schon immer wollte. Mit zwei gesunden Beinen wäre ich nie Schriftsteller geworden.“
Er machte eine Pause und stieß eine dicke Qualmwolke aus.
„Ich durfte mein Leben von da an mit einer Frau verbringen, die mir unglaublich viel bedeutet und – was noch viel wichtiger ist – der ich genauso viel bedeute. Obendrein vermochte ich in meinen Büchern genau das zu vermitteln, das schon lange in mir brannte. Hätte ich mehr erwarten dürfen?“
Da sich der Mond gerade hinter einer dicken Wolke versteckt hielt, vermochte Karsten nur die Silhouette von Thomas auszumachen. Aber er wusste, dass der Mann mit der Pfeife auf eine Antwort wartete.
„Ich weiß nicht“, gab er zu. „Ich bin kein Schriftsteller.“
‚Die Ticken ja wohl auch ganz anders als unsereiner‘, setzte er in Gedanken hinzu.
„Aber die Faszination, die eine Frau in uns auszulösen vermag, dürfte ihnen doch nicht fremd sein.“
War da ein lauernder Unterton? Ausgelöst durch Karstens schlecht verborgene Blicke, mit denen er Marina förmlich in sich aufzusaugen suchte? Was wollte dieser Thomas von ihm? Er glaubte plötzlich nicht mehr an einen Zufall, der sie beide hier auf das Sonnendeck verschlagen hatte.
Während er ein „da haben sie natürlich Recht“ nuschelte, suchte er in einem Anfall von Nervosität wieder nach den Zigaretten. Wie hatte Thomas gesagt? „Eifersucht ist etwas völlig Überflüssiges.“ Wollte er jetzt seine eigenen Worte Lügen strafen?
Der glückliche Thomas nuckelte an seiner Pfeife und schien Karsten gar nicht zu beachten.

Vom Salon drang plötzlich Musik zu ihnen herauf. Die Tanzveranstaltung hatte begonnen.
Karsten atmete auf und meinte dann: „Wir sollten wieder nach unten gehen.“
„Tun sie das“, kam es ruhig zurück. Ich möchte hier noch ein wenig allein sein.“
„Und sich einen neuen Roman ausdenken?“, fragte Karsten, der froh war, dass sich das Gespräch sang- und klanglos aufzulösen schien. Die erwartet peinlichen Fragen waren ausgeblieben.
„Nein“, sagte Thomas. „Es wird keinen neuen Roman mehr geben. Da drin ist nichts mehr.“
Er klopfte sich mit der freien Hand zuerst an den Kopf und dann an die Brust. „Was ich zu sagen hatte, ist gesagt. Jetzt bin ich leergebrannt, genauso wie es diese Pfeife bald sein wird.“
„Man kann sie neu stopfen“, sagte Karsten.
„Stimmt, aber genau das unterscheidet mich von diesem Stück Holz.“
Karsten wusste mal wieder keine Antwort. Verlegen von einem Bein auf das andere tretend, stand er neben dem Rollstuhl.
„Nun hauen sie doch endlich ab“, brummte Thomas, und aus seiner Stimme klang Gutmütigkeit. Der Tonfall ähnelte dem eines Vaters, der seinen Sohn zu dessen ersten Rendezvous ermuntert.
„Na dann, bis gleich“, murmelte Karsten und trollte sich zur schmalen Treppe, die zum Promenadendeck führte. Er hatte sie gerade erreicht, als er ein lautes Halt in seinem Rücken vernahm.
Verdutzt drehte sich Karsten um.
„Können Sie mir einen Gefallen tun?“, hörte er Thomas sagen.
„Ja gern. Worum handelt es sich denn?“
„Können sie tanzen?“
„Na ja – so leidlich.“
„Bitte tanzen sie mit meiner Frau. Sie hat es so lange nicht mehr getan. Sie würden mir und vor allem ihr eine große Freude damit bereiten.“
‚Und am allermeisten mir‘, dachte Karsten und laut rief er: „Aber gern!“
Dann nahm er die steilen Stufen nach unten.

„Na endlich! Ich habe mir schon Sorgen gemacht“, wurde er im Salon von Marina empfangen. Sie saß allein am Tisch, denn der gute Friedhelm hatte gerade mit seiner dominanten Elvira einen langsamen Walzer durchzustehen.
„Darf ich?“
Karsten wartete ihre Antwort nicht ab, sondern nahm neben ihr Platz.
„Wo ist mein Mann?“
„Er wollte noch ein wenig die Abendluft genießen.“
„Aha“, sagte sie nur und schob ihm ein volles Cocktailglas zu. „Trinken wir – bevor er noch wärmer wird. Was haben Sie eigentlich so lange gemacht, dort oben?“
„Wir haben uns unterhalten. Ihr Mann hat mir auch von der schlimmen Sache erzählt. Es tut mir sehr leid, was mit ihm passiert ist.“
Marina hatte das Glas wieder zurück gestellt und schaute nachdenklich zur Tanzfläche.
„Das ist merkwürdig – früher hat er kaum die Zähne auseinander bekommen, wenn er auf dieses Ereignis angesprochen wurde. Seit einiger Zeit scheint er aber jegliche Hemmung verloren zu haben. Schließlich sind Sie doch ein wildfremder Mensch für ihn.“
„Wildfremd?“, fragte Karsten mit einem Unterton, der sie zwang, ihn anzuschauen. Ihren Blick und das feine Lächeln vermochte er allerdings nicht zu deuten.
„Sie haben Recht“, sagte sie schließlich, griff wieder zum Cocktail und hob das Glas zur Kinnspitze. Und nach einem kurzen Zögern: „Was hindert uns eigentlich daran, Du zueinander zu sagen?“
„Nichts“, kratzte es aus ihm heraus.
Das Zusammenstoßen der Gläser und der flüchtige Kuss verschwammen im Dunst seiner freudigen Erregung.
Die Frontfrau der Bordkapelle intonierte gerade Andrea Bergs Dauerbrenner:
„Du hast mich tausendmal belogen, du hast mich tausendmal verletzt
Mindestens hundert Kehlen fielen ein. Mehr oder weniger gesangstalentiert, schleuderten sich die Tanzpaare diese Worte entgegen. Nicht wenige unter ihnen mochten damit voll ins Schwarze trafen.
„Tanzen wir?“
Karsten wunderte sich, wie einfach und mühelos ihm diese Aufforderung über die Lippen kam.
„Gern.“
Schon sprang sie auf und lief zur Tanzfläche. Geschickt wuselte sie durch die Tanzenden hindurch, bis sie einen freien Fleck gefunden hatte. Karsten vermochte ihr kaum zu folgen.
Und dann hatte er sie im Arm. Endlich! Und was ihn am meisten überraschte – er empfand es als etwas Selbstverständliches. Alles ging wie von selbst. Wie hatte er sich vor Minuten noch gefürchtet, sich zu verkrampfen. Nichts dergleichen. Marina passte sich ihm mühelos an. Als Tanzpartnerin war sie kaum zu spüren – als Frau umso mehr. Zum ersten Mal fühlte er ihre schmalen Hände an seinem Körper, durfte auch er sie berühren. Er atmete ganz aus der Nähe ihren Duft, von dem er geglaubt hatte, dass er seine Sinne in einen regelrechten Rausch versetzen würde. Nein – er empfand ihn nur als angenehm, und er trug lediglich zu seiner heiteren Gelöstheit bei.
„Sie tanzen hervorragend“, sagte er und führte dabei seinen Mund ganz dicht an ihr Ohr.
„Danke. Du aber auch!“, lachte sie zurück, das Du dabei betonend.
„Entschuldigung – an das Du muss ich mich erst gewöhnen.“
Seine Heiterkeit bekam einen Dämpfer, als er daran dachte‚ dass eine solche Gewöhnungsphase vielleicht mehr Zeit in Anspruch nehmen könnte, als ihnen überhaupt verblieb. Plötzlich war ihm, als würde sich ein Rollstuhl zwischen sie drängen, sie zwingen, einander loszulassen. Hatte Marina zur gleichen Zeit eine ähnliche Vision?
In der nächsten Runde spürte er Unruhe in ihr aufkommen. Das übertrug sich auch auf die Bewegungen, die immer mehr von ihrer fließenden Leichtigkeit verloren. Die letzten Takte absolvierten beide reichlich verkrampft.
Als sie zum Tisch zurückkehrten, saß da immer noch niemand.
„Donnerwetter, die beiden haben aber eine Kondition“, staunte Marina und meinte damit den müden Friedhelm und die dominante Elvira.
„Na ja – je oller, je doller“, schmunzelte Karsten und schob Marinas Stuhl zurecht.
„Na ja – so wahnsinnig viel trennt uns ja auch nicht mehr von diesem Alter“, dämpfte sie ihn.
Er nickte und deklamierte: „Darum nutze den Tag, es könnte …“
„Och nöh, nicht diesen abgedroschenen Spruch“, maulte sie und führte ihr Glas an den Mund.
Auch er nuckelte am Trinkhalm.
„Wo er nur bleibt?“
In ihren Augen las er Unruhe.
„Vielleicht ist das Sonnendeck so eine Art Ersatz für seinen Lieblingsberg?“
„Er hat Dir davon erzählt?“ Sie zog die Stirn in leichte Falten. „Er hat sich verändert“, sagte sie dann, und es war als spräche sie mit sich selbst. „Ich habe stets seine Abgeklärtheit bewundert – eine innere Ruhe, aus der er seine Kraft schöpfte. In letzter Zeit spüre ich immer öfter eine Nervosität bei ihm, die ich bisher nicht kannte.“
„Du liebst ihn sehr, nicht wahr?“
Sie schaute Karsten an und ihr Blick war für ihn wieder einmal nicht zu deuten.
„Wir gehören zusammen“, sagte sie schließlich und senkte die Augen ins Glas. „Zwischen uns herrscht eine wunderbare Harmonie. Ich weiß nicht, warum sie jetzt aus dem Gleichgewicht zu geraten droht.“
Und als Karsten schwieg und sie nur fragend anschaute, fuhr sie fort: „Ich fürchte, es hängt mit meinem Ex-Mann zusammen. Er wird bald aus der Haft entlassen und Thomas hat wohl Angst um mich. Er ist verzweifelt, weil er glaubt, mich im Ernstfall vor meinem Ex nicht beschützen zu können. Immer wieder spricht er dieses Thema an. Erst vor einigen Tagen hat er gerufen: ‚Marina. Wie soll ich dich schützen – hier an dieses Scheiß-Vehikel gefesselt!‘ Dabei hat er verzweifelt mit beiden Händen auf die Lehnen des Rollstuhles eingeschlagen.
Sie schwieg, und Karsten sah, wie ihre Hände fahrig über das Tischtuch wischten.
„Ich muss zu ihm!“, sagte sie plötzlich und sprang abrupt auf.
Karsten hielt sie an einer Hand fest, stand aber ebenfalls auf.
„Ich begleite dich. Wer weiß, vielleicht steckt er irgendwo fest.“
War da Dankbarkeit in ihren Augen, als sie ihm zunickte?

Draußen empfing sie eine frische Brise. Die sonnig warmen Tage konnten nicht darüber hinweg täuschen, dass der Herbst bereits im Hintergrund lauerte.
„Er wird sich verkühlen!“
In ihrer Stimme schwang echte Besorgnis. Schon eilte sie die schmale Treppe zum Sonnendeck hinauf, und er hatte Mühe ihr zu folgen. Oben angekommen, blickte sie suchend um sich.
„Wir müssen zum Vorschiff“, erklärte Karsten und ging voraus. Dann erkannte er die sich in der Dunkelheit schwach abhebenden Umrisse des Rollstuhles.
„Was habe ich gesagt, er genießt noch immer die Abendluft“, lachte Karsten.
Marina antwortete nicht, sondern beschleunigte ihre Schritte. Schon waren sie soweit heran, dass er sie hören musste.
„Heh Tom!“, rief ihn Marina an. „Du willst dir wohl eine Lungenentzündung holen? Nun komm aber. Ich werde dich…!“ Sie stockte unvermittelt und plötzlich ein gellender Aufschrei: „Thomas!“ Und noch einmal: "Thomas!"
Karsten war neben sie getreten, schaute verwirrt auf die kleine Frau, die immer noch schrie und jetzt nach vorn stürzte, vor dem Rollstuhl auf die Knie brach und das dunkle Gefährt mit den Armen umschlang. Karsten durchlief es eiskalt. Er fühlte sich starr werden.
„Oh nein“, stöhnte er.
Der Rollstuhl war leer.
 

Ralph Ronneberger

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Der glückliche Thomas


Das wenige Licht, das durch die bunten Scheiben sickerte, reichte gerade aus, um das Kirchenschiff in ein angenehmes Halbdunkel zu tauchen. Der Reiseleiter hatte seine Ausführungen beendet, und nun strebte die Gruppe dem Ausgang zu.
Karsten Beck zwängte sich durch zwei Bankreihen, hinüber zum Mittelgang. Als er seinen bis dahin im Chorgewölbe weilenden Blick nach vorn richtete, gewahrte er keine drei Schritte vor sich das helle T-Shirt.
Marina!
Automatisch beschleunigte er seine Schritte und befand sich unversehens so dicht hinter der Frau, dass er nur den Arm hätte ausstrecken müssen, um ihre schmalen Schultern zu berühren. Zu spät bemerkte er, dass sie abrupt stehen geblieben war und wäre fast aufgelaufen. Verwirrt wollte er den Rückwärtsgang einlegen, als sie unerwartet beide Arme nach hinten warf. Schon fühlte er ihre Hände auf seinen Hüften. Gleichzeitig trat sie einen halben Schritt zurück. Irgendwo zwischen Brust und Bauch spürte er ihre kantigen Schulterblätter.
„Oh!“, machte er. Und noch einmal: “Oh!“
Sie warf den Kopf nach hinten, und er sah ein undefinierbares Lächeln um ihre Lippen spielen. Das war so schnell gegangen, dass nicht mehr als ein Atemzug dazwischen lag. Und ehe er ein drittes Mal „Oh!“ sagen konnte, drehte sie sich herum. Ihre Arme lagen jetzt in seinem Nacken. Ganz nahe kam ihr Antlitz. Verwirrt suchte er in den grau-blauen und jetzt ganz dunkel gewordenen Augen nach einer Erklärung. Augen, deren Blicke er bereits seit drei Tagen vergeblich zu deuten versuchte. Doch schon schoben sich ihre zart gefältelten Lider über die Pupillen. Dafür öffneten sich die dezent geschminkten Lippen. Durfte er diese unerwartete Einladung annehmen? Das berauschende Weich ihres Mundes enthob ihn der Antwort. Ihr Kuss war von einer Zärtlichkeit, die ihm bis in die Haarwurzeln drang und einen kaum zu beschreibenden Jubel in ihm auslöste. Als sich ihre Lippen voneinander lösten, hätte er vor Glück schreien mögen, doch es kam nur ein geflüstertes „Endlich!“ heraus.
„Ja, endlich!“, hauchte sie zurück. Sie schien noch etwas hinzusetzen zu wollen, doch da trat plötzlich Erschrecken in ihren Blick.
„Unerhört!“, kreischte eine Altweiberstimme und sofort fielen noch weitere ein. Die komplette Reisegruppe kam mit vor Entrüstung verzerrten Gesichtern und wild fuchtelnden Armen durch die Bankreihen auf das Paar zu gestürzt. Karsten legte seine Arme schützend um Marina, vermochte aber nicht zu verhindern, dass ihr eine schwere Handtasche zwischen die Schulterblätter fuhr. Im gleichen Moment traf ihn ein Regenschirm am Hinterkopf. Und nun prasselte es Schläge von allen Seiten.
„Der Mann wartet ahnungslos draußen im Rollstuhl und das Flittchen wirft sich diesem Lustgreis an den Hals!“
„Und das in diesem Alter – ein Skandal!“
Karsten wollte sich wehren, der rasenden Meute entgegentreten, aber er brachte keinen Laut über die Lippen. Er vermochte nicht einmal die Arme zu heben, um sich vor den Angriffen zu schützen. Beide waren sie längst im Tumult untergegangen.
Doch mit einem Mal wurde es still. Die Menschentraube löste sich buchstäblich in Luft auf, und mit ihr die Wände der Kirche. Auch Marina war verschwunden. Um ihn herum nur ein sanftes Rauschen und das gedämpfte Wummern der Schiffsdiesel.
Allmählich kam Karsten zu sich und öffnete die Augen. Durch einen Spalt zwischen den schweren Fenstervorhängen drangen die Strahlen der Abendsonne. Er richtete sich auf und setzte sich auf die Bettkante.
„Nur ein scheußlicher Traum!“, dachte er und fühlte sich erlöst.
Doch da bemerkte er, wie seine Erleichterung von einem zunehmenden Bedauern verdrängt wurde. Marina hatte ihn geküsst. War die Sehnsucht danach in ihm so übermächtig geworden, dass er sie bereits im Traum zu erfüllen suchte?

Er glaubte, diesen Kuss noch zu spüren, als er bereits unter der Dusche stand und sich bemühte den Traum aus dem Kopf zu spülen. Doch der beherrschte ihn noch, als er, in feinen Zwirn gehüllt, die Treppe vom Haupt- zum Promenadendeck hinauf stieg. Am Eingang zum Speisesaal verhielt er den Schritt und schaute prüfend in den dort angebrachten Spiegel. War ihm anzusehen, wie sehr ihn dieser Traum noch immer beschäftigte? Er war sich nicht sicher.
Möglichst lässig, eine Hand in der Hosentasche vergraben, durchmaß Karsten den Speisesaal. Geschickt umging er die am Salatbuffet kämpfende Menschentraube und versuchte jenen auszuweichen, die sich mit völlig überladenen Tellern auf dem Siegeszug zu ihren Plätzen befanden. Ganz gelang ihm das nicht, denn plötzlich zischte es neben ihm: „Können sie nicht aufpassen?!“
Er sah eine aufgerüschte Mittsechzigerin, die sich eine Olive aus dem Ausschnitt angelte.
‚Geschieht dir recht‘, dachte Karsten, denn er hatte in ihr diejenige erkannt, die Marina so brutal die Handtasche ins Kreuz gepfeffert hatte.
Marina!
Dort saß sie. Sie und ihr Mann hatten am Sechsertisch die beiden Fensterplätze inne. Das Ehepaar, das außen saß, war auch schon da. Mit einem artigen „Guten Abend!“ zwängte sich Karsten auf den Stuhl, der zwischen den beiden Männern stand. Der ihm gegenüber liegende Platz blieb zwangsläufig frei. Eigentlich hätte dort Kathrin sitzen müssen. Karsten hatte diese Schiffsreise nur ihretwegen gebucht, weil er wusste, wie sie sich normalerweise darüber gefreut hätte. Doch „normalerweise“ gab es nicht mehr! Es war lediglich ein letzter Versuch gewesen, um noch einmal Kitt in die Ritzen der bröckelnden Beziehung zu drücken. Kathrin hatte dankend abgelehnt.

Fünf Jahre war es her, dass ihre Liebesbezeugungen es vermocht hatten, seine Zweifel so aufzulösen, wie es Schwefelsäure mit einem Zinkbecher vermag. Fünf Jahre Sonnenschein und dann … Nur noch dicke Wolken.
Hatte es daran gelegen, dass der berühmt-berüchtigte Zahn der Zeit deutlich an ihm zu nagen begann? Erste kleine Wehwehchen, kaum mehr zu kaschierender Bauchansatz, erste teuer überbrückte Zahnlücken und die Potenz mit allmählich sinkender Tendenz. Näherte er sich mit seinen 57 Lenzen bereits dem Verfallsdatum? In den Augen der deutlich jüngeren Kathrin schien es wohl schon erreicht.

Nun saß er hier aus lauter Trotz. Er hatte sich vorgenommen, nicht im Selbstmitleid zu ersaufen, sondern die Reise in der noch ungewohnten Rolle eines Singles zu genießen. Er wollte sein neues Dasein inmitten der um ihn herum wuselnden Ehepaare als das allein glücklich machende erfahren. Und das, was er um sich herum wahrnahm, schien ihm zum Großteil Recht zu geben.
Doch richtig glücklich fühlte er sich nicht, so sehr er sich das auch einzureden versuchte. Schuld war allein diese Frau, die ihm schräg gegenüber saß, Marina hieß und die seine Gedanken und Empfindungen bereits seit vier Tagen Achterbahn fahren ließ.
Nach seiner Trennung von Kathrin hatte er lange resümiert, was mit der Feststellung endete: „Karsten, das war es für dich. Da kommt nichts mehr.“
Von da an hatte er nichts ausgelassen, um die angenehmen Seiten des Alleinseins auszuleben und den erlittenen Verlust als Gewinn zu betrachten. Und nun?
Da saß diese Frau, die sein sorgfältig gebasteltes Kartenhaus urplötzlich zum Einsturz gebracht hatte. Innerhalb weniger Stunden hatte er sich in diese kleine, schmale Person verknallt. Wenn man ihn gefragt hätte, was ihn besonders an ihr faszinierte, wäre er wahrscheinlich eine Antwort schuldig geblieben oder hätte sich ein schlichtes „Alles“ abgerungen.
Allein ihre Blicke und ihre Mimik besaßen eine breite Palette. Mal ernsthaft prüfend, mal heiter gelöst, mal verunsichert, mal voller Selbstbewusstsein. Manchmal glaubte er sogar seine Gefühle erwidert. Aber diesem heimlichen Einverständnis folgte prompt eine freundliche Distanz. Ähnlich verhielt es sich mit der Körpersprache. Ihre Gestik verhieß Temperament, ihre Haltung kündete von Selbstsicherheit und ihr Gang besaß etwas durch und durch erotisches. Wenn er sie anschaute, fühlte er sich wie ein pubertierender Schüler, der kaum dem Unterricht folgen kann, weil seine junge und aufreizend hübsche Lehrerin nur Chaos in seinem Kopf anrichtet.
Auch jetzt, wo der Kellner den 1. Gang servierte, vermochte Karsten nur schwer seinen auffällig bewundernden Blick von Marina zu lösen. Erst als diese ihren Kopf leicht in seine Richtung wandte und er sich offen von ihr gemustert fühlte, glaubte er sich wieder einmal ertappt und versuchte, sich ganz den Speisen auf seinem Teller zu widmen. So wie sein rechter Tischnachbar, der bereits in genüssliches Schmatzen verfallen war. Es dauerte geraume Zeit, bis der alte Herr das Zischeln und die mahnenden Blicke seiner Frau Gemahlin wahrnahm und seine Kaugeräusche für kurze Zeit minimierte.
Karsten grinste in sich hinein und entdeckte aus den Augenwinkeln auch das amüsierte Lächeln, das um Marinas Mundwinkel spielte.
Der Kellner servierte den Hauptgang. Zander mit …
„Oh jeh“, hörte er Marina stöhnen. „Das ist kein Schiff, sondern eine schwimmende Maststation.“
Schon jonglierte sie die Hälfte von ihrem Fisch auf der Gabel.
„Möchtest du?“ Damit meinte sie Thomas, ihren Mann, der wie hingegossen zu Karstens Linken im Rollstuhl saß. Den massigen Oberkörper leicht nach vorn gebeugt, stocherte er lustlos auf seinem Teller herum.
„Danke, Schatz. Aber mein Appetit hält sich in Grenzen.“
Das klang schroffer, als es Karsten von dem stets ausgeglichen wirkenden und in sich ruhenden Thomas gewöhnt war.
Marina ließ die Gabel auf den Teller zurück sinken und schaute ihren Mann eindringlich an.
„Wir haben Urlaub“, sagte sie mit einem Nachdruck in der Stimme, den Karsten nicht verstand.
Er sah, wie sie beide Hände über den Tisch streckte und seine Unterarme streichelte. Für den innigen Blick, den der glückliche Tom von ihr entgegen nehmen durfte, hätte ihn Karsten erwürgen können.
Marina ließ ihre Hände noch ein wenig dort verharren, ehe sie sich wieder ihrem Fisch zuwandte, um ihn jetzt Karsten anzubieten.
„Möchten sie? Wäre doch schade drum.“
„Ja – ja, sehr gern.“
Obwohl er ihr den Teller entgegenstreckte, musste sie sich ihm etwas entgegen beugen, wobei sie ihm einen hübschen Einblick in ihr Dekolleté bot. Selbst die kleinen und nicht mehr kaschierbaren Fältchen auf der Haut über den Brustansätzen besaßen für ihn etwas Bezauberndes.
Jetzt wurde ihm der Mund staubtrocken, und er hatte bis zum Nachtisch zu tun, um diesen Zustand halbwegs zu überwinden.
„So, jetzt noch ein schönes Pfeifchen und die Welt ist komplett in Ordnung“, sagte Thomas und lehnte sich im Rollstuhl zurück.
„Wir müssen uns aber erst einen Tisch im Salon reservieren“, mahnte Marina.
„Das kannst du doch inzwischen erledigen. Am besten gleich einen Sechsertisch, oder wollen Sie nicht mitkommen?
„Doch, doch“, beeilte sich die Frau, die beim Essen ihre ganze Energie aufgewandt hatte, um ihren Mann anzuzischen, zu versichern. „Wir wollen auch rüber in den Salon – nicht wahr Friedhelm?“
Der Alte, der schon eine Weile in den Anblick der vorbeiziehenden Lichter am Flussufer versunken war, schrak auf und nickte dann beflissen.
„Schaffst du das allein?“, fragte Marina und schaute ein wenig skeptisch.
Statt zu antworten, legte Thomas seine schwere Hand auf Karstens Schulter. Der zuckte leicht zusammen. Es war das erste Mal, dass Marinas Mann ihn so vertraulich behandelte.
„Sie gehen doch bestimmt auch erst noch eine Rauchen“, hörte er ihn sagen. Gleichzeitig erhöhte die Pranke des Rollstuhlfahrers den Druck.
Karsten nickte. „Na klar“, krächzte er, denn sein Mund war schon wieder trocken. Nur wusste er diesmal nicht warum.

Die Gesellschaft erhob sich von ihren Plätzen. Karsten klemmte sich hinter den Rollstuhl und folgte dem glücklichen Tom zum Ausgang des Speisesaales. Bei der Planung dieses modernen Flusskreuzfahrtschiffes hatte man auch an die Behinderten gedacht. Ohne Mühe gelangten sie zum Fahrstuhl, der sie zum Sonnendeck hinauf brachte. Jetzt handelte es sich allerdings mehr um ein Monddeck, denn der treue Erdtrabant hing bereits in voller Größe über den Bergen der Wachau und ließ das Wasser im Pool silbern glitzern.
„Ist das nicht herrlich?“, fragte Thomas und ließ sich zum Vorschiff rollen.
Direkt an der Reling stellte er die Bremsen fest. Während Karsten in den Taschen seines Jacketts nach Zigaretten und Feuerzeug suchte, stopfte Thomas seine teure Markenpfeife und drückte den Tabak dabei mit bedächtiger Sorgfalt fest. Fast gleichzeitig flammten die Feuerzeuge auf. Während Thomas genüsslich an der Pfeife sog und dem Mond dicke Wolken ins Gesicht blies, nuckelte Karsten nervös an seiner Zigarette und schaute, über die Reling gebeugt, in das dunkel dahinschießende Wasser.
„Ist das nicht ein herrlicher Spätsommerabend?“ Thomas drehte den Kopf in verschiedene Richtungen und ließ die Nasenflügel beben. „Es gab Zeiten, da bin ich an solchen Abenden auf meinen Lieblingsberg gestiegen, nur um dem Universum ein Stück näher zu sein – mich eins zu fühlen mit Milliarden von Sternen…“
Übergangslos begann er zu deklamieren.

„Milliarden Sternenpixel!
Feine Lichtnadeln
perforieren die Seele,
machen sie durchlässig.
Lassen das Falsche entweichen.
Mein Schmerz irrt
durch die Unendlichkeit
hin zur Milchstraße,
dieser glitzernden Spur
des Vergessens.
Von Druck des Sehnens befreit
Ich
Leer und kalt
harr ich der Sonne.“


Thomas schwieg. Karsten drehte verlegen die Zigarette in den Händen.
‚Was soll das? Ich habe kein Wort verstanden‘, dachte er und laut sagte er: „Das ist hübsch.“
„Das habe ich vor sehr langer Zeit geschrieben“, sagte Thomas, wieder einen normalen Tonfall anschlagend. „Oben auf dem Hörselberg. Das sagt Ihnen nichts?“
„Nein.“
„Wissen Sie, was ich seit meiner Behinderung am meisten vermisse? Auf diesem Berg zu stehen. Die Lichter der Stadt zu Füßen. Aber da komme ich nicht mehr hoch, und Füße habe ich auch keine mehr.“
Einen Moment herrschte Schweigen zwischen den Männern. Thomas schien mit seinen Gedanken weit weg zu sein. Karsten fühlte sich peinlich berührt. Verlegen drückte er seine Zigarette aus.
„Seit wann haben sie das schon?“, fragte er schließlich. „Ich meine, wie ist es passiert? Ein Unfall?“
Thomas lachte auf. Bitterkeit lag in diesem Lachen.
„Es sollte wie ein Unfall aussehen. Es passierte ausgerechnet auf einer Flusskreuzfahrt. An Bord hatte ich gerade die Frau meines Lebens gefunden. Ihr Mann konnte das wohl nicht ertragen. Er hat mich von der Kaimauer gestoßen, als gerade ein Schiff anlegte. Ich fiel nicht komplett in den sich schließenden Spalt zwischen Mauer und Schiffsrumpf. Jemand kam mir geistesgegenwärtig zu Hilfe. Nur die Beine wurden zerquetscht. Mordversuch aus Eifersucht! Bis dahin hatte ich gedacht, das gibt es nur in schlechten Filmen.“
Tom lachte wieder ein bitter-dunkles Lachen. Dann schaute er zu Karsten, und der fühlte trotz der Dunkelheit den eindringlichen Blick auf sich ruhen.
„Eifersucht ist etwas völlig Überflüssiges. Sie ändert ja doch nichts. Wenn die Uhr zwischen zwei Liebenden abgelaufen ist, sollten es beide akzeptieren. Was hat es ihm denn eingebracht? Er hat nicht nur die Frau, sondern auch für viele Jahre seine Freiheit verloren. War es das wert? Ich habe nur meine Beine eingebüßt, aber die wunderbarste Frau der Welt gewonnen. Fast müsste ich ihm dankbar sein. Dadurch, dass ich meinen Beruf nicht mehr ausüben konnte, besaß ich plötzlich sehr viel Zeit, die ich mit ihr teilen durfte und die ich obendrein für etwas nutzen konnte, das ich schon immer wollte. Mit zwei gesunden Beinen wäre ich nie Schriftsteller geworden.“
Er machte eine Pause und stieß eine dicke Qualmwolke aus.
„Ich durfte mein Leben von da an mit einer Frau verbringen, die mir unglaublich viel bedeutet und – was noch viel wichtiger ist – der ich genauso viel bedeute. Obendrein vermochte ich in meinen Büchern genau das zu vermitteln, das schon lange in mir brannte. Hätte ich mehr erwarten dürfen?“
Da sich der Mond gerade hinter einer dicken Wolke versteckt hielt, vermochte Karsten nur die Silhouette von Thomas auszumachen. Aber er wusste, dass der Mann mit der Pfeife auf eine Antwort wartete.
„Ich weiß nicht“, gab er zu. „Ich bin kein Schriftsteller.“
‚Die Ticken ja wohl auch ganz anders als unsereiner‘, setzte er in Gedanken hinzu.
„Aber die Faszination, die eine Frau in uns auszulösen vermag, dürfte ihnen doch nicht fremd sein.“
War da ein lauernder Unterton? Ausgelöst durch Karstens schlecht verborgene Blicke, mit denen er Marina förmlich in sich aufzusaugen suchte? Was wollte dieser Thomas von ihm? Er glaubte plötzlich nicht mehr an einen Zufall, der sie beide hier auf das Sonnendeck verschlagen hatte.
Während er ein „da haben sie natürlich Recht“ nuschelte, suchte er in einem Anfall von Nervosität wieder nach den Zigaretten. Wie hatte Thomas gesagt? „Eifersucht ist etwas völlig Überflüssiges.“ Wollte er jetzt seine eigenen Worte Lügen strafen?
Der glückliche Thomas nuckelte an seiner Pfeife und schien Karsten gar nicht zu beachten.

Vom Salon drang plötzlich Musik zu ihnen herauf. Die Tanzveranstaltung hatte begonnen.
Karsten atmete auf und meinte dann: „Wir sollten wieder nach unten gehen.“
„Tun sie das“, kam es ruhig zurück. Ich möchte hier noch ein wenig allein sein.“
„Und sich einen neuen Roman ausdenken?“, fragte Karsten, der froh war, dass sich das Gespräch sang- und klanglos aufzulösen schien. Die erwartet peinlichen Fragen waren ausgeblieben.
„Nein“, sagte Thomas. „Es wird keinen neuen Roman mehr geben. Da drin ist nichts mehr.“
Er klopfte sich mit der freien Hand zuerst an den Kopf und dann an die Brust. „Was ich zu sagen hatte, ist gesagt. Jetzt bin ich leergebrannt, genauso wie es diese Pfeife bald sein wird.“
„Man kann sie neu stopfen“, sagte Karsten.
„Stimmt, aber genau das unterscheidet mich von diesem Stück Holz.“
Karsten wusste mal wieder keine Antwort. Verlegen von einem Bein auf das andere tretend, stand er neben dem Rollstuhl.
„Nun hauen sie doch endlich ab“, brummte Thomas, und aus seiner Stimme klang Gutmütigkeit. Der Tonfall ähnelte dem eines Vaters, der seinen Sohn zu dessen ersten Rendezvous ermuntert.
„Na dann, bis gleich“, murmelte Karsten und trollte sich zur schmalen Treppe, die zum Promenadendeck führte. Er hatte sie gerade erreicht, als er ein lautes Halt in seinem Rücken vernahm.
Verdutzt drehte sich Karsten um.
„Können Sie mir einen Gefallen tun?“, hörte er Thomas sagen.
„Ja gern. Worum handelt es sich denn?“
„Können sie tanzen?“
„Na ja – so leidlich.“
„Bitte tanzen sie mit meiner Frau. Sie hat es so lange nicht mehr getan. Sie würden mir und vor allem ihr eine große Freude damit bereiten.“
‚Und am allermeisten mir‘, dachte Karsten und laut rief er: „Aber gern!“
Dann nahm er die steilen Stufen nach unten.

„Na endlich! Ich habe mir schon Sorgen gemacht“, wurde er im Salon von Marina empfangen. Sie saß allein am Tisch, denn der gute Friedhelm hatte gerade mit seiner dominanten Elvira einen langsamen Walzer durchzustehen.
„Darf ich?“
Karsten wartete ihre Antwort nicht ab, sondern nahm neben ihr Platz.
„Wo ist mein Mann?“
„Er wollte noch ein wenig die Abendluft genießen.“
„Aha“, sagte sie nur und schob ihm ein volles Cocktailglas zu. „Trinken wir – bevor er noch wärmer wird. Was haben Sie eigentlich so lange gemacht, dort oben?“
„Wir haben uns unterhalten. Ihr Mann hat mir auch von der schlimmen Sache erzählt. Es tut mir sehr leid, was mit ihm passiert ist.“
Marina hatte das Glas wieder zurück gestellt und schaute nachdenklich zur Tanzfläche.
„Das ist merkwürdig – früher hat er kaum die Zähne auseinander bekommen, wenn er auf dieses Ereignis angesprochen wurde. Seit einiger Zeit scheint er aber jegliche Hemmung verloren zu haben. Schließlich sind Sie doch ein wildfremder Mensch für ihn.“
„Wildfremd?“, fragte Karsten mit einem Unterton, der sie zwang, ihn anzuschauen. Ihren Blick und das feine Lächeln vermochte er allerdings nicht zu deuten.
„Sie haben Recht“, sagte sie schließlich, griff wieder zum Cocktail und hob das Glas zur Kinnspitze. Und nach einem kurzen Zögern: „Was hindert uns eigentlich daran, Du zueinander zu sagen?“
„Nichts“, kratzte es aus ihm heraus.
Das Zusammenstoßen der Gläser und der flüchtige Kuss verschwammen im Dunst seiner freudigen Erregung.
Die Frontfrau der Bordkapelle intonierte gerade Andrea Bergs Dauerbrenner:
„Du hast mich tausendmal belogen, du hast mich tausendmal verletzt
Mindestens hundert Kehlen fielen ein. Mehr oder weniger gesangstalentiert, schleuderten sich die Tanzpaare diese Worte entgegen. Nicht wenige unter ihnen mochten damit voll ins Schwarze trafen.
„Tanzen wir?“
Karsten wunderte sich, wie einfach und mühelos ihm diese Aufforderung über die Lippen kam.
„Gern.“
Schon sprang sie auf und lief zur Tanzfläche. Geschickt wuselte sie durch die Tanzenden hindurch, bis sie einen freien Fleck gefunden hatte. Karsten vermochte ihr kaum zu folgen.
Und dann hatte er sie im Arm. Endlich! Und was ihn am meisten überraschte – er empfand es als etwas Selbstverständliches. Alles ging wie von selbst. Wie hatte er sich vor Minuten noch gefürchtet, sich zu verkrampfen. Nichts dergleichen. Marina passte sich ihm mühelos an. Als Tanzpartnerin war sie kaum zu spüren – als Frau umso mehr. Zum ersten Mal fühlte er ihre schmalen Hände an seinem Körper, durfte auch er sie berühren. Er atmete ganz aus der Nähe ihren Duft, von dem er geglaubt hatte, dass er seine Sinne in einen regelrechten Rausch versetzen würde. Nein – er empfand ihn nur als angenehm, und er trug lediglich zu seiner heiteren Gelöstheit bei.
„Sie tanzen hervorragend“, sagte er und führte dabei seinen Mund ganz dicht an ihr Ohr.
„Danke. Du aber auch!“, lachte sie zurück, das Du dabei betonend.
„Entschuldigung – an das Du muss ich mich erst gewöhnen.“
Seine Heiterkeit bekam einen Dämpfer, als er daran dachte‚ dass eine solche Gewöhnungsphase vielleicht mehr Zeit in Anspruch nehmen könnte, als ihnen überhaupt verblieb. Plötzlich war ihm, als würde sich ein Rollstuhl zwischen sie drängen, sie zwingen, einander loszulassen. Hatte Marina zur gleichen Zeit eine ähnliche Vision?
In der nächsten Runde spürte er Unruhe in ihr aufkommen. Das übertrug sich auch auf die Bewegungen, die immer mehr von ihrer fließenden Leichtigkeit verloren. Die letzten Takte absolvierten beide reichlich verkrampft.
Als sie zum Tisch zurückkehrten, saß da immer noch niemand.
„Donnerwetter, die beiden haben aber eine Kondition“, staunte Marina und meinte damit den müden Friedhelm und die dominante Elvira.
„Na ja – je oller, je doller“, schmunzelte Karsten und schob Marinas Stuhl zurecht.
„Na ja – so wahnsinnig viel trennt uns ja auch nicht mehr von diesem Alter“, dämpfte sie ihn.
Er nickte und deklamierte: „Darum nutze den Tag, es könnte …“
„Och nöh, nicht diesen abgedroschenen Spruch“, maulte sie und führte ihr Glas an den Mund.
Auch er nuckelte am Trinkhalm.
„Wo er nur bleibt?“
In ihren Augen las er Unruhe.
„Vielleicht ist das Sonnendeck so eine Art Ersatz für seinen Lieblingsberg?“
„Er hat Dir davon erzählt?“ Sie zog die Stirn in leichte Falten. „Er hat sich verändert“, sagte sie dann, und es war als spräche sie mit sich selbst. „Ich habe stets seine Abgeklärtheit bewundert – eine innere Ruhe, aus der er seine Kraft schöpfte. In letzter Zeit spüre ich immer öfter eine Nervosität bei ihm, die ich bisher nicht kannte.“
„Du liebst ihn sehr, nicht wahr?“
Sie schaute Karsten an und ihr Blick war für ihn wieder einmal nicht zu deuten.
„Wir gehören zusammen“, sagte sie schließlich und senkte die Augen ins Glas. „Zwischen uns herrscht eine wunderbare Harmonie. Ich weiß nicht, warum sie jetzt aus dem Gleichgewicht zu geraten droht.“
Und als Karsten schwieg und sie nur fragend anschaute, fuhr sie fort: „Ich fürchte, es hängt mit meinem Ex-Mann zusammen. Er wird bald aus der Haft entlassen und Thomas hat wohl Angst um mich. Er ist verzweifelt, weil er glaubt, mich im Ernstfall vor meinem Ex nicht beschützen zu können. Immer wieder spricht er dieses Thema an. Erst vor einigen Tagen hat er gerufen: ‚Marina. Wie soll ich dich schützen – hier an dieses Scheiß-Vehikel gefesselt!‘ Dabei hat er verzweifelt mit beiden Händen auf die Lehnen des Rollstuhles eingeschlagen.
Sie schwieg, und Karsten sah, wie ihre Hände fahrig über das Tischtuch wischten.
„Ich muss zu ihm!“, sagte sie plötzlich und sprang abrupt auf.
Karsten hielt sie an einer Hand fest, stand aber ebenfalls auf.
„Ich begleite dich. Wer weiß, vielleicht steckt er irgendwo fest.“
War da Dankbarkeit in ihren Augen, als sie ihm zunickte?

Draußen empfing sie eine frische Brise. Die sonnig warmen Tage konnten nicht darüber hinweg täuschen, dass der Herbst bereits im Hintergrund lauerte.
„Er wird sich verkühlen!“
In ihrer Stimme schwang echte Besorgnis. Schon eilte sie die schmale Treppe zum Sonnendeck hinauf, und er hatte Mühe ihr zu folgen. Oben angekommen, blickte sie suchend um sich.
„Wir müssen zum Vorschiff“, erklärte Karsten und ging voraus. Dann erkannte er die sich in der Dunkelheit schwach abhebenden Umrisse des Rollstuhles.
„Was habe ich gesagt, er genießt noch immer die Abendluft“, lachte Karsten.
Marina antwortete nicht, sondern beschleunigte ihre Schritte. Schon waren sie soweit heran, dass er sie hören musste.
„Heh Tom!“, rief ihn Marina an. „Du willst dir wohl eine Lungenentzündung holen? Nun komm aber. Ich werde dich…!“ Sie stockte unvermittelt und plötzlich ein gellender Aufschrei: „Thomas!“ Und noch einmal: "Thomas!"
Karsten war neben sie getreten, schaute verwirrt auf die kleine Frau, die immer noch schrie und jetzt nach vorn stürzte, vor dem Rollstuhl auf die Knie brach und das dunkle Gefährt mit den Armen umschlang. Karsten durchlief es eiskalt. Er fühlte sich starr werden.
„Oh nein“, stöhnte er.
Der Rollstuhl war leer.
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Frank,

erstmal besten Dank dafür, dass du dich so intensiv mit meiner Erzählung auseinander gesetzt hast.


Eine fein gewobene, unaufgeregte Geschichte über Beziehungen und deren Verwicklungen schilderst Du uns.
Diese Aussage ist schon mal sehr erfreulich für mich. Was dann als dein Gesamteindruck von dir vermittelt wird, hat mich sogar aufatmen lassen.

Erzählt wird die Geschichte in Form einer Suche. Die Suche Karstens, nach einer neuen Freiheit, die er gerne mit Marina teilen möchte, die Suche Thomas, nach einem Nachfolger für sich, der Marina besser (effektiver) beschützen kann.
Aufatmen deshalb, weil bei einer Lesung sofort die Frage nach einer Fortsetzung hochkam, denn schließlich handele es sich ja hier um einen Kriminalfall. Ich musste erklären, warum und weshalb der Thomas Selbstmord begangen hatte. Und nichts ist schlimmer, als wenn man seinen Text erklären muss. Dass weder du noch Orlando einen ungelösten Kriminalfall hinter der Geschichte sehen, hat mich beruhigt.

Nachdenklich hat mich folgende Aussage gemacht:

Der Titel:
„Der glückliche Thomas“ insistiert, dass Thomas damit zufrieden ist, einen Nachfolger für sich gefunden zu haben und er nun beruhigt in den Tod gehen könnte.
Als Leser wird mir noch nicht ganz deutlich, warum ausgerechnet Karsten dieser „Jemand“ sein sollte. Er wird als zu durchschnittlich gezeichnet, nichts, was ihn aus der Masse hervorhebt. Es wäre etwas logischer, wenn Karsten zumindest Groß gewachsen wäre, von kräftigerer Statur, sportlichere Gestalt – irgendetwas, was ihn „prädestiniert“.
Den Thomas glücklich darüber zu sehen, dass er einen verlässlichen Nachfolger bekommt, lag eigentlich nicht in meiner Absicht. In meinen Augen sollte Karsten diesen Thomas als glücklich betrachten, weil er diese Frau besitzt, die für ihn unerreichbar zu sein scheint. Aber du hast Recht. Der Titel suggeriert eher das, was du anführst. Ist mir selbst noch gar nicht aufgefallen. Ich glaube, ich muss über einen anderen Titel nachdenken - so richtig glücklich war ich ohnehin nie darüber. Dass Thomas nach einem - ich nenne es mal Superkerl - für seine Frau sucht, wäre die logische Folge deines Gedankens. Och - ist das kompliziert.
Und dann kommt noch Orlando und will mir einen ganzen Absatz ausreden, den ich für unabdingbar halte, halten würde, hielt. Aber darüber muss ich noch nachdenken.

Nun zu deiner "Erbsenzählerei":

Ich habe mir das ausgedruckt und kam auf dreieinhalb Seiten! So etwas kann nur passieren, wenn Argusaugen auf Schlampigkeit treffen. Ja, anders kann ich die vielen Tipp- und Flüchtigkeitsfehler nicht begründen. Vielen Dank für deine Mühe. Ich habe alles (hoffentlich) komplett geändert.

Drei kleine Anmerkungen dazu:

1. Bei dem Dekolleté habe ich natürlich den Duden bemüht. Die vorstehende Variante wird empfohlen. Die andere ist möglich. Ich habe mich für deinen Hinweis entschieden. Das Heißgetränk hat mich restlos überzeugt.

2. Aus "gefälteten" Lidern habe ich, deinem Hinweis folgend, "gefältelten" gemacht. Ein wenig sauer war ich schon, dieses Wort im Duden zu finden, hielt ich doch meine Variante für eine Wortschöpfung.

3. Den Zeitfehler habe ich nicht behoben, denn ich bin der Meinung, dass der in der Gegenwart stehende Halbsatz einen zeitlosen Umstand schildert. Vielleicht habe unrecht.

Nochmals allerbesten Dank. Das nenn ich mal ein tolles Lektorat. So macht das mitunter triste Lupenleben richtig Spaß.

Gruß Ralph
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Der glückliche Thomas


Das wenige Licht, das durch die bunten Scheiben sickerte, reichte gerade aus, um das Kirchenschiff in ein angenehmes Halbdunkel zu tauchen. Der Reiseleiter hatte seine Ausführungen beendet, und nun strebte die Gruppe dem Ausgang zu.
Karsten Beck zwängte sich durch zwei Bankreihen, hinüber zum Mittelgang. Als er seinen bis dahin im Chorgewölbe weilenden Blick nach vorn richtete, gewahrte er keine drei Schritte vor sich das helle T-Shirt.
Marina!
Automatisch beschleunigte er seine Schritte und befand sich unversehens so dicht hinter der Frau, dass er nur den Arm hätte ausstrecken müssen, um ihre schmalen Schultern zu berühren. Zu spät bemerkte er, dass sie abrupt stehen geblieben war und wäre fast aufgelaufen. Verwirrt wollte er den Rückwärtsgang einlegen, als sie unerwartet beide Arme nach hinten warf. Schon fühlte er ihre Hände auf seinen Hüften. Gleichzeitig trat sie einen halben Schritt zurück. Irgendwo zwischen Brust und Bauch spürte er ihre kantigen Schulterblätter.
„Oh!“, machte er. Und noch einmal: “Oh!“
Sie warf den Kopf nach hinten, und er sah ein undefinierbares Lächeln um ihre Lippen spielen. Das war so schnell gegangen, dass nicht mehr als ein Atemzug dazwischen lag. Und ehe er ein drittes Mal „Oh!“ sagen konnte, drehte sie sich herum. Ihre Arme lagen jetzt in seinem Nacken. Ganz nahe kam ihr Antlitz. Verwirrt suchte er in den grau-blauen und jetzt ganz dunkel gewordenen Augen nach einer Erklärung. Augen, deren Blicke er bereits seit drei Tagen vergeblich zu deuten versuchte. Doch schon schoben sich ihre zart gefältelten Lider über die Pupillen. Dafür öffneten sich die dezent geschminkten Lippen. Durfte er diese unerwartete Einladung annehmen? Das berauschende Weich ihres Mundes enthob ihn der Antwort. Ihr Kuss war von einer Zärtlichkeit, die ihm bis in die Haarwurzeln drang und einen kaum zu beschreibenden Jubel in ihm auslöste. Als sich ihre Lippen voneinander lösten, hätte er vor Glück schreien mögen, doch es kam nur ein geflüstertes „Endlich!“ heraus.
„Ja, endlich!“, hauchte sie zurück. Sie schien noch etwas hinzusetzen zu wollen, doch da trat plötzlich Erschrecken in ihren Blick.
„Unerhört!“, kreischte eine Altweiberstimme und sofort fielen noch weitere ein. Die komplette Reisegruppe kam mit vor Entrüstung verzerrten Gesichtern und wild fuchtelnden Armen durch die Bankreihen auf das Paar zu gestürzt. Karsten legte seine Arme schützend um Marina, vermochte aber nicht zu verhindern, dass ihr eine schwere Handtasche zwischen die Schulterblätter fuhr. Im gleichen Moment traf ihn ein Regenschirm am Hinterkopf. Und nun prasselte es Schläge von allen Seiten.
„Der Mann wartet ahnungslos draußen im Rollstuhl und das Flittchen wirft sich diesem Lustgreis an den Hals!“
„Und das in diesem Alter – ein Skandal!“
Karsten wollte sich wehren, der rasenden Meute entgegentreten, aber er brachte keinen Laut über die Lippen. Er vermochte nicht einmal die Arme zu heben, um sich vor den Angriffen zu schützen. Beide waren sie längst im Tumult untergegangen.
Doch mit einem Mal wurde es still. Die Menschentraube löste sich buchstäblich in Luft auf, und mit ihr die Wände der Kirche. Auch Marina war verschwunden. Um ihn herum nur ein sanftes Rauschen und das gedämpfte Wummern der Schiffsdiesel.
Allmählich kam Karsten zu sich und öffnete die Augen. Durch einen Spalt zwischen den schweren Fenstervorhängen drangen die Strahlen der Abendsonne. Er richtete sich auf und setzte sich auf die Bettkante.
„Nur ein scheußlicher Traum!“, dachte er und fühlte sich erlöst.
Doch da bemerkte er, wie seine Erleichterung von einem zunehmenden Bedauern verdrängt wurde. Marina hatte ihn geküsst. War die Sehnsucht danach in ihm so übermächtig geworden, dass er sie bereits im Traum zu erfüllen suchte?

Er glaubte, diesen Kuss noch zu spüren, als er bereits unter der Dusche stand und sich bemühte den Traum aus dem Kopf zu spülen. Doch der beherrschte ihn noch, als er, in feinen Zwirn gehüllt, die Treppe vom Haupt- zum Promenadendeck hinauf stieg. Am Eingang zum Speisesaal verhielt er den Schritt und schaute prüfend in den dort angebrachten Spiegel. War ihm anzusehen, wie sehr ihn dieser Traum noch immer beschäftigte? Er war sich nicht sicher.
Möglichst lässig, eine Hand in der Hosentasche vergraben, durchmaß Karsten den Speisesaal. Geschickt umging er die am Salatbuffet kämpfende Menschentraube und versuchte jenen auszuweichen, die sich mit völlig überladenen Tellern auf dem Siegeszug zu ihren Plätzen befanden. Ganz gelang ihm das nicht, denn plötzlich zischte es neben ihm: „Können sie nicht aufpassen?!“
Er sah eine aufgerüschte Mittsechzigerin, die sich eine Olive aus dem Ausschnitt angelte.
‚Geschieht dir recht‘, dachte Karsten, denn er hatte in ihr diejenige erkannt, die Marina so brutal die Handtasche ins Kreuz gepfeffert hatte.
Marina!
Dort saß sie. Sie und ihr Mann hatten am Sechsertisch die beiden Fensterplätze inne. Das Ehepaar, das außen saß, war auch schon da. Mit einem artigen „Guten Abend!“ zwängte sich Karsten auf den Stuhl, der zwischen den beiden Männern stand. Der ihm gegenüber liegende Platz blieb zwangsläufig frei. Eigentlich hätte dort Kathrin sitzen müssen. Karsten hatte diese Schiffsreise nur ihretwegen gebucht, weil er wusste, wie sie sich normalerweise darüber gefreut hätte. Doch „normalerweise“ gab es nicht mehr! Es war lediglich ein letzter Versuch gewesen, um noch einmal Kitt in die Ritzen der bröckelnden Beziehung zu drücken. Kathrin hatte dankend abgelehnt.

Fünf Jahre war es her, dass ihre Liebesbezeugungen es vermocht hatten, seine Zweifel so aufzulösen, wie es Schwefelsäure mit einem Zinkbecher vermag. Fünf Jahre Sonnenschein und dann … Nur noch dicke Wolken.
Hatte es daran gelegen, dass der berühmt-berüchtigte Zahn der Zeit deutlich an ihm zu nagen begann? Erste kleine Wehwehchen, kaum mehr zu kaschierender Bauchansatz, erste teuer überbrückte Zahnlücken und die Potenz mit allmählich sinkender Tendenz. Näherte er sich mit seinen 57 Lenzen bereits dem Verfallsdatum? In den Augen der deutlich jüngeren Kathrin schien es wohl schon erreicht.

Nun saß er hier aus lauter Trotz. Er hatte sich vorgenommen, nicht im Selbstmitleid zu ersaufen, sondern die Reise in der noch ungewohnten Rolle eines Singles zu genießen. Er wollte sein neues Dasein inmitten der um ihn herum wuselnden Ehepaare als das allein glücklich machende erfahren. Und das, was er um sich herum wahrnahm, schien ihm zum Großteil Recht zu geben.
Doch richtig glücklich fühlte er sich nicht, so sehr er sich das auch einzureden versuchte. Schuld war allein diese Frau, die ihm schräg gegenüber saß, Marina hieß und die seine Gedanken und Empfindungen bereits seit vier Tagen Achterbahn fahren ließ.
Nach seiner Trennung von Kathrin hatte er lange resümiert, was mit der Feststellung endete: „Karsten, das war es für dich. Da kommt nichts mehr.“
Von da an hatte er nichts ausgelassen, um die angenehmen Seiten des Alleinseins auszuleben und den erlittenen Verlust als Gewinn zu betrachten. Und nun?
Da saß diese Frau, die sein sorgfältig gebasteltes Kartenhaus urplötzlich zum Einsturz gebracht hatte. Innerhalb weniger Stunden hatte er sich in diese kleine, schmale Person verknallt. Wenn man ihn gefragt hätte, was ihn besonders an ihr faszinierte, wäre er wahrscheinlich eine Antwort schuldig geblieben oder hätte sich ein schlichtes „Alles“ abgerungen.
Allein ihre Blicke und ihre Mimik besaßen eine breite Palette. Mal ernsthaft prüfend, mal heiter gelöst, mal verunsichert, mal voller Selbstbewusstsein. Manchmal glaubte er sogar seine Gefühle erwidert. Aber diesem heimlichen Einverständnis folgte prompt eine freundliche Distanz. Ähnlich verhielt es sich mit der Körpersprache. Ihre Gestik verhieß Temperament, ihre Haltung kündete von Selbstsicherheit und ihr Gang besaß etwas durch und durch erotisches. Wenn er sie anschaute, fühlte er sich wie ein pubertierender Schüler, der kaum dem Unterricht folgen kann, weil seine junge und aufreizend hübsche Lehrerin nur Chaos in seinem Kopf anrichtet.
Auch jetzt, wo der Kellner den 1. Gang servierte, vermochte Karsten nur schwer seinen auffällig bewundernden Blick von Marina zu lösen. Erst als diese ihren Kopf leicht in seine Richtung wandte und er sich offen von ihr gemustert fühlte, glaubte er sich wieder einmal ertappt und versuchte, sich ganz den Speisen auf seinem Teller zu widmen. So wie sein rechter Tischnachbar, der bereits in genüssliches Schmatzen verfallen war. Es dauerte geraume Zeit, bis der alte Herr das Zischeln und die mahnenden Blicke seiner Frau Gemahlin wahrnahm und seine Kaugeräusche für kurze Zeit minimierte.
Karsten grinste in sich hinein und entdeckte aus den Augenwinkeln auch das amüsierte Lächeln, das um Marinas Mundwinkel spielte.
Der Kellner servierte den Hauptgang. Zander mit …
„Oh jeh“, hörte er Marina stöhnen. „Das ist kein Schiff, sondern eine schwimmende Maststation.“
Schon jonglierte sie die Hälfte von ihrem Fisch auf der Gabel.
„Möchtest du?“ Damit meinte sie Thomas, ihren Mann, der wie hingegossen zu Karstens Linken im Rollstuhl saß. Den massigen Oberkörper leicht nach vorn gebeugt, stocherte er lustlos auf seinem Teller herum.
„Danke, Schatz. Aber mein Appetit hält sich in Grenzen.“
Das klang schroffer, als es Karsten von dem stets ausgeglichen wirkenden und in sich ruhenden Thomas gewöhnt war.
Marina ließ die Gabel auf den Teller zurück sinken und schaute ihren Mann eindringlich an.
„Wir haben Urlaub“, sagte sie mit einem Nachdruck in der Stimme, den Karsten nicht verstand.
Er sah, wie sie beide Hände über den Tisch streckte und seine Unterarme streichelte. Für den innigen Blick, den der glückliche Tom von ihr entgegen nehmen durfte, hätte ihn Karsten erwürgen können.
Marina ließ ihre Hände noch ein wenig dort verharren, ehe sie sich wieder ihrem Fisch zuwandte, um ihn jetzt Karsten anzubieten.
„Möchten sie? Wäre doch schade drum.“
„Ja – ja, sehr gern.“
Obwohl er ihr den Teller entgegenstreckte, musste sie sich ihm etwas entgegen beugen, wobei sie ihm einen hübschen Einblick in ihr Dekolleté bot. Selbst die kleinen und nicht mehr kaschierbaren Fältchen auf der Haut über den Brustansätzen besaßen für ihn etwas Bezauberndes.
Jetzt wurde ihm der Mund staubtrocken, und er hatte bis zum Nachtisch zu tun, um diesen Zustand halbwegs zu überwinden.
„So, jetzt noch ein schönes Pfeifchen und die Welt ist komplett in Ordnung“, sagte Thomas und lehnte sich im Rollstuhl zurück.
„Wir müssen uns aber erst einen Tisch im Salon reservieren“, mahnte Marina.
„Das kannst du doch inzwischen erledigen. Am besten gleich einen Sechsertisch, oder wollen Sie nicht mitkommen?
„Doch, doch“, beeilte sich die Frau, die beim Essen ihre ganze Energie aufgewandt hatte, um ihren Mann anzuzischen, zu versichern. „Wir wollen auch rüber in den Salon – nicht wahr Friedhelm?“
Der Alte, der schon eine Weile in den Anblick der vorbeiziehenden Lichter am Flussufer versunken war, schrak auf und nickte dann beflissen.
„Schaffst du das allein?“, fragte Marina und schaute ein wenig skeptisch.
Statt zu antworten, legte Thomas seine schwere Hand auf Karstens Schulter. Der zuckte leicht zusammen. Es war das erste Mal, dass Marinas Mann ihn so vertraulich behandelte.
„Sie gehen doch bestimmt auch erst noch eine Rauchen“, hörte er ihn sagen. Gleichzeitig erhöhte die Pranke des Rollstuhlfahrers den Druck.
Karsten nickte. „Na klar“, krächzte er, denn sein Mund war schon wieder trocken. Nur wusste er diesmal nicht warum.

Die Gesellschaft erhob sich von ihren Plätzen. Karsten klemmte sich hinter den Rollstuhl und folgte dem glücklichen Tom zum Ausgang des Speisesaales. Bei der Planung dieses modernen Flusskreuzfahrtschiffes hatte man auch an die Behinderten gedacht. Ohne Mühe gelangten sie zum Fahrstuhl, der sie zum Sonnendeck hinauf brachte. Jetzt handelte es sich allerdings mehr um ein Monddeck, denn der treue Erdtrabant hing bereits in voller Größe über den Bergen der Wachau und ließ das Wasser im Pool silbern glitzern.
„Ist das nicht herrlich?“, fragte Thomas und ließ sich zum Vorschiff rollen.
Direkt an der Reling stellte er die Bremsen fest. Während Karsten in den Taschen seines Jacketts nach Zigaretten und Feuerzeug suchte, stopfte Thomas seine teure Markenpfeife und drückte den Tabak dabei mit bedächtiger Sorgfalt fest. Fast gleichzeitig flammten die Feuerzeuge auf. Während Thomas genüsslich an der Pfeife sog und dem Mond dicke Wolken ins Gesicht blies, nuckelte Karsten nervös an seiner Zigarette und schaute, über die Reling gebeugt, in das dunkel dahinschießende Wasser.
„Ist das nicht ein herrlicher Spätsommerabend?“ Thomas drehte den Kopf in verschiedene Richtungen und ließ die Nasenflügel beben. „Es gab Zeiten, da bin ich an solchen Abenden auf meinen Lieblingsberg gestiegen, nur um dem Universum ein Stück näher zu sein – mich eins zu fühlen mit Milliarden von Sternen…“
Übergangslos begann er zu deklamieren.

„Milliarden Sternenpixel!
Feine Lichtnadeln
perforieren die Seele,
machen sie durchlässig.
Lassen das Falsche entweichen.
Mein Schmerz irrt
durch die Unendlichkeit
hin zur Milchstraße,
dieser glitzernden Spur
des Vergessens.
Von Druck des Sehnens befreit
Ich
Leer und kalt
harr ich der Sonne.“


Thomas schwieg. Karsten drehte verlegen die Zigarette in den Händen.
‚Was soll das? Ich habe kein Wort verstanden‘, dachte er und laut sagte er: „Das ist hübsch.“
„Das habe ich vor sehr langer Zeit geschrieben“, sagte Thomas, wieder einen normalen Tonfall anschlagend. „Oben auf dem Hörselberg. Das sagt Ihnen nichts?“
„Nein.“
„Wissen Sie, was ich seit meiner Behinderung am meisten vermisse? Auf diesem Berg zu stehen. Die Lichter der Stadt zu Füßen. Aber da komme ich nicht mehr hoch, und Füße habe ich auch keine mehr.“
Einen Moment herrschte Schweigen zwischen den Männern. Thomas schien mit seinen Gedanken weit weg zu sein. Karsten fühlte sich peinlich berührt. Verlegen drückte er seine Zigarette aus.
„Seit wann haben sie das schon?“, fragte er schließlich. „Ich meine, wie ist es passiert? Ein Unfall?“
Thomas lachte auf. Bitterkeit lag in diesem Lachen.
„Es sollte wie ein Unfall aussehen. Es passierte ausgerechnet auf einer Flusskreuzfahrt. An Bord hatte ich gerade die Frau meines Lebens gefunden. Ihr Mann konnte das wohl nicht ertragen. Er hat mich von der Kaimauer gestoßen, als gerade ein Schiff anlegte. Ich fiel nicht komplett in den sich schließenden Spalt zwischen Mauer und Schiffsrumpf. Jemand kam mir geistesgegenwärtig zu Hilfe. Nur die Beine wurden zerquetscht. Mordversuch aus Eifersucht! Bis dahin hatte ich gedacht, das gibt es nur in schlechten Filmen.“
Tom lachte wieder ein bitter-dunkles Lachen. Dann schaute er zu Karsten, und der fühlte trotz der Dunkelheit den eindringlichen Blick auf sich ruhen.
„Eifersucht ist etwas völlig Überflüssiges. Sie ändert ja doch nichts. Wenn die Uhr zwischen zwei Liebenden abgelaufen ist, sollten es beide akzeptieren. Was hat es ihm denn eingebracht? Er hat nicht nur die Frau, sondern auch für viele Jahre seine Freiheit verloren. War es das wert? Ich habe nur meine Beine eingebüßt, aber die wunderbarste Frau der Welt gewonnen. Fast müsste ich ihm dankbar sein. Dadurch, dass ich meinen Beruf nicht mehr ausüben konnte, besaß ich plötzlich sehr viel Zeit, die ich mit ihr teilen durfte und die ich obendrein für etwas nutzen konnte, das ich schon immer wollte. Mit zwei gesunden Beinen wäre ich nie Schriftsteller geworden.“
Er machte eine Pause und stieß eine dicke Qualmwolke aus.
„Ich durfte mein Leben von da an mit einer Frau verbringen, die mir unglaublich viel bedeutet und – was noch viel wichtiger ist – der ich genauso viel bedeute. Obendrein vermochte ich in meinen Büchern genau das zu vermitteln, das schon lange in mir brannte. Hätte ich mehr erwarten dürfen?“
Da sich der Mond gerade hinter einer dicken Wolke versteckt hielt, vermochte Karsten nur die Silhouette von Thomas auszumachen. Aber er wusste, dass der Mann mit der Pfeife auf eine Antwort wartete.
„Ich weiß nicht“, gab er zu. „Ich bin kein Schriftsteller.“
‚Die Ticken ja wohl auch ganz anders als unsereiner‘, setzte er in Gedanken hinzu.
„Aber die Faszination, die eine Frau in uns auszulösen vermag, dürfte ihnen doch nicht fremd sein.“
War da ein lauernder Unterton? Ausgelöst durch Karstens schlecht verborgene Blicke, mit denen er Marina förmlich in sich aufzusaugen suchte? Was wollte dieser Thomas von ihm? Er glaubte plötzlich nicht mehr an einen Zufall, der sie beide hier auf das Sonnendeck verschlagen hatte.
Während er ein „da haben sie natürlich Recht“ nuschelte, suchte er in einem Anfall von Nervosität wieder nach den Zigaretten. Wie hatte Thomas gesagt? „Eifersucht ist etwas völlig Überflüssiges.“ Wollte er jetzt seine eigenen Worte Lügen strafen?
Der glückliche Thomas nuckelte an seiner Pfeife und schien Karsten gar nicht zu beachten.

Vom Salon drang plötzlich Musik zu ihnen herauf. Die Tanzveranstaltung hatte begonnen.
Karsten atmete auf und meinte dann: „Wir sollten wieder nach unten gehen.“
„Tun sie das“, kam es ruhig zurück. Ich möchte hier noch ein wenig allein sein.“
„Und sich einen neuen Roman ausdenken?“, fragte Karsten, der froh war, dass sich das Gespräch sang- und klanglos aufzulösen schien. Die erwartet peinlichen Fragen waren ausgeblieben.
„Nein“, sagte Thomas. „Es wird keinen neuen Roman mehr geben. Da drin ist nichts mehr.“
Er klopfte sich mit der freien Hand zuerst an den Kopf und dann an die Brust. „Was ich zu sagen hatte, ist gesagt. Jetzt bin ich leergebrannt, genauso wie es diese Pfeife bald sein wird.“
„Man kann sie neu stopfen“, sagte Karsten.
„Stimmt, aber genau das unterscheidet mich von diesem Stück Holz.“
Karsten wusste mal wieder keine Antwort. Verlegen von einem Bein auf das andere tretend, stand er neben dem Rollstuhl.
„Nun hauen sie doch endlich ab“, brummte Thomas, und aus seiner Stimme klang Gutmütigkeit. Der Tonfall ähnelte dem eines Vaters, der seinen Sohn zu dessen ersten Rendezvous ermuntert.
„Na dann, bis gleich“, murmelte Karsten und trollte sich zur schmalen Treppe, die zum Promenadendeck führte. Er hatte sie gerade erreicht, als er ein lautes Halt in seinem Rücken vernahm.
Verdutzt drehte sich Karsten um.
„Können Sie mir einen Gefallen tun?“, hörte er Thomas sagen.
„Ja gern. Worum handelt es sich denn?“
„Können sie tanzen?“
„Na ja – so leidlich.“
„Bitte tanzen sie mit meiner Frau. Sie hat es so lange nicht mehr getan. Sie würden mir und vor allem ihr eine große Freude damit bereiten.“
‚Und am allermeisten mir‘, dachte Karsten und laut rief er: „Aber gern!“
Dann nahm er die steilen Stufen nach unten.

„Na endlich! Ich habe mir schon Sorgen gemacht“, wurde er im Salon von Marina empfangen. Sie saß allein am Tisch, denn der gute Friedhelm hatte gerade mit seiner dominanten Elvira einen langsamen Walzer durchzustehen.
„Darf ich?“
Karsten wartete ihre Antwort nicht ab, sondern nahm neben ihr Platz.
„Wo ist mein Mann?“
„Er wollte noch ein wenig die Abendluft genießen.“
„Aha“, sagte sie nur und schob ihm ein volles Cocktailglas zu. „Trinken wir – bevor er noch wärmer wird. Was haben Sie eigentlich so lange gemacht, dort oben?“
„Wir haben uns unterhalten. Ihr Mann hat mir auch von der schlimmen Sache erzählt. Es tut mir sehr leid, was mit ihm passiert ist.“
Marina hatte das Glas wieder zurück gestellt und schaute nachdenklich zur Tanzfläche.
„Das ist merkwürdig – früher hat er kaum die Zähne auseinander bekommen, wenn er auf dieses Ereignis angesprochen wurde. Seit einiger Zeit scheint er aber jegliche Hemmung verloren zu haben. Schließlich sind Sie doch ein wildfremder Mensch für ihn.“
„Wildfremd?“, fragte Karsten mit einem Unterton, der sie zwang, ihn anzuschauen. Ihren Blick und das feine Lächeln vermochte er allerdings nicht zu deuten.
„Sie haben Recht“, sagte sie schließlich, griff wieder zum Cocktail und hob das Glas zur Kinnspitze. Und nach einem kurzen Zögern: „Was hindert uns eigentlich daran, Du zueinander zu sagen?“
„Nichts“, kratzte es aus ihm heraus.
Das Zusammenstoßen der Gläser und der flüchtige Kuss verschwammen im Dunst seiner freudigen Erregung.
Die Frontfrau der Bordkapelle intonierte gerade Andrea Bergs Dauerbrenner:
„Du hast mich tausendmal belogen, du hast mich tausendmal verletzt
Mindestens hundert Kehlen fielen ein. Mehr oder weniger gesangstalentiert, schleuderten sich die Tanzpaare diese Worte entgegen. Nicht wenige unter ihnen mochten damit voll ins Schwarze trafen.
„Tanzen wir?“
Karsten wunderte sich, wie einfach und mühelos ihm diese Aufforderung über die Lippen kam.
„Gern.“
Schon sprang sie auf und lief zur Tanzfläche. Geschickt wuselte sie durch die Tanzenden hindurch, bis sie einen freien Fleck gefunden hatte. Karsten vermochte ihr kaum zu folgen.
Und dann hatte er sie im Arm. Endlich! Und was ihn am meisten überraschte – er empfand es als etwas Selbstverständliches. Alles ging wie von selbst. Wie hatte er sich vor Minuten noch gefürchtet, sich zu verkrampfen. Nichts dergleichen. Marina passte sich ihm mühelos an. Als Tanzpartnerin war sie kaum zu spüren – als Frau umso mehr. Zum ersten Mal fühlte er ihre schmalen Hände an seinem Körper, durfte auch er sie berühren. Er atmete ganz aus der Nähe ihren Duft, von dem er geglaubt hatte, dass er seine Sinne in einen regelrechten Rausch versetzen würde. Nein – er empfand ihn nur als angenehm, und er trug lediglich zu seiner heiteren Gelöstheit bei.
„Sie tanzen hervorragend“, sagte er und führte dabei seinen Mund ganz dicht an ihr Ohr.
„Danke. Du aber auch!“, lachte sie zurück, das Du dabei betonend.
„Entschuldigung – an das Du muss ich mich erst gewöhnen.“
Seine Heiterkeit bekam einen Dämpfer, als er daran dachte‚ dass eine solche Gewöhnungsphase vielleicht mehr Zeit in Anspruch nehmen könnte, als ihnen überhaupt verblieb. Plötzlich war ihm, als würde sich ein Rollstuhl zwischen sie drängen, sie zwingen, einander loszulassen. Hatte Marina zur gleichen Zeit eine ähnliche Vision?
In der nächsten Runde spürte er Unruhe in ihr aufkommen. Das übertrug sich auch auf die Bewegungen, die immer mehr von ihrer fließenden Leichtigkeit verloren. Die letzten Takte absolvierten beide reichlich verkrampft.
Als sie zum Tisch zurückkehrten, saß da immer noch niemand.
„Donnerwetter, die beiden haben aber eine Kondition“, staunte Marina und meinte damit den müden Friedhelm und die dominante Elvira.
„Na ja – je oller, je doller“, schmunzelte Karsten und schob Marinas Stuhl zurecht.
„Na ja – so wahnsinnig viel trennt uns ja auch nicht mehr von diesem Alter“, dämpfte sie ihn.
Er nickte und deklamierte: „Darum nutze den Tag, es könnte …“
„Och nöh, nicht diesen abgedroschenen Spruch“, maulte sie und führte ihr Glas an den Mund.
Auch er nuckelte am Trinkhalm.
„Wo er nur bleibt?“
In ihren Augen las er Unruhe.
„Vielleicht ist das Sonnendeck so eine Art Ersatz für seinen Lieblingsberg?“
„Er hat Dir davon erzählt?“ Sie zog die Stirn in leichte Falten. „Er hat sich verändert“, sagte sie dann, und es war als spräche sie mit sich selbst. „Ich habe stets seine Abgeklärtheit bewundert – eine innere Ruhe, aus der er seine Kraft schöpfte. In letzter Zeit spüre ich immer öfter eine Nervosität bei ihm, die ich bisher nicht kannte.“
„Du liebst ihn sehr, nicht wahr?“
Sie schaute Karsten an und ihr Blick war für ihn wieder einmal nicht zu deuten.
„Wir gehören zusammen“, sagte sie schließlich und senkte die Augen ins Glas.
Einen Moment lang schwiegen beide.
„Ich muss zu ihm!“, sagte sie plötzlich und sprang auf.
Karsten hielt sie an einer Hand fest, stand aber ebenfalls auf.
„Ich begleite dich. Wer weiß, vielleicht steckt er irgendwo fest.“
War da Dankbarkeit in ihren Augen, als sie ihm zunickte?

Draußen empfing sie eine frische Brise. Die sonnig warmen Tage konnten nicht darüber hinweg täuschen, dass der Herbst bereits im Hintergrund lauerte.
„Er wird sich verkühlen!“
In ihrer Stimme schwang echte Besorgnis. Schon eilte sie die schmale Treppe zum Sonnendeck hinauf, und er hatte Mühe ihr zu folgen. Oben angekommen, blickte sie suchend um sich.
„Wir müssen zum Vorschiff“, erklärte Karsten und ging voraus. Dann erkannte er die sich in der Dunkelheit schwach abhebenden Umrisse des Rollstuhles.
„Was habe ich gesagt, er genießt noch immer die Abendluft“, lachte Karsten.
Marina antwortete nicht, sondern beschleunigte ihre Schritte. Schon waren sie soweit heran, dass er sie hören musste.
„Heh Tom!“, rief ihn Marina an. „Du willst dir wohl eine Lungenentzündung holen? Nun komm aber. Ich werde dich…!“ Sie stockte unvermittelt und plötzlich ein gellender Aufschrei: „Thomas!“ Und noch einmal: "Thomas!"
Karsten war neben sie getreten, schaute verwirrt auf die kleine Frau, die immer noch schrie und jetzt nach vorn stürzte, vor dem Rollstuhl auf die Knie brach und das dunkle Gefährt mit den Armen umschlang. Karsten durchlief es eiskalt. Er fühlte sich starr werden.
„Oh nein“, stöhnte er.
Der Rollstuhl war leer.
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Orlando,

auch dir möchte ich für deinen Kommentar ein herzliches Dankeschön sagen. Es hat leider ein wenig gedauert, bis ich die Antwort einigermaßen im Kopf hatte.

Du erwähnst zunächst zwei Dinge, über die ich eine Weile (mit Zwangspausen natürlich) nachdenken musste. Den Eindruck, dass die Geschichte zum Finale hin überfrachtet sein könnte, hatte ich auch so ein bisschen – allerdings ohne zu wissen, wo ich anzusetzen hätte. Mir schien halt alles wichtig und es musste daher untergebracht werden.

Und dann kommst du daher und schlägst mir vor, eine der informationsträchtigsten Absätze komplett zu streichen.
Es hat dann seine Zeit gebraucht, bis ich seufzen konnte: "Orlando hat Recht. Streichs einfach!“

Als ich dann feststellte, dass diese Aktion nicht einmal eine schwer zu kittende Bruchstelle hinterlassen würde, war ich völlig versöhnt. Danke!

Zum zweiten stellst du die Frage, ob es nicht besser sei, sich ganz auf die Hauptpersonen zu konzentrieren, Nebenfiguren zu streichen (oder zumindest völlig in den Hintergrund zu drängen) und die Kulisse möglichst sparsam aufzubauen. Wahrscheinlich – nein – sicherlich hast du Recht damit.

Aber

[ 4]a) bin ich ein Schreiberling , der sich zu gern ins Triviale ziehen lässt,

[ 4]b) dann müsste die Erzählung zur knackigen Kurzgeschichte werden. Mit ein paar Streichungen allein ist es [ 4]m.E. nicht getan. (Verlangt Neuaufbau – ist aber nicht uninteressant)

[ 4]c) auf Grund der Punkte a und b brauche ich in der vorliegenden Fassung auch das ältere Ehepaar – als [ 4]Kolorit sozusagen.

Ich behalte die Sache mal im Hinterkopf. Vielleicht wird irgendwann etwas Vernünftigeres draus.

Zum Schluss bleibt mir noch die Frage nach den zwei Speerspitzen. Ich bin ums Verrecken nicht darauf gekommen, was du damit konkret meinen könntest. Von wem werden sie mit welcher Zielrichtung gebildet und in Stellung gebracht? Wird mein Schädel zu morsch?


Nochmals vielen Dank für deine Mühe mit diesem langen Text.

Es grüßt Ralph
 
O

orlando

Gast
Hallo Ralph,
die Sache mit den zwei "Speerspitzen" lässt sich leicht erklären.
Die kommt aus der Rhetorik.
Ein spitzfindiger Jesuit brachte mir in grauer Vorzeit bei, dass sich das Ende einer Rede nur auf einen Sachverhalt gründen dürfe, sonst verfehle (verwässere) sie ihr Ziel.
Dasselbe gilt m. E. für jedwede Prosa.
Insbesondere sollten da keine neuen Figuren auftauchen oder Nebenfiguren erinnert werden.
Und er brachte mir auch bei, dass es recht eigentlich nur drei Arten von Rednern gebe: die, die zuviel redeten, die, die zu wenig redeten und Profis, die ein elegantes Mittelmaß fänden.
Nun neigt ein Prosaschreiber aus seiner Natur heraus natürlich oft zum lustvollen Schwadronieren. Gerade, wenn er so talentiert ist wie du. - Doch wäre es so übel nicht, diese kardinale (Un-) und eben auch überragende Tugend bei einer Bearbeitung zu bedenken. ;)
Ich möchte hier allerdings nicht den Eindruck einer Prosaspezialistin erwecken; denn das bin ich keineswegs. - Im Laufe meiner intensiven Beschäftigung mit Texten, mehrt sich jedoch bei mir die Vorstellung, dass Geschriebenes viel mehr mit Rhetorik zu tun hat als zuvor von mir vermutet. Zumindest in Bezug auf seine erwünschten Effekte.

Herzliche Grüße
orlando
 



 
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